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Nachdem die Angeklagten zum Wort gelassen waren und die Parteien sich über die Form der Fragestellung ausgesprochen hatten, was immerhin noch einige Zeit in Anspruch nahm, wurden die Fragen endgültig formuliert, und der Vorsitzende begann sein Resümee.
Bevor er auf die Darstellung des Tatbestandes einging, setzte er den Geschworenen in freundschaftlich-vertraulichem Tone sehr ausführlich auseinander, daß Raub – Raub und Diebstahl – Diebstahl sei, daß eine Entwendung aus verschlossenem Raume eben eine Entwendung aus verschlossenem Raume, und eine Entwendung aus nicht verschlossenem Raume eine Entwendung aus nicht verschlossenem Raume sei. Und während er dies erklärte, ließ er seinen Blick ganz besonders häufig auf Nechljudow ruhen, als wünsche er lebhaft, gerade ihm diesen wichtigen Umstand begreiflich zu machen, in der Hoffnung, daß er, sobald er ihn erst selbst begriffen hätte, ihn auch seinen Kollegen klar machen werde. Dann, als er annahm, daß die Geschworenen von diesen Wahrheiten bereits gehörig durchdrungen seien, begann er, ihnen eine andere Wahrheit zu enthüllen, daß man nämlich als Totschlag eine Handlung bezeichne, die den Tod eines Menschen zur Folge habe – daß mithin auch Vergiftung sich als Totschlag darstelle. Als auch diese Wahrheit nach seiner Meinung von den Geschworenen richtig kapiert war, setzte er ihnen auseinander, daß, wenn Diebstahl und Totschlag verübt worden seien, das verübte Verbrechen sich in solchem Falle eben aus Diebstahl und Totschlag zusammensetze.
Obgleich er nun selbst so rasch wie möglich von der Sache loszukommen suchte, da die Schweizerin ihn jedenfalls schon erwartete, war er doch an sein Metier so sehr gewöhnt, daß, als er erst zu reden begonnen hatte, er gar keinen Halt mehr finden konnte und den Geschworenen bis ins einzelnste darlegte, daß, falls sie die Angeklagten schuldig fänden, sie das Recht hätten, sie schuldig zu finden, und wenn sie sie unschuldig fänden, sie ebensogut das Recht hätten, sie unschuldig zu finden; sollten sie aber sie in dem einen Punkte schuldig, im andern jedoch unschuldig finden, dann wäre es ihnen unbenommen, sie das eine Mal schuldig, das andere Mal unschuldig zu finden. Dann setzte er ihnen noch auseinander, daß, obschon das Gesetz ihnen dieses Recht zustehe, sie doch wohl daran täten, von diesem Rechte in vernünftiger Weise Gebrauch zu machen. Er wollte ihnen auch noch klar machen, daß, wenn sie eine der gestellten Fragen in bejahendem Sinne beantworteten, sie durch eine solche Antwort alles das bejahten, wonach gefragt würde, und wenn sie nicht alles bejahen wollten, wonach gefragt würde, sie das verneinen müßten, was sie nicht bejahen wollten. Doch da warf er einen Blick auf seine Taschenuhr und sah, daß nur noch fünf Minuten an drei Uhr fehlten, und so beschloß er denn, nunmehr auf die Darlegung des Tatbestandes überzugehen.
»Die Sachlage stellt sich im vorliegenden Falle folgendermaßen dar,« begann er und wiederholte nochmals alles das, was bereits die Verteidiger, der Staatsanwaltsgehilfe und die Zeugen zu wiederholten Malen ausgesprochen hatten.
Der Vorsitzende sprach und sprach, und die Richter zu beiden Seiten hörten mit tiefsinniger Miene zu, sahen dabei jedoch von Zeit zu Zeit auf die Uhr, da sie fanden, daß seine Rede zwar sehr gut, das heißt eben so war, wie sie sein mußte, aber doch ein klein wenig zu lang wurde. Derselben Meinung waren auch der Staatsanwaltsgehilfe, wie überhaupt alle beteiligten Juristen und schließlich auch alle andern Personen, die sich im Saale befanden. Endlich war der Vorsitzende mit seinem Resümee zu Ende.
