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Die Zelle, in der die Maslowa eingesperrt war, war ein großer Raum von neun Arschin Länge und sieben Arschin Breite, mit zwei Fenstern, einem vorspringenden Ofen, von dem der Bewurf abgefallen war, und einer Anzahl Holzpritschen, die zwei Drittel des Raumes einnahmen. In der Mitte, der Tür gegenüber, befand sich ein dunkles Heiligenbild mit einer festgeklebten Wachskerze und einem darunter aufgehängten verstaubten Immortellenstrauß. Hinter der Tür links befand sich im Fußboden eine schwarz gewordene Stelle, auf der ein übelriechender Kübel seinen Platz hatte. Die Kontrolle war soeben vorüber, und die Frauen waren schon für die Nacht eingeschlossen.
Die Zelle zählte im ganzen fünfzehn Insassen: zwölf Frauen und drei Kinder.
Es war noch ganz hell, und erst zwei von den Frauen hatten ihre Pritschen aufgesucht: eine Blödsinnige, die wegen Mangels an Ausweispapieren eingesperrt war und fast immer, bis über den Kopf mit ihrem Schlafrock zugedeckt, schlief, und eine andere, die an der Schwindsucht litt und eine Strafe wegen Diebstahls abzubüßen hatte. Diese schlief nicht, sondern lag, den zusammengerollten Schlafrock als Kissen benutzend, mit weitgeöffneten Augen da und hielt, um nicht husten zu müssen, mühsam den kitzelnden und kluckernden Schleim in der Kehle zurück.
Von den übrigen Frauen, die alle barhäuptig und nur mit ihren groben Leinwandhemden bekleidet waren, saßen einige auf den Pritschen und nähten, während andere am Fenster standen und nach den über den Hof gehenden Arrestanten schauten. Unter den Nähenden befand sich auch jene Alte, welche die Maslowa, als sie am Morgen abgeholt wurde, hinausbegleitet hatte. Sie hieß Korablewa und war eine hochgewachsene, kräftige Frau von finsterem Aussehen, immer verdrießlich, voll Runzeln, mit einer herabhängenden großen Hautfalte unter dem Kinn, kurzem, dunkelblondem, an den Schläfen schon ergrautem Haar und einer haarbedeckten Warze auf der Wange. Diese Alte war zu Zwangsarbeit verurteilt, weil sie ihren Mann mit dem Beil erschlagen hatte. Sie hatte ihn erschlagen, weil er sich ihrer Tochter mit unsittlichen Absichten genähert hatte. Die Korablewa war die Stubenälteste in der Zelle und betrieb insgeheim einen kleinen Branntweinhandel. Sie nähte mit der Brille und hielt mit ihrer abgearbeiteten großen Hand die Nadel nach Bauernart mit drei Fingern, die Spitze gegen sich gekehrt. Neben der Korablewa saß, wie diese mit dem Nähen von Segeltuchsäcken beschäftigt, eine kleine, stumpfnasige, brünette Frau mit kleinen schwarzen Augen, gutmütig und geschwätzig. Es war eine Bahnwärterin, die zu drei Monaten Gefängnis verurteilt war, weil sie zu einem Zuge, der nachträglich verunglückte, nicht mit der Fahne herausgetreten war. Die dritte der nähenden Frauen war Fedoßja – Fenitschka, wie die Gefährtinnen sie nannten – eine zarte, rotwangige, noch ganz junge und sehr anmutige Frau, mit hellen blauen Kinderaugen und zwei langen blonden Zöpfen, die sie um den nicht großen Kopf gelegt trug. Sie saß im Gefängnis, weil sie ihren Mann zu vergiften versucht hatte. Sie hatte den Vergiftungsversuch sogleich nach ihrer Hochzeit gemacht, nachdem man sie als kaum Sechzehnjährige verheiratet hatte. In den acht Monaten, die sie gegen Stellung einer Kaution während der Dauer der Untersuchung in Freiheit verbrachte, hatte sie sich nicht nur mit ihrem Manne ausgesöhnt, sondern ihn sogar liebgewonnen, so daß, als das Urteil sie traf, sie mit ihm ein Herz und eine Seele war. Obschon der Mann wie der Schwiegervater, besonders aber die Schwiegermutter, die sie in ihr Herz geschlossen hatte, alle Anstrengungen gemacht hatten, um ihre Freisprechung zu erreichen, wurde sie doch zur Verschickung nach Sibirien, in die Zwangsarbeit, verurteilt. Die gutherzige, muntere, gern lächelnde Fedoßja war die Pritschennachbarin der Maslowa, und sie war der Maslowa nicht nur herzlich zugetan, sondern hielt es auch für ihre Pflicht, für sie zu sorgen und ihr zu dienen. Noch zwei Frauen saßen ohne Beschäftigung auf den Pritschen: die eine von ihnen mochte etwa vierzig Jahre zählen, hatte ein blasses, mageres Gesicht, das anscheinend früher sehr schön gewesen war, und hielt ein Kind in den Armen, dem sie soeben die Brust gab. Ihr Verbrechen bestand darin, daß sie an einer Rekrutenbefreiung teilgenommen hatte. Als aus ihrem Heimatsdorf ein Rekrut fortgebracht werden sollte, der nach den Begriffen der Bauern gesetzwidrig eingezogen war, hatte das Volk den Bezirkskommissar, der ihn abholte, umringt und ihm den Rekruten entrissen. Diese Frau nun, eine Tante des gesetzwidrig eingezogenen jungen Mannes, war zuerst dem Pferde in den Zügel gefallen, das vor den zur Transportierung des Rekruten bestimmten Wagen gespannt war. Ferner saß da noch unbeschäftigt auf ihrer Pritsche eine kleine, ganz mit Runzeln bedeckte, gutmütig dreinschauende Alte mit grauem Haar und gekrümmtem Rücken. Die Alte saß ganz nahe am Ofen und tat, als wolle sie ein vierjähriges, kurzgeschorenes, dickbäuchiges Bürschchen fangen, das sich vor Lachen ausschütten wollte. Der Kleine lief im bloßen Hemd immer wieder vorüber und wiederholte jedesmal die Worte: »Etsch, du hast mich nicht gekriegt!« Diese Alte war samt ihrem Sohne wegen Brandstiftung angeklagt und ertrug die Gefangenschaft mit größter Gutmütigkeit, nur daß sie sich um ihren Sohn grämte, der mit ihr zugleich eingesperrt worden war, und noch mehr um ihren Alten, der, wie sie fürchtete, ohne sie ganz verkommen und verlausen würde, da die Schwiegertochter davongegangen war und er niemanden mehr hatte, der ihn gewaschen hätte.
