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Nechljudow fuhr frühzeitig von Hause fort. Ein Bauer, der mit seinem Wägelchen vom Dorfe gekommen, ließ von einer Seitengasse her seinen Ruf ertönen: »Milch, Milch, Milch!«
Am Abend vorher war der erste warme Frühlingsregen gefallen. Überall, wo kein Pflaster lag, begann plötzlich das Gras zu grünen; die Birken in den Gärten waren wie mit grünen Daunen überstreut, und Faulbaum und Pappel entfalteten ihre langen, duftenden Blätter, in den Häusern und Kaufmannsläden aber wurden die Winterfenster herausgenommen und die Scheiben geputzt. Auf dem Trödelmarkte, an dem Nechljudow vorüberkam, wimmelte vor den Budenreihen eine dichte Volksmenge, und Leute in abgerissener Kleidung, mit Stiefeln unter dem Arm und gebügelten Beinkleidern und Westen über der Schulter, gingen hin und her.
Vor den Schankwirtschaften drängten sich bereits die aus den Fabriken befreiten Männer, in sauberen Röcken und glänzenden Stiefeln, und Frauen in bunten seidenen Kopftüchern und schmelzbesetzten Paletots. Polizisten mit gelben Pistolenriemen standen auf ihren Posten und spähten nach irgendeinem Auflauf aus, der ihnen die Langeweile des Dienstes vertreiben könnte. Auf den Fußsteigen der Boulevards und dem eben erst frisch ergrünenden Rasen liefen Kinder und Hunde spielend umher, und muntere Kindermädchen saßen, mit einander plaudernd, auf den Bänken.
Über die Straßen, die auf der linken Seite, im Schatten, noch kühl und feucht, in der Mitte dagegen bereits trocken waren, fuhren ununterbrochen schwer beladene Frachtwagen, rasselnde Droschken und klingelnde Straßenbahnwagen dahin. Die Luft erzitterte von den mannigfachen Tönen und den Klängen der Glocken, die das Volk zusammenriefen, damit es ebensolchem Gottesdienste beiwohnte, wie er jetzt in der Gefängniskirche stattfand. Und die festlich geschmückten Gläubigen begaben sich ein jeder nach seiner Pfarrkirche.
Der Droschkenkutscher fuhr Nechljudow nicht bis zum Gefängnis selbst, sondern nur bis zu einer Straßenbiegung kurz vor dem Gefängnis. Eine Gruppe von Männern und Frauen, zum größten Teil mit Bündeln in der Hand, standen an dieser Straßenbiegung, etwa hundert Schritte vom Gefängnis entfernt. Zur Rechten erhoben sich dort niedrige hölzerne Bauten, zur Linken ein zweistöckiges Haus mit einem Aushängeschild. Das massive, mächtige Gefängnisgebäude selbst lag geradeaus, dahin ließ man die Besucher nicht zu. Ein Posten ging mit dem Gewehr über der Schulter davor auf und ab und schrie jeden barsch an, der sich an ihm vorüberzuschleichen suchte.
Neben dem Pförtchen zu den hölzernen Bauten zur Rechten, gegenüber dem Schilderhaus, saß auf einem Bänkchen ein Aufseher in einer Uniform mit Tressen, mit einem Notizbuch in der Hand. Die Besucher traten zu ihm hin und nannten die Namen derjenigen, die sie zu besuchen wünschten, und er schrieb sie auf. Auch Nechljudow ging an ihn heran und nannte die Katerina Maslowa. Der Aufseher mit den Tressen notierte den Namen.
»Warum wird man noch nicht vorgelassen?« fragte Nechljudow.
»Es ist noch Gottesdienst. Sobald die Messe vorüber ist, dürfen die Besucher eintreten.«
Nechljudow begab sich zu der Gruppe der Wartenden. Ein Mann in zerrissener Kleidung und zerknittertem Hute, mit alten Stiefeln an den nackten Füßen und roten Streifen über das ganze Gesicht, trat aus der Mitte der Wartenden und schritt auf das Gefängnis zu.
