Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

41.

Nechljudow hatte erwartet, daß Katjuscha schon beim ersten Wiedersehen, sobald sie ihn erblickt und seine Absicht, ihr zu dienen und seine Schuld zu sühnen, kennengelernt hätte, von Freude und Rührung übermannt, wieder die alte Katjuscha werden würde. Zu seinem Schrecken aber hatte er sich bald davon überzeugen müssen, daß nicht jene Katjuscha, sondern einzig die Maslowa vor ihm stand. Das hatte ihn mit Bestürzung und schwerem Bangen erfüllt.

Ganz besonders hatte es ihn in Erstaunen gesetzt, daß die Maslowa sich ihrer Lage so gar nicht schämte – nicht ihrer Lage als Arrestantin, denn die empfand sie sehr wohl als beschämend, sondern ihrer Lage als Prostituierte, mit der sie anscheinend ganz zufrieden war, ja sogar ein wenig zu prahlen schien. Und doch konnte das gar nicht anders sein. Jeder Mensch muß, um sich zu betätigen, unbedingt seine Tätigkeit selbst für wichtig und gut halten. Und darum wird er, welches auch seine gesellschaftliche Lage sein mag, sich unfehlbar vom menschlichen Leben im allgemeinen eine Ansicht bilden, die es ihm gestattet, seine persönliche Tätigkeit als wichtig und nützlich anzusehen.

Man nimmt gewöhnlich an, daß ein Dieb, ein Mörder, eine Prostituierte ihre Profession für unsittlich halten und sich ihrer schämen müssen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Leute, die durch das Schicksal sowie durch ihre eigenen Fehler und Irrtümer in eine gewisse Lage versetzt sind, bilden sich, so sehr diese Lage auch mit Recht und Sitte im Widerspruch stehen mag, doch eine solche Gesamtauffassung vom Leben, bei der ihre eigene Lage ihnen als gut und achtungswert erscheint. Um diese Lebensauffassung zu rechtfertigen, halten sie sich instinktiv an solche Kreise, in denen ihre Begriffe und Vorstellungen vom Leben und ihrer eignen Stellung im Leben Anerkennung finden. Wir wundern uns darüber, daß ein Dieb sich seiner Gewandtheit, eine Prostituierte ihrer Lasterhaftigkeit, ein Mörder seiner Grausamkeit rühmt. Doch wir wundern uns nur deshalb darüber, weil der Kreis dieser Leute beschränkt ist, und vor allem, weil wir selbst außerhalb dieses Kreises stehen. Aber begegnen wir nicht derselben Erscheinung unter den reichen Leuten, die sich ihres Reichtums rühmen, oder unter den Heerführern, die mit ihren Siegen prahlen? Wenn wir die Begriffe, die diese Leute vom Leben, vom Guten und Bösen haben, nicht für verkehrt ansehen, so hat dies einzig darin seinen Grund, daß der Kreis der Leute mit solchen Begriffen größer ist, und daß wir selbst zu diesem Kreise gehören.

Auch die Maslowa hatte sich ihre eigne Auffassung vom Leben und ihrem Platze im Leben gebildet. Obschon sie eine zu Zwangsarbeit verurteilte Prostituierte war, gestattete ihr diese Auffassung von den Dingen doch, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, ja sich sogar mit ihrer Lage vor den Menschen zu brüsten.

Diese Lebensauffassung gründete sich auf der Ansicht, daß es für alle Männer ohne Ausnahme, alte wie junge, Gymnasiasten wie Generale, Gebildete wie Ungebildete, keinen größeren Genuß gebe als den Verkehr mit anziehenden Frauen, und daß daher alle Männer, wenn sie sich auch so stellen, als seien sie mit anderen Dingen beschäftigt, doch in Wirklichkeit einzig auf diesen Genuß erpicht seien. Sie war eine anziehende Frau, sie konnte jene Wünsche erfüllen oder nicht erfüllen, und darum war sie ein wichtiger und notwendiger Mensch. Ihr ganzes früheres und jetziges Leben bestätigte ihr die Richtigkeit dieser ihrer Auffassung.