Außer diesen sieben Frauen standen noch vier an einem der offenen Fenster, hielten sich an dem eisernen Gitter fest und unterhielten sich durch Zeichen und Zurufe mit der Arrestanten im Hofe – denselben, mit denen die Maslowa vorher am Eingang zusammengetroffen war. Eine dieser Frauen, die eine Strafe wegen Diebstahls zu verbüßen hatte, war eine große, schwerfällige, rothaarige Person mit hängendem Bauche und gelblichblassen Zügen. Sie war im Gesicht, an den Armen und an dem dicken, aus dem offenstehenden Kragen hervortretenden Halse ganz mit Sommersprossen bedeckt. Sie rief mit heiserer Stimme unanständige Worte laut zum Fenster hinaus. Neben ihr stand eine brünette Arrestantin von plumper Figur, kaum so groß wie ein zehnjähriges Mädchen, mit langem Rücken und ganz kurzen Beinen. Ihr Gesicht war rot und fleckig, mit weit auseinanderstehenden schwarzen Augen und dicken, kurzen Lippen, die die hervortretenden weißen Zähne nicht bedeckten. Sie lachte über das, was im Hofe vorging, mit einem stoßweisen, quiekenden Lachen. Diese Arrestantin, die sehr putzsüchtig war und davon den Spitznamen »Schönlieschen« hatte, war wegen Diebstahls und Brandstiftung in Untersuchung. Hinter ihnen stand, in einem sehr schmutzigen grauen Hemd, eine höchst kläglich aussehende, magere, sehnige Frau in hochschwangerem Zustande, die wegen Hehlerei verurteilt war. Diese Frau schwieg, doch sah sie die ganze Zeit mit einem wohlgefälligen, glücklichen Lächeln auf die Vorgänge im Hofe. Die vierte der am Fenster stehenden Frauen war eine kleine, stämmige Bäuerin mit stark hervortretenden Augen und gutmütigem Gesichte; sie hatte eine Strafe wegen heimlichen Branntweinverkaufs abzumachen. Diese Frau war die Mutter des kleinen Knaben, der mit der Alten spielte, und eines siebenjährigen Mädchens, das gleich dem Knaben mit ihr ins Gefängnis gekommen war, da es sonst keinen Verbleib hatte. Die Mutter der beiden Kinder sah gleichfalls zum Fenster hinaus, strickte dabei jedoch an ihrem Strumpfe weiter, runzelte mißbilligend die Stirn und schloß die Augen, um ihre Mißbilligung über das, was die Arrestanten draußen im Hofe trieben, zum Ausdruck zu bringen. Ihr Töchterchen dagegen, das siebenjährige Mädchen, stand mit dem aufgelösten weißlichen Haar, im bloßen Hemdchen, neben der Rothaarigen, hielt sich mit den mageren kleinen Händchen an ihr fest, horchte aufmerksam, die Augen weit aufreißend, auf die schmutzigen Reden, welche die Frauen mit den Arrestanten tauschten, und wiederholte die widerlichen Worte flüsternd, als wolle sie sie auswendig lernen. Die zwölfte Arrestantin war die Tochter eines Küsters, die ihr Kind im Brunnen ertränkt hatte. Sie war ein hochgewachsenes, stattliches Mädchen mit großen, vortretenden Augen und einem nicht langen, starken blonden Zopfe, aus dem die Haare sich wirr hervordrängten. Ohne dem, was rings um sie vorging, irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, schritt sie barfuß, nur mit dem schmutzigen grauen Hemd bekleidet, in dem freien Raume der Zelle auf und ab und wandte sich jedesmal, sobald sie die Wand erreichte, jäh und rasch um.