»Wohin willst du denn, Kerl?« schrie der Soldat mit dem Gewehr ihn an.
»Warum brüllst du so?« antwortete der Zerlumpte, durch den Anruf des Postens keineswegs eingeschüchtert, und ging zurück. »Wenn du mich nicht durchläßt, gut, dann warte ich noch. Aber zu schreien brauchst du nicht, wie so'n General.«
Beifälliges Lachen tönte aus der Gruppe der Wartenden. Die Besucher waren zumeist Leute in ärmlicher, ja zum Teil selbst zerlumpter Kleidung, doch waren auch solche von anständigem Aussehen darunter, sowohl Männer wie Frauen. Neben Nechljudow stand ein gutgekleideter, glattrasierter, behäbiger Mann mit roten Backen, mit einem kleinen Bündel in der Hand, das anscheinend Wäsche enthielt. Nechljudow fragte ihn, ob er zum ersten Mal da sei. Der Mann mit dem Bündel antwortete, er komme jeden Sonntag her, und sie kamen ins Gespräch mit einander. Er war Portier in einer Bank und besuchte seinen Bruder, der wegen Urkundenfälschung eingesperrt war. Der gutmütige Mann erzählte Nechljudow seine ganze Geschichte und wollte soeben auch ihn ausfragen, als eine elegante Droschke auf Gummirädern, vor die ein großer, feuriger Rappe gespannt war, und aus der ein Student mit einer verschleierten Dame ausstieg, seine Aufmerksamkeit erregte. Der Student trug ein großes Paket in den Händen. Er ging an Nechljudow heran und fragte ihn, ob es gestattet sei, das Gebäck, das er mitgebracht, als Almosen für die Gefangenen abzugeben, und an wen er sich deshalb zu wenden habe.
»Ich tue es auf Wunsch meiner Braut,« sagte er, »dies ist hier meine Braut. Ihre Eltern empfahlen uns, diese Gabe den Gefangenen zu bringen.«
»Ich bin selbst zum ersten Mal hier und weiß hier nicht Bescheid, doch glaube ich, daß Sie jenen Mann da fragen müssen,« sagte Nechljudow und zeigte nach dem Aufseher in dem betreßten Uniformrock, der mit seinem Notizbuche rechts von ihnen saß.
Während Nechljudow noch mit dem Studenten sprach, tat sich die große eiserne Gefängnistür mit dem Fensterchen in der Mitte auf, und ein Offizier in Uniform erschien mit einem zweiten Aufseher. Der Aufseher mit dem Notizbuche erklärte, daß die Zulassung der Besucher nun beginne. Der Posten trat zur Seite, und alle Besucher eilten, als wenn sie fürchteten, daß sie zu spät kommen könnten, raschen Schrittes, einige sogar im Trabe, nach der Gefängnistür. An der Tür stand ein Aufseher, der die Besucher der Reihe nach, so wie sie an ihm vorübergingen, laut abzählte: sechzehn, siebzehn u. s. w. Ein weiterer Aufseher, im Innern des Gebäudes, zählte ebenso die in die nächste Tür Eintretenden, wobei er jeden einzelnen mit der Hand berührte. Der Zweck der Zählung war zu verhindern, daß bei der Entlassung der Besucher, die wiederum unter Kontrolle erfolgte, einer von diesen im Gefängnis zurückblieb und dafür ein Gefangener es verließ. Der kontrollierende Beamte, der die Eintretenden gar nicht ansah, gab auch Nechljudow einen Klaps auf den Rücken. Diese Berührung durch die Hand des Beamten verletzte Nechljudow im ersten Augenblick, doch erinnerte er sich sogleich, weshalb er hergekommen, und er schämte sich seiner Empfindlichkeit.
