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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Der siamesische Tempeltanz

Das war nun also die » Crûche cassée« gewesen. Kein Fehlschritt, kein mißratenes Tempo.

Wie sie am Schlusse dastand, erst Schweigen. Dann hier und dort ein erstauntes: »Ach kuck'.« »Nein, wie süß!« »Genau wie das Bild.« Und dann ein Beifallsgebrause, das anschwoll zu einem Sturm, der einen hinunterzufegen drohte.

Und je weniger sie wagte, sich zu rühren, desto wütender wurde der Jubel.

Bis von hinten her eine Stimme rief: »Vorwärts, danken, danken!«

Da knickste sie zwei-, dreimal – es war gut, daß sie knickste, denn jede Verbeugung wäre stillos gewesen – und lief in die schützende Dämmerung der offenen Seitentür.

Dort stand der Bruder, ergriff ihre Hand und zog sie zurück aufs Podium.

Neuer Jubel, neues Hallo.

Nun hatte sie auch den Mut, sich zu verneigen, genau wie der Bruder es tat. Sogar einen suchenden Blick nach Fritz in die Runde zu schicken, erlaubte sie sich, aber sie sah nichts als klaffende Münder und gegeneinanderschlagende Hände.

Ähnlich wie damals war's, als Herbert den ersten Stegreiftanz aus ihren Gliedern hervorgeholt hatte. Nur stärker, dringlicher und dabei selbstgefälliger, gleich einer Quittung für etwas, das man den Leuten schuldig gewesen.

Und dann erloschen die Scheinwerfer, die Fanfaren verklangen, und der Rundtanz, der die Pause des Umzugs ausfüllen sollte, nahm seinen Fortgang.

Da war die Garderobe wieder mit ihren glutheißen Lampen, dem Brandgeruch der Brennschere und dem süßlichen Muff der verstrichenen Schminke.

Rechts die eine der andalusischen Zigeunerinnen, links die andere, während der weibliche Musikclown, der »Mlle. Olala« hieß, eben in die Pantalons schlüpfte.

»Na, heer mal, Kleene,« sagte die Andalusierin rechts, die blankschwarze Spucklocke noch mehr nach dem Auge hin drehend, »du scheinst ja jar nich schlecht abjeschnitten zu haben.«

Und die zur Linken fügte hinzu: »Aber das Publikum is 'n Viech. Jloobste, du hast's an der Strippe, denn schnappt es gerade erst zu.«

»Fix, fix, ausziehen!« rief die Garderobiere.

Da kam von hinten her der weibliche Clown, der vorhin auf einer Gießkanne, einem Nudelbrett, einem Regenschirm und schließlich im Zwiegesang mit einer miauenden Katze Musik gemacht hatte und der sich jetzt als eine zartblonde Jungmädchenerscheinung entpuppte, legte die Arme um ihren Hals und sagte leise, als flüsterte er eine Liebeserklärung: »Hals- und Beinbruch, mein Süßes!«

Aber in diesem Augenblick riß ihr die Garderobiere auch schon die Kleider vom Leibe, bis sie zu ihrem Entsetzen splitterfasernackt dastand.

»Weißes, fettes Wachtelchen,« sagte die Andalusierin rechts, sie mit Kennerