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Als Nechljudow an diesem Tage direkt von Maslennikow nach dem Gefängnis kam, begab er sich sogleich nach der ihm bekannten Wohnung des Inspektors. Wiederum vernahm er, wie das erste Mal, dieselben Töne des schlechten Klaviers, die mit der gleichen ungewöhnlichen Kraft, Präzision und Geläufigkeit vorgetragen wurden. Das Stubenmädchen mit dem verbundenen Auge sagte, der Kapitän sei zu Hause, und führte Nechljudow in ein kleines Empfangszimmer mit einem Diwan, einem mit einem gehäkelten Deckchen bedeckten Tische und einer großen, von einem angesengten rosa Papierschirm bedeckten Lampe darauf. Der Oberinspektor trat mit einem trüben, vergrämten Gesichte ein.
»Bitte ergebenst, womit kann ich dienen?« sagte er, während er den mittleren Knopf seiner Uniform zuknöpfte.
»Ich war soeben beim Vizegouverneur, hier ist der Erlaubnisschein,« sagte Nechljudow und reichte ihm das Schriftstück. »Ich möchte die Maslowa sehen.«
»Wen? Die Markowa?« versetzte der Inspektor, der der Musik wegen nicht richtig gehört hatte.
»Die Maslowa.«
»Ach so! Ach so!«
Der Inspektor stand auf und ging nach der Tür, aus der sich die Passagen Clementis vernehmen ließen.
»Hör' doch wenigstens einen Augenblick auf, Marussia!« sagte er mit einer Stimme, aus der sich deutlich entnehmen ließ, daß diese Musik das Kreuz seines Lebens war. »Nicht ein Wort kann man verstehen.«
Das Klavier verstummte, trotzige Schritte ließen sich vernehmen, und ein Kopf blickte durch die Tür.
Der Inspektor schien sich erleichtert zu fühlen, seit die Musik schwieg; er zündete sich eine dicke, aus leichtem Tabak hergestellte Zigarette an und bot auch Nechljudow eine an. Nechljudow lehnte ab.
»Die Maslowa also ...« wiederholte der Inspektor. »Ja – die Maslowa können Sie heute nicht sehen.«
»Warum nicht?«
»Ja, das ist's eben – Sie sind selbst schuld daran,« sagte der Inspektor mit leichtem Lächeln. »Geben Sie ihr kein Geld in die Hand. Wenn Sie ihr etwas zukommen lassen wollen, dann geben Sie es mir. Sie soll alles bekommen. Jedenfalls haben Sie ihr gestern Geld gegeben, sie hat sich Branntwein zu verschaffen gewußt – ein Übel, das hier bei uns leider unausrottbar ist – und hat sich heute total betrunken, daß sie sogar einen Tobsuchtsanfall bekam.«
»In der Tat?«
»Gewiß, ich mußte sogar Zwangsmaßregeln gegen sie in Anwendung bringen, habe sie in eine andere Zelle bringen lassen. Sie ist sonst eine ruhige Person, nur geben Sie ihr, bitte, kein Geld. Das ist Ihnen solch ein Volk ...«
Nechljudow dachte an den Vorfall vom Tage vorher, und es wurde ihm wieder recht bang zu Mute.
»Und die Bogoduchowskaja, von den Politischen, kann ich die wohl sehen?« fragte Nechljudow, nachdem er eine Weile geschwiegen.
»Ja, das können Sie,« sagte der Inspektor. »Na, was willst du denn?« wandte er sich an ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren, das ins Zimmer gelaufen kam und, während es die Augen beständig auf Nechljudow gerichtet hielt, sich dem Vater näherte. »Gib acht, daß du nicht fällst,« sagte der Inspektor lächelnd, als die Kleine, die nicht vor sich hin sah, über den Teppich stolperte.
»Wenn's also möglich ist, möchte ich sie sehen.«
»Gewiß ist's möglich,« sagte der Inspektor, das kleine Mädchen, das immer noch auf Nechljudow hinstarrte, umarmend.
»Bitte also ...«
Der Inspektor erhob sich, schob die Kleine zärtlich zur Seite und ging ins Vorzimmer.
Noch hatte der Inspektor den Paletot, den ihm das Mädchen mit dem verbundenen Auge reichte, nicht angezogen, als sogleich wieder die präzisen Akkorde Clementis erklangen.
