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47.

Als Nechljudow am Morgen des nächsten Tages erwachte, fiel ihm alles das ein, was am Abend vorher gewesen, und es wurde ihm gar bang zu Mute.

Trotz dieser Bangigkeit jedoch war er mehr denn je entschlossen, das begonnene Werk fortzusetzen. Mit diesem Gefühl, daß es gelte, eine unerläßliche Pflicht zu erfüllen, verließ er seine Wohnung und begab sich zu Maslennikow, um sich von ihm die Erlaubnis zu erwirken, außer der Maslowa auch noch die alte Menjschowa und ihren Sohn zu sprechen, von denen die Maslowa ihm erzählt hatte; außerdem wollte er auch noch eine Zusammenkunft mit der Bogoduchowskaja zu ermöglichen suchen, die vielleicht der Maslowa von Nutzen sein könnte.

Nechljudow war mit Maslennikow noch vom Regiment her bekannt. Maslennikow war damals Zahlmeister des Regiments gewesen. Er war ein sehr gutmütiger Mensch und ein im Dienst sehr pünktlicher Offizier, der von nichts in der Welt, außer seinem Regiment, etwas wußte noch wissen wollte. Jetzt fand ihn Nechljudow als Verwaltungsbeamten wieder – an Stelle des Regiments war das Gouvernement und seine Administration getreten. Er war mit einer reichen, gesellschaftlich gewandten Frau verheiratet, die ihn veranlaßt hatte, aus dem Militärdienst in den Zivildienst überzugehen.

Sie lachte über ihn und liebkoste ihn wie ein Tier, das sie sich gezähmt hatte. Nechljudow hatte im vergangenen Winter einmal bei ihnen vorgesprochen, aber das Ehepaar war ihm so uninteressant gewesen, daß er später nie wieder hinging.

Maslennikow strahlte über das ganze Gesicht, als er Nechljudow jetzt erblickte. Er hatte noch immer dieselben feisten, roten Backen, denselben stattlichen Leibesumfang und dieselbe Eleganz in der Kleidung wie als Militär. Damals hatte er zu jeder Zeit eine saubere, nach der letzten Mode zugeschnittene, um Brust und Schultern wie angegossen sitzende Uniform oder Interimsjacke getragen, und jetzt trug er einen ebenso adrett gearbeiteten Zivilrock, der seinen wohlgepflegten Leib mit der breiten Brust prall umschloß. Er war in Vizeuniform, als Nechljudow bei ihm erschien. Trotz des Altersunterschiedes – Maslennikow zählte etwa vierzig Jahre – duzten sie sich.

»Das ist schön, daß du gekommen bist. Wir wollen zu meiner Frau hineingehen. Ich habe gerade zehn Minuten frei vor einer Sitzung. Der Chef ist verreist, und ich regiere das Gouvernement,« sagte er, und man sah es ihm an, welche Genugtuung es ihm bereitete, das sagen zu können.

»Ich komme mit einem Anliegen zu dir,« sagte Nechljudow.

»Was denn?« sagte Maslennikow, gleichsam die Ohren spitzend, während seine Stimme plötzlich einen ängstlichen und ein wenig strengen Ton annahm.

»Im hiesigen Gefängnis« – begann Nechljudow, während Maslennikows Gesicht bei dem Worte Gefängnis einen noch strengeren Ausdruck annahm – »befindet sich eine Person, für die ich mich sehr interessiere, und ich möchte, wenn ich sie besuche, nicht im gemeinsamen Besuchsraum, sondern im Büro mit ihr zusammenkommen, außerdem möchte ich sie auch außerhalb der festgesetzten Besuchszeit öfters einmal sehen. Man hat mir gesagt, daß du darüber zu bestimmen hast.«

»Gewiß, mein Lieber, ich bin bereit, alles für dich zu tun,« sagte Maslennikow, während er, gleichsam von der Höhe seiner erhabenen Stellung herabsteigend, mit beiden Händen Nechljudows Knie berührte. »Gewiß läßt sich das machen – aber, siehst du, ich bin eben nur Kalif für eine Stunde!«

»Du kannst mir vielleicht ein Schreiben mitgeben, daß ich sie zu jeder Zeit sehen kann?«

»Es handelt sich um eine Frau?«

»Ja.«

»Weshalb ist sie denn eingesperrt?«

»Wegen eines Giftmordes. Aber sie ist unschuldig verurteilt.«

»Ja, da hast du nun die Gerechtigkeit der Geschworenengerichte, für die ich mich noch immer nicht erwärmen kann,« sagte er. »Du bist zwar anderer Meinung als ich, aber was kann ich dagegen machen, ich kann von meiner Meinung nicht abgehen,« fügte er hinzu, ohne zu verraten, daß er seine Meinung aus den letzten Jahrgängen seines konservativen Leibblattes bezogen hatte. »Ich weiß, du bist liberal ...«

»Ich weiß nicht, ob ich liberal bin, oder was sonst,« sagte Nechljudow lächelnd. Er hatte sich stets darüber gewundert, daß ihn die Leute durchaus irgendeiner Partei zuzählen wollten und ihn einzig darum einen Liberalen nannten, weil er verlangte, daß, bevor man über einen Menschen urteilt, man ihn erst anhören solle, und weil er die Ansicht vertrat, daß vor Gericht alle Menschen gleich sein sollten und man die Menschen nicht quälen und prügeln solle, namentlich dann nicht, wenn sie noch nicht abgeurteilt sind. »Ich weiß nicht, ob ich liberal bin oder nicht, das aber weiß ich, daß die jetzigen Gerichte, so schlecht sie auch sein mögen, jedenfalls besser sind als die früheren.«

»Welchen Advokaten hast du denn genommen?«

»Ich habe mich an Fanarin gewandt.«

»Ah, Fanarin!« sagte Maslennikow und runzelte die Stirn.