Der erste Raum hinter der Tür war ein großes, gewölbtes Zimmer mit eisernen Gittern vor den kleinen Fenstern. In diesem Raume, dem sogenannten Versammlungssaal, sah Nechljudow in einer Nische eine große Darstellung der Kreuzigung Christi, deren Anblick ihn an diesem Orte sonderbar berührte.
Langsam schritt Nechljudow dahin und ließ die Besucher, die es eilig hatten, an sich vorübergehen. Ein seltsames Gemisch von Empfindungen erfüllte seine Seele: das Grauen vor den Übeltätern, die in diesen Mauern eingeschlossen waren, das Mitleid mit den Unschuldigen, die, wie Katjuscha und der junge Mensch, der gestern vor Gericht gestanden, hier vorhanden sein mußten, und ein Gefühl des Kleinmuts und der Scheu vor dem Wiedersehen, das ihm bevorstand.
Am Ausgang aus dem ersten Zimmer, ganz am andern Ende, sagte ein Aufseher irgendetwas zu den Besuchern. Nechljudow, der vollkommen von seinen Gedanken in Anspruch genommen war, achtete nicht auf seine Worte, sondern ging in derselben Richtung, die die meisten Besucher einschlugen, weiter. Er kam so in die Männerabteilung – nicht, wie er eigentlich wollte, in die der Frauen.
Er ließ alle andern an sich vorübereilen und kam als letzter in den für die Besucher bestimmten Raum. Das erste, was ihm, als er die Tür geöffnet hatte und eingetreten war, in diesem Raume auffiel, war der ohrenbetäubende Lärm, den die in ein einziges Getöse zusammenfließenden Stimmen der über hundert Anwesenden hervorbrachten. Erst als Nechljudow sich den Leuten näherte, die wie die Fliegen an ein Stück Zucker sich an die das Zimmer durchschneidende Netzwand preßten, begriff er, um was es sich handelte. Das Zimmer, das seine Fenster in der Hinterwand hatte, wurde nicht durch ein einziges, sondern durch zwei von der Decke bis zur Erde reichende Netze durchschnitten. In dem Zwischenraum zwischen den beiden Netzen gingen Aufseher hin und her. Hinter dem einen Netze befanden sich die Gefangenen, hinter dem andern die Besucher. Zwei Netze also, die drei Ellen weit voneinander abstanden, befanden sich zwischen der einen und der andern Gruppe, so daß nicht nur nichts hindurchgereicht werden konnte, sondern selbst die Gesichter, zumal für kurzsichtige Leute, nicht zu unterscheiden waren. Auch das Sprechen war sehr erschwert, man mußte aus allen Kräften schreien, um drüben gehört zu werden. Zu beiden Seiten preßten sich die Gesichter ganz dicht gegen die Netze: Frauen, Männer, Väter, Mütter, Kinder suchten sich hüben und drüben zu erkennen und zu verständigen. Da nun jeder einzelne sehr laut sprach, damit sein Partner ihn verstand, die Nachbarn zu beiden Seiten aber das gleiche taten und die Stimmen der einen und andern sich gegenseitig störten, so bemühten sich schließlich alle, immer lauter und lauter zu schreien. Das war es, was diesen von einzelnen schrillen Stimmen übertönten Höllenlärm verursachte, der Nechljudow beim Eintritt in das Zimmer so aufgefallen war. Es war ganz unmöglich, zu unterscheiden, was eigentlich gesprochen wurde. Nur nach dem Ausdruck der Gesichter konnte man darauf schließen, was gesprochen wurde, und welche Beziehungen zwischen den Sprechenden bestanden.