»Sie hat das Konservatorium besucht,« sagte der Inspektor, während sie die Treppe hinabschritten, »aber es war da keine rechte Zucht. Sie hat entschieden Talent und möchte sich gern zur Konzertpianistin ausbilden.«
Der Inspektor gelangte mit Nechljudow an das eigentliche Gefängnis. Bei seiner Annäherung tat sich sogleich das kleine Eingangspförtchen auf – die Aufseher legten die Hand an die Mütze und folgten ihm mit den Augen. Vier Männer mit halbrasierten Köpfen, die Zober mit irgendeinem Inhalt vorübertrugen, begegneten ihnen im Vorraum und duckten sich unwillkürlich, als sie den Inspektor erblickten. Einer von ihnen bückte sich ganz besonders tief und machte ein finsteres Gesicht, in dem die schwarzen Augen zornig glühten.
»Ein Talent muß man natürlich ausbilden, man darf es nicht verkümmern lassen; aber in der kleinen Wohnung, sehen Sie, wird die Sache zuweilen lästig,« fuhr der Inspektor im Gespräch fort, ohne den Arrestanten irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken. Mit müden Schritten ging er, kaum die Beine schleppend, neben Nechljudow her nach dem Versammlungszimmer.
»Wen wünschen Sie doch zu sehen?« fragte der Inspektor.
»Die Bogoduchowskaja.«
»Das ist wohl eine aus dem Turm? Sie werden ein Weilchen warten müssen,« wandte er sich an Nechljudow.
»Vielleicht kann ich inzwischen die Menjschows sprechen, Mutter und Sohn, die hier im Gefängnis unter der Anklage der Brandstiftung sitzen?«
»Menjschow – das ist der aus Zelle 21? Ja, den kann ich rufen lassen.«
»Vielleicht könnte ich ihn in seiner Zelle sprechen?«
»Sie haben es im Versammlungszimmer ruhiger und bequemer.«
»Es würde mich interessieren, ihn dort zu sehen.«
»Was kann Sie denn daran interessieren?«
In diesem Augenblick kam aus einer Seitentür ein stutzerhaft aussehender Offizier, der Hilfsinspektor, herbei.
»Führen Sie den Fürsten nach Zelle 21, zu Menjschow,« sagte der Inspektor zu seinem Gehilfen, »und dann nach dem Bureau. Ich lasse inzwischen die andere rufen, wie heißt sie doch?«
»Wjera Bogoduchowskaja,« sagte Nechljudow.
Der Hilfsinspektor war ein junger, blonder Offizier mit gewichstem Schnurrbart, der einen Duft von Eau de mille fleurs um sich verbreitete.
»Gehen wir, bitte,« wandte er sich mit verbindlichem Lächeln an Nechljudow, »Sie interessieren sich wohl für unsere Anstalt?«
»Ja, und besonders für diesen Gefangenen, der, wie mir gesagt wurde, hier ganz unschuldig sitzt.«
Der Hilfsinspektor zuckte die Achseln.
»Ja, das kommt vor,« sagte er ruhig, während er höflich den Gast in dem übelriechenden breiten Korridor vorangehen ließ. »Doch ebenso oft kommt es vor, daß sie lügen. Bitte.«
Die Zellentüren waren geöffnet, und einige der Arrestanten befanden sich im Korridor. Der Hilfsinspektor nickte den Aufsehern kaum merklich zu und ließ seinen Blick im Vorübergehen über die Gefangenen hinschweifen, die sich entweder an den Wänden entlangdrückten, um in ihre Zellen zu gelangen, oder, die Hände an die Hosennaht legend und dem Vorgesetzten mit den Augen folgend, in militärischer Haltung an den Türen standen. Durch den ersten Korridor geleitete der Beamte Nechljudow nach einem zweiten, links gelegenen Korridor, der durch eine eiserne Tür abgesperrt war.
Dieser Korridor war enger, dunkler und noch übelriechender als der erste. Zu beiden Seiten lagen Zellen, die von außen mit Schlössern versperrt waren. In den Türen befanden sich kleine runde Gucklöcher, kaum zwei Zentimeter im Durchmesser. Im Korridor war kein Mensch zu sehen, außer einem alten Aufseher mit trübseligem, runzeligem Gesichte.
»In welcher Zelle sitzt der Gefangene Menjschow?« fragte der Hilfsinspektor den Aufseher.
»In der achten Zelle links.«
»Sind diese hier besetzt?« fragte Nechljudow.
»Alle besetzt, bis auf eine.«