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34.

Als die erste Verhandlungspause eintrat, erhob sich Nechljudow und ging auf den Korridor hinaus, mit der Absicht, nicht wieder in den Sitzungssaal zurückzukehren. Mochten sie mit ihm anfangen, was sie wollten – er wollte an dieser Komödie nicht mehr teilnehmen.

Er erkundigte sich, wo das Kabinett des Staatsanwalts sich befinde, und begab sich sogleich zu ihm. Der Kurier wollte ihn nicht hineinlassen, er sagte, der Staatsanwalt sei jetzt beschäftigt. Doch Nechljudow hörte nicht auf ihn, sondern ging durch die Tür und wandte sich an einen Beamten, der ihm entgegenkam, und den er bat, er möchte dem Staatsanwalt melden, daß er Geschworener sei und ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen müsse. Der fürstliche Titel und die elegante Kleidung kamen Nechljudow zu Hilfe. Der Beamte meldete ihn dem Staatsanwalt, und Nechljudow wurde vorgelassen. Der Staatsanwalt, offenbar ungehalten über die Hartnäckigkeit, mit der Nechljudow darauf bestand, ihn zu sprechen, empfing ihn stehend.

»Womit kann ich dienen?« fragte er streng.

»Ich bin Geschworener, mein Name ist Nechljudow, und ich muß notwendig die Strafgefangene Maslowa sprechen,« versetzte Nechljudow rasch und bestimmt, wobei er errötend fühlte, daß er jetzt etwas tue, was auf sein Leben einen entscheidenden Einfluß haben würde.

Der Staatsanwalt war ein brünetter Mann von kleinem Wuchse, mit kurzem, bereits ergrauendem Haar, scharfen, blitzenden Augen und einem dichten, kurzgeschorenen Bart auf dem vorspringenden unteren Teil des Gesichtes.

»Die Maslowa? Gewiß, die kenne ich. Sie war wegen Giftmordes angeklagt,« sagte der Staatsanwalt ruhig. »Warum wollen Sie sie sehen?« Und als wolle er den Eindruck seiner Worte mildern, fügte er hinzu: »Ich kann Ihnen die Erlaubnis dazu nicht geben, wenn ich nicht weiß, warum Sie sie sehen müssen.«

»Ich muß sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit sprechen,« sagte Nechljudow heftig errötend.

»So, so –« sagte der Staatsanwalt, hob den Kopf auf und sah Nechljudow forschend an. »Ist ihre Sache schon verhandelt worden, oder noch nicht?«

»Sie stand gestern vor den Geschworenen und wurde völlig ungerecht zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie ist unschuldig.«

»So–o! Wenn sie erst gestern abgeurteilt worden ist,« sagte der Staatsanwalt, ohne die Bemerkung Nechljudows über die Schuldlosigkeit der Maslowa irgendwie zu beachten, »dann bleibt sie so lange im Untersuchungsgefängnis, bis das Urteil rechtskräftig geworden ist. Besuche sind dort nur an bestimmten Tagen gestattet. Ich empfehle Ihnen, sich direkt dahin zu wenden.«

»Aber ich muß sie so bald wie möglich sprechen,« sagte Nechljudow, der das Herannahen des entscheidenden Augenblickes fühlte, mit zitterndem Unterkiefer.

»Warum müssen Sie das?« fragte der Staatsanwalt, mit einer gewissen Unruhe die Augenbrauen emporziehend.

»Weil sie unschuldig ist und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde. Der eigentliche Schuldige bin ich,« sprach Nechljudow mit bebender Stimme. Er hatte dabei das Gefühl, daß er etwas sagte, was er nicht hätte sagen sollen.

»Wieso denn?« fragte der Staatsanwalt.

»Weil ich sie verführt und in die Lage gebracht habe, in der sie sich jetzt befindet. Wenn sie das nicht geworden wäre, was sie durch meine Schuld geworden ist, wäre sie nie einer solchen Anklage ausgesetzt gewesen.«

»Ich sehe noch immer nicht, in welchem Zusammenhange das mit Ihrem Besuche im Gefängnis stehen soll.«

»Ich will ihr folgen und ... und sie heiraten ...« stieß Nechljudow hervor. Und wie bisher jedesmal, wenn er hiervon gesprochen, traten ihm auch diesmal die Tränen in die Augen.