Im Verlauf von zehn Jahren hatte sie überall, wo sie nur gewesen, die Beobachtung gemacht, daß die Männer, von Nechljudow und dem alten Bezirkskommissar angefangen bis zu den Aufsehern im Gefängnis, ihrer bedurften; sie hatte diejenigen Männer, die ihrer nicht bedurften, nicht gesehen noch bemerkt. Und darum erschien ihr die ganze Welt von Menschen erfüllt, die, von wilder Leidenschaft erfüllt, ihr von allen Seiten nachstellten und sich mit allen nur erdenklichen Mitteln, mit Gewalt und Betrug, mit List und Bestechung ihrer zu bemächtigen suchten.

So faßte die Maslowa das Leben auf, und bei dieser Auffassung des Lebens war sie in ihren Augen nicht nur kein untergeordneter, sondern sogar ein sehr wichtiger Mensch. Und die Maslowa gab etwas auf diese ihre Lebensauffassung, sie schätzte sie höher als alles in dieser Welt, und sie mußte sie hochschätzen, weil sie selbst, sobald sie dieser Lebensauffassung entsagte, sofort die Bedeutung verlor, die ihr diese Auffassung innerhalb der menschlichen Gesellschaft verlieh. Um nun ihre Bedeutung im Leben der Gesellschaft nicht einzubüßen, hielt sie sich instinktiv an diejenigen Kreise, die das Leben ebenso ansahen wie sie. Sie hatte sogleich das Gefühl gehabt, daß Nechljudow sie dieser ihrer Welt entfremden wolle, und darum hatte sie sich ihm widersetzt, in der richtigen Voraussicht, daß sie in jener Welt, in die er sie hineinzuziehen suchte, unbedingt ihre Position im Leben, die ihr Sicherheit und Selbstachtung gab, verlieren müsse. Aus diesem Grunde suchte sie sich auch die Erinnerung an ihre Jugend und ihre ersten Beziehungen zu Nechljudow fernzuhalten. Diese Erinnerungen harmonierten nicht mit ihrer gegenwärtigen Ansicht von den Dingen, und darum hatte sie sie aus ihrem Gedächtnisse ausgemerzt, oder sie ruhten vielmehr unangetastet irgendwo tief auf dem Grunde ihres Gedächtnisses, wo sie, fest eingeschlossen und verklebt, für jedermann unzugänglich gemacht waren, ähnlich den Wachsmotten, die von den Bienen eingeschlossen und verklebt werden, damit sie ihre Bienenarbeit nicht verderben. Daher sah sie denn auch in diesem Nechljudow, der sie heute aufgesucht, nicht jenen Jüngling, dem sie einstmals in reiner Liebe zugetan gewesen, sondern lediglich einen reichen Herrn, auf dessen Ausbeutung sie bedacht sein mußte, und mit dem sie nur dieselben Beziehungen wie mit allen andern Männern unterhalten konnte.

»Gerade die Hauptsache konnte ich ihr nicht sagen,« sagte sich Nechljudow, während er zugleich mit den übrigen Besuchern dem Ausgange zuschritt. »Ich habe es ihr nicht gesagt, daß ich sie heiraten will. Aber wenn ich es ihr auch nicht gesagt habe, so tue ich es doch bestimmt.«

An der Tür standen wieder die beiden Aufseher, die unter Zuhilfenahme ihrer Hände die aus dem Gefängnis kommenden Besucher zählten, damit nicht etwa ein Gefangener heimlich herauskäme oder einer der Besucher zurückbliebe. Diesmal verletzte es Nechljudow gar nicht, daß sein Rücken berührt wurde, ja er bemerkte es gar nicht.


 << zurück weiter >>