Man hätte nun meinen sollen, daß jetzt alles, was zu sagen war, auch wirklich gesagt war. Aber der Vorsitzende wollte noch immer nicht auf sein Recht zu reden verzichten – so angenehm klangen ihm die eindringlichen Intonationen seiner Stimme in den Ohren – und er befand es für notwendig, noch ein paar Worte über die Wichtigkeit des Rechtes zu sagen, das den Geschworenen verliehen sei, über die Pflicht, dieses Recht mit Aufmerksamkeit und Vorsicht auszuüben und es nicht zu mißbrauchen, über den Eid, den sie vor der Verhandlung abgelegt hätten, über ihre Rolle als Repräsentanten des öffentlichen Gewissens, über die Heiligkeit des Geheimnisses, das über dem Beratungszimmer schweben müsse, usw., usw.
Von dem Augenblick an, da der Vorsitzende seine Rede begonnen, hatte die Maslowa kein Auge von ihm verwandt, als fürchte sie, daß eins seiner Worte ihr verloren gehen könnte. Nechljudow brauchte daher nicht zu fürchten, ihren Augen zu begegnen, und so schaute er sie unablässig an. Und in seiner Seele ging nun die bekannte Erscheinung vor sich, daß das seit langem nicht gesehene Antlitz eines geliebten Menschen, das im Anfang durch die in der Zeit der Trennung stattgefundenen Veränderungen frappierte, allmählich wieder ganz genau so wird, wie es vor Jahren gewesen – alle stattgefundenen Veränderungen verschwinden, und vor dem geistigen Auge erscheint nur der wesentliche Ausdruck der ausschließlichen, nicht zum zweitenmal vorhandenen geistigen Persönlichkeit. Eben dies vollzog sich nun auch bei Nechljudow.
Ja, trotz des Arrestantenrocks, trotz des fett gewordenen Körpers und der üppigen Büste, trotz der stärker hervortretenden unteren Gesichtspartie, der Runzeln auf der Stirn und an den Schläfen und der angeschwollenen Augen war das doch zweifellos dieselbe Katjuscha, die an jenem heiligen Feste der Auferstehung Christi mit ihren treuen, vor Freude und Lebensfülle lachenden Augen zu ihm, dem geliebten Menschen, so unschuldig emporgeschaut hatte.
»Welch ein sonderbarer Zufall! Daß dieser Prozeß gerade in meine Session fallen mußte – daß ich, nachdem ich ihr zehn Jahre lang nirgends begegnet bin, sie hier, auf der Anklagebank, wiederzusehen bekomme! Wie wird das alles noch enden? Wenn's doch nur schnell, ganz schnell vorüberginge!«
Er wollte noch immer nicht jenem Gefühl der Reue nachgeben, das sich in seiner Seele zu regen begann. Ihm erschien das alles als ein Zufall, der vorübergehen werde, ohne sein Leben weiter zu stören. Er fühlte sich in der Lage jenes Hündchens, das sich im Zimmer schlecht aufgeführt hat, und das sein Herr am Wickel nimmt und mit der Nase in seinen eigenen Unrat stößt. Das Hündchen winselt und sträubt sich, strebt so weit wie möglich fort von den Spuren seines schlechten Betragens und sucht es zu vergessen, aber sein Herr ist unerbittlich und läßt es nicht los. So fühlte auch Nechljudow bereits die ganze Abscheulichkeit dessen, was er getan, und fühlte auch die starke Hand des Herrn, doch begriff er noch immer nicht die ganze Bedeutung dessen, was er getan, und erkannte auch seinen Herrn noch nicht. Er wollte es noch immer nicht glauben, daß das, was da vor seinen Augen geschah, sein Werk war. Aber die unerbittliche, unsichtbare Hand hielt ihn fest, und er fühlte bereits voraus, daß er sich ihr nicht entwinden würde. Er gefiel sich noch immer in seiner zwanglosen, selbstbewußten Haltung, saß mit übergeschlagenen Beinen auf seinem Stuhle, dem zweiten in der ersten Reihe, und spielte nachlässig mit seinem Pincenez. Inzwischen fühlte er jedoch bereits in der Tiefe seiner Seele die ganze Grausamkeit, Niedertracht und Erbärmlichkeit nicht nur dieser seiner Tat, sondern seines ganzen müßigen, lasterhaften, grausamen und zügellosen Lebens; und jener schreckliche Vorhang, der wie durch ein Wunder während dieser ganzen Zeit, während all der zehn Jahre sowohl dieses von ihm begangene Verbrechen als auch sein ganzes folgendes Leben verborgen hatte, begann schon zu schwanken, und er konnte schon zuweilen einen Blick dahinter werfen.