Er erinnerte sich, daß dieser Fanarin im vergangenen Jahre in einer Gerichtsverhandlung ihm als Zeugen verschiedene Fragen vorgelegt und ihn dabei mit der größten Ehrerbietung eine halbe Stunde lang lächerlich gemacht hatte. »Ich würde, dir nicht raten, dich mit ihm abzugeben, jedenfalls ist Vorsicht bei ihm geboten.«

»Dann hätte ich noch eine Bitte an dich,« sagte Nechljudow, ohne ihm zu antworten. »Vor langer Zeit einmal kannte ich ein junges Mädchen, eine Lehrerin – ein sehr bedauernswertes Geschöpf; auch die sitzt jetzt hier im Gefängnis und möchte mich gern einmal sprechen. Kannst du mir auch für die einen Passierschein geben?«

Maslennikow neigte den Kopf ein wenig auf die Seite und wurde nachdenklich.

»Ist es eine Politische?«

»Ja, so hat man mir gesagt.«

»Ja, siehst du – Zusammenkünfte mit den Politischen werden nur den Verwandten gestattet. Aber ich will dir einen allgemeinen Passierschein geben. Ich weiß, du wirst keinen Mißbrauch damit treiben. Wie heißt denn dein Schützling? ... Wie? Bogoduchowskaja? Ist sie hübsch?«

»Ganz im Gegenteil.«

Maslennikow schüttelte mißbilligend den Kopf, trat an den Tisch und schrieb rasch auf einen Bogen mit vorgedrucktem Kopfe: »Dem Vorzeiger dieses, Fürsten Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow, gestatte ich Zusammenkünfte im Gefängnisbüro mit der im Gefängnis inhaftierten Kleinbürgerin Maslowa wie auch mit der Heilgehülfin Bogoduchowskaja.« Unter das Ganze setzte er einen kühn geschwungenen Schnörkel.

»Du wirst sehen, was für eine Ordnung dort herrscht. Und dabei ist es wirklich nicht leicht, da Ordnung zu halten, weil alles überfüllt ist, namentlich mit Leuten, die verschickt werden sollen. Aber ich passe scharf auf und behandle diesen Verwaltungszweig überhaupt mit Liebe. Du wirst sehen, daß sie es dort sehr gut haben und zufrieden sind. Man muß nur mit ihnen umzugehen wissen. Dieser Tage zum Beispiel ist da eine unangenehme Sache vorgekommen, eine Insubordination. Ein anderer hätte die Sache vielleicht als Meuterei behandelt und verschiedene davon unglücklich gemacht. Bei uns dagegen ist alles glatt verlaufen. Man muß auf der einen Seite die nötige Fürsorge, auf der anderen Seite aber eine feste Hand zeigen,« sagte er, während er die feiste weiße Hand mit dem Türkisring, die aus der gestärkten weißen Hemdmanschette hervorragte, zur Faust ballte. »Wie gesagt: die nötige Fürsorge und eine feste Hand.«

»Nun, das verstehe ich nicht,« sagte Nechljudow. »Ich war zweimal dort und habe jedesmal einen sehr peinlichen Eindruck gehabt.«

»Weißt du was? Du mußt dich mit der Gräfin Passek befreunden,« fuhr Maslennikow, der allmählich gesprächig geworden war, fort. »Sie widmet sich ganz und gar dieser Sache und wirkt sehr viel Gutes. Ihr – und vielleicht auch mir, wie ich wohl, ohne unbescheiden zu sein, hinzufügen kann – ist es zu danken, daß solche Greuel wie früher jetzt nicht mehr vorkommen und die Leute sich dort geradezu wohlfühlen. Du wirst ja sehen ... Doch dieser Fanarin ... ich kenne ihn nicht persönlich, und bei meiner gesellschaftlichen Stellung ist es auch ausgeschlossen, daß ich ihm irgendwie nähertrete – aber er ist entschieden ein schlechter Mensch und erlaubt sich, vor Gericht Dinge zu sagen, Dinge ...«

»Nun, ich danke dir,« sagte Nechljudow, nahm das ausgestellte Papier und verabschiedete sich von seinem ehemaligen Kameraden, ohne weiter auf seine Ausführungen zu hören.

»Ja – willst du denn nicht zu meiner Frau hineingehen?«

»Nein, entschuldige mich, ich habe jetzt keine Zeit.«

»Oh, das wird sie mir nicht verzeihen,« sagte Maslennikow, während er den ehemaligen Kameraden bis zum ersten Treppenabsatz begleitete, eine Höflichkeit, die er Besuchern nicht gerade ersten, aber doch zweiten Ranges zu erweisen pflegte – dieser Kategorie nämlich zählte er Nechljudow zu. »Kannst du nicht wenigstens auf eine Minute hereinkommen?«

Doch Nechljudow blieb fest, und während der Lakai und der Schweizer auf ihn zueilten, um ihm Paletot und Stock zu reichen, und dann die Tür, vor der ein Polizist postiert war, öffneten, erklärte er, daß es ihm jetzt ganz unmöglich sei.

»Nun, dann komm am Donnerstag, bitte. Das ist ihr Empfangstag. Ich werde es ihr sagen!« rief Maslennikow ihm von der Treppe herab nach.


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