In nächster Nähe Nechljudows stand ein altes Mütterchen im Kopftuch, das, dicht an das Netz gedrückt, mit zitterndem Kinn einem blassen jungen Menschen, dessen Schädel halb rasiert war, irgend etwas zurief. Der Gefangene hörte mit emporgezogenen Brauen und gerunzelter Stirn voll Aufmerksamkeit zu. Neben der Alten stand ein junger Mensch im ärmellosen Wams, der kopfschüttelnd anhörte, was ein ihm sehr ähnlicher Arrestant mit verhärmtem Gesichte und ergrauendem Bart ihm erzählte. Noch weiter ab stand ein Mensch in zerlumpten Kleidern, der mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und dabei irgend etwas lachend hinüberschrie. Neben ihm saß eine Frau in einem schönen wollenen Tuche, mit einem Kinde im Arm, auf dem Fußboden und weinte – offenbar sah sie den Mann vor ihr, mit dem rasierten grauen Haar, der Arrestantenjacke und den Fesseln an den Füßen hier zum ersten Male. Über ihren Kopf hinweg schrie der Portier, mit dem Nechljudow gesprochen hatte, aus vollem Halse irgend etwas zu einem kahlköpfigen Gefangenen mit glänzenden Augen nach der andern Seite hinüber.
Nechljudow verblieb etwa fünf Minuten in diesem Raume. Es empörte sich etwas in ihm, daß Menschen eine solche Einrichtung erfinden konnten, die nichts weiter als eine Verhöhnung jedes menschlichen Gefühls war. Und doch taten alle, der Inspektor wie die Soldaten und die Gefangenen, so, als ob das alles nicht anders sein könne. Nechljudow hatte ein seltsames Gefühl der Beklemmung, des Bewußtseins seiner Ohnmacht und seiner Zerfallenheit mit der ganzen Welt; eine Empfindung, wie man sie etwa auf einem schwankenden Schiffe hat, überkam ihn.
»Ich muß doch aber schließlich daran denken, weshalb ich hergekommen bin,« sagte er, sich aufraffend. »Was fange ich nun weiter an?«
Sein Auge suchte nach irgendeiner Amtsperson, die ihm Bescheid geben konnte, und als er hinter der Masse der Besucher einen kleinen, hageren Mann mit einem Schnurrbart und Offiziersepauletten auf und ab schreiten sah, ging er auf ihn zu.
»Können Sie mir vielleicht sagen, werter Herr,« begann er mit ausgesuchter Höflichkeit – »wo hier die Frauen inhaftiert sind, und wo man die Erlaubnis nachsucht, eine Gefangene zu sehen?«
»Sie wollen nach dem Besuchszimmer der Frauenabteilung?«
»Ja, ich möchte eine der inhaftierten Frauen sehen,« versetzte Nechljudow mit derselben übertriebenen Höflichkeit.
»Das hätten Sie aber sagen müssen, als Sie im gemeinsamen Versammlungsraum waren. Wen wollen Sie denn sprechen?«
»Ich möchte die Jekaterina Maslowa sprechen.«
»Ist sie schon abgeurteilt?«
»Ja, sie wurde vorgestern verurteilt,« antwortete Nechljudow bescheiden, um den Beamten, der an ihm Anteil zu nehmen schien, nicht aus der Stimmung zu bringen.
»Wenn Sie nach der weiblichen Abteilung wollen, dann bemühen Sie sich, bitte, dahin,« sagte der Beamte, der nach Nechljudows Äußerem schloß, daß er wohl eine rücksichtsvollere Behandlung verdiene. »Sidorow!« wandte er sich an einen schnurrbärtigen Unteroffizier mit medaillengeschmückter Brust – »führe doch den Herrn in das Besuchszimmer der weiblichen Abteilung!«
»Zu Befehl.«
In diesem Augenblick ließ sich an dem Drahtgitter ein herzzerreißendes Schluchzen vernehmen.
Alles erschien Nechljudow seltsam in diesem Hause, am seltsamsten jedoch schien ihm, daß er sich dem Inspektor und dem Oberaufseher noch zu Danke verpflichtet fühlen mußte, während sie doch die Grausamkeiten zur Ausführung brachten, die in diesem Hause begangen wurden.
Der Aufseher führte Nechljudow aus dem Besuchszimmer für die Männer in den Korridor hinaus, von wo er ihn durch eine gerade gegenüber liegende Tür nach dem Besuchsraum der weiblichen Abteilung geleitete.