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Nechljudow wartete schon lange im Hausflur.
Er war frühzeitig vor dem Gefängnis eingetroffen, hatte an der Eingangstür die Glocke gezogen und dem diensttuenden Aufseher die Verfügung des Staatsanwalts vorgezeigt.
»Zu wem wollen Sie?«
»Ich will die Gefangene Maslowa sprechen.«
»Das geht jetzt nicht – der Inspektor ist beschäftigt.«
»Ist er im Bureau?« fragte Nechljudow.
»Nein, er ist hier, im Besuchszimmer,« antwortete der Aufseher – ein wenig verlegen, wie es Nechljudow schien.
»Ist denn jetzt Empfangszeit?«
»Nein, es handelt sich um 'ne besondere Sache,« sagte der Aufseher.
»Wie kann ich ihn wohl zu sprechen bekommen?«
»Warten Sie hier, sobald er vorübergeht, können Sie's ihm sagen.«
In diesem Augenblick trat ein Feldwebel mit glänzenden Tressen an der Uniform, strahlendem Gesichte und stark von Tabakduft gesättigtem Schnurrbart aus einer Seitentür.
»Warum lassen Sie die Leute hier ein? Ins Bureau! ...«
»Man hat mir gesagt, daß der Inspektor hier sei,« sagte Nechljudow, durch die Unruhe befremdet, die sich auch bei dem Feldwebel bemerkbar machte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür nach dem Innern des Gebäudes, und der Aufseher Petrow erschien, ganz erhitzt und in Schweiß gebadet, auf der Schwelle.
»Der wird dran denken!« sagte er, sich an den Feldwebel wendend.
Der Feldwebel winkte mit den Augen nach Nechljudow hin, und Petrow schwieg, runzelte die Stirn und verschwand durch die Hintertür.
»Wer wird daran denken? Warum sind sie alle so erregt? Warum hat der Feldwebel ihm zugeblinzelt?« dachte Nechljudow.
»Es geht nicht, daß Sie hier warten, wollen Sie sich ins Bureau bemühen,« wandte sich der Feldwebel von neuem an Nechljudow, und dieser wollte bereits gehen, als aus der hinteren Tür der Inspektor eintrat, der noch erregter schien als seine Untergebenen. Er seufzte und ächzte in einem fort. Als er Nechljudow sah, wandte er sich an den Aufseher.
»He, Fedotow – die Maslowa aus der fünften Frauenzelle, nach dem Bureau!« rief er.
»Bitte,« wandte er sich an Nechljudow. Sie stiegen auf einer steilen Treppe nach einem kleinen, einfenstrigen Zimmer hinauf, in dem sich nichts weiter befand als ein Schreibtisch und ein paar Stühle. Der Inspektor setzte sich.
»Ja, die Pflichten, die Pflichten!« sagte er, sich zu Nechljudow wendend und eine dicke Zigarette herauslangend.
»Sie sind erschöpft, wie es scheint,« sagte Nechljudow.
»Ja, ja, von all dem Dienst – man hat so schwere Pflichten. Man will es den Leuten leicht machen, und es kommt dann gerade umgekehrt. Am liebsten möchte man den ganzen Dienst aufgeben. Man weiß wirklich nicht, wie man es einrichten soll. Gar zu schwer hat man es schon ...«
Nechljudow wußte nicht, worin eigentlich die besondere Schwierigkeit für den Inspektor bestand, doch fiel ihm heute an ihm eine ganz besonders düstere und trostlose Stimmung auf, die sein Mitgefühl wachrief.
»Ich will's schon glauben, daß Sie es nicht leicht haben,« sagte er. »Aber warum unterziehen Sie sich der Erfüllung dieser Pflichten?«
»Ich bin leider mittellos, habe Familie ...«
»Aber wenn es Ihnen gar so schwer fällt? ...«
»Nun, man will sich doch schließlich nützlich machen, soweit einem die Kräfte es gestatten; man schafft Milderung, wo man kann. Ein anderer an meiner Stelle würde ganz anders durchgreifen. Es ist, weiß Gott, nicht leicht: zweitausend Mann, und was für eine Gesellschaft! Man muß es schon verstehen, mit ihnen umzugehen. Schließlich sind's ja auch Menschen, sie können einen dauern. Aber ganz und gar kann man ihnen die Zügel auch nicht schießen lassen.«
Der Inspektor begann von einer Prügelei zu erzählen, die kürzlich zwischen den Arrestanten stattgefunden und mit einem Totschlag geendet habe.
Seine Erzählung wurde durch den Eintritt der Maslowa unterbrochen, die in Begleitung des Aufsehers in das Zimmer kam.
Nechljudow erblickte sie, als sie eben in der Tür stand und den Inspektor noch nicht gesehen hatte. Ihr Gesicht war ganz rot. Sie war keck und flink hinter dem Aufseher hergegangen und hatte dabei unter beständigem Lächeln den Kopf hin und her gewiegt. Als sie jetzt den Inspektor erblickte, erschrak sie plötzlich und sah starr nach ihm hin, doch faßte sie sich sogleich und wandte sich munter und flott an Nechljudow.
»Guten Tag,« sagte sie mit singender Stimme, lächelte dabei und schüttelte kräftig, nicht so wie das erstemal, seine Hand.
»Ich habe Ihnen hier ein Gesuch zur Unterschrift gebracht,« sagte Nechljudow, ein wenig verwundert über die kecke Art, wie sie ihm diesmal entgegentrat. »Der Advokat hat das Gesuch aufgesetzt, Sie müssen es unterschreiben, und dann schicken wir es nach Petersburg.«
»Gewiß, ich kann's ja unterschreiben. Alles tu' ich, was man verlangt,« sagte sie lächelnd und das eine Auge zukneifend.
Nechljudow nahm das zusammengefaltete Schriftstück aus der Tasche und trat an den Tisch.
»Kann die Unterschrift hier gegeben werden?« fragte Nechljudow den Inspektor.
»Komm, setz' dich hierher,« sagte der Inspektor. »Da hast du eine Feder. Kannst du schreiben?«
»Ich hab's mal gekonnt,« sagte sie, zog lächelnd ihren Rock und die Ärmel ihrer Jacke zurecht, setzte sich an den Tisch, ergriff mit ihrer kleinen, energischen Hand unbeholfen die Feder und sah lachend zu Nechljudow auf.
Er zeigte ihr, wohin sie ihren Namen schreiben sollte.
Sie tauchte die Feder vorsichtig ein, spritzte sie ab und schrieb ihren Namen.
»Sonst ist nichts nötig?« fragte sie, während sie bald Nechljudow und bald den Inspektor ansah und den Federhalter abwechselnd auf das Tintenfaß und das Papier legte.
»Ich muß noch einiges mit Ihnen besprechen,« sagte Nechljudow und nahm ihr den Federhalter aus der Hand.
»Bitte, sprechen Sie,« sagte sie und nahm plötzlich, als denke sie über irgend etwas nach, oder als wolle sie einschlafen, eine ernste Miene an.
Der Inspektor erhob sich und ging hinaus, während Nechljudow Aug' in Auge mit ihr zurückblieb.