»Wirklich? So, so–o!« sagte der Staatsanwalt. »Das ist in der Tat ein ganz besonderer Fall. Sie sind, wenn ich nicht irre, Landschaftsdeputierter im Kreise Krasnopersk?« fragte der Staatsanwalt, der sich erinnerte, von diesem Nechljudow, der jetzt einen so sonderbaren Entschluß gefaßt hatte, schon früher gehört zu haben.

»Verzeihen Sie – ich glaube nicht, daß das mit meinem Anliegen irgendetwas zu tun hat,« antwortete Nechljudow, unwillig aufbrausend.

»Gewiß nicht,« sagte der Staatsanwalt mit kaum merklichem Lächeln und nicht im geringsten verlegen – »aber Ihr Wunsch ist so ungewöhnlich und geht über die gewohnten Formen so weit hinaus ...«

»Kann ich also die nachgesuchte Erlaubnis erhalten?«

»Die Erlaubnis? Ja, gewiß, ich werde Ihnen gleich einen Passierschein geben. Nehmen Sie gefälligst Platz.«

Er trat an den Tisch heran und begann zu schreiben.

»Bitte, setzen Sie sich doch.«

Nechljudow blieb stehen.

Der Staatsanwalt schrieb den Passierschein aus und übergab ihn Nechljudow, wobei er ihn neugierig ansah.

»Ich muß dann auch noch melden,« sagte Nechljudow, »daß ich an der Gerichtssitzung nicht länger teilnehmen kann.«

»Sie müssen, wie Ihnen wohl bekannt ist, dem Gericht einen triftigen Grund angeben.«

»Der Grund ist, daß ich alle Gerichte nicht nur für unnütz, sondern auch für unsittlich halte.«

»So–o,« sagte der Staatsanwalt, immer mit dem gleichen, kaum merklichen Lächeln, das zu besagen schien, daß solche Argumente ihm nicht unbekannt seien und von ihm zu einer gewissen nicht ernst zu nehmenden Kategorie gezählt würden. »So–o – nun, Sie werden begreifen, daß ich als Staatsanwalt Ihre Auffassung nicht teilen kann. Ich rate Ihnen daher, Ihre Erklärung vor dem Gericht zu machen, das darüber entscheiden wird, ob der von Ihnen angegebene Grund für ausreichend anzusehen ist oder nicht; im letzteren Falle wird Ihnen eine Buße auferlegt werden. Wenden Sie sich also, wie gesagt, an das Gericht.«

»Ich habe meine Erklärung vor Ihnen abgegeben und werde mich nirgends weiter hinwenden,« versetzte Nechljudow ärgerlich.

»Ich habe die Ehre,« sagte der Staatsanwalt, sich verneigend – er hatte offenbar den Wunsch, diesen sonderbaren Besucher so bald wie möglich loszuwerden.

»Wer war denn eben bei Ihnen?« fragte ein Richter, der gleich nach Nechljudows Weggang das Kabinett des Staatsanwalts betrat.

»Nechljudow – derselbe, wissen Sie, der schon in der Landschaftsversammlung des Kreises Krasnopersk allerhand merkwürdige Kundgebungen losgelassen hat. Stellen Sie sich vor, worauf er jetzt wieder verfallen ist: er ist Geschworener, und unter den Angeklagten befindet sich ein Mädchen, oder eine Frau, die zu Zwangsarbeit verurteilt wurde; er behauptet nun, sie verführt zu haben, und will sie jetzt heiraten.«

»Nicht möglich!«

»Er hat es mir eben erklärt ... und dabei ist er in einer so sonderbaren Aufregung!«

»Es ist etwas nicht richtig bei den jungen Leuten unserer Tage, sie sind nicht normal ...«

»Er ist doch nicht mehr so jung!«

»Um so merkwürdiger ... Ihren Gehilfen Iwaschenkow übrigens, den Vielgepriesenen, habe ich im Magen: der Kerl hungert einen ja aus, spricht und spricht ohne Unterlaß!«

»Ja, den jungen Strebern sollte man Maulkörbe anlegen, das sind ja die reinen Obstruktionisten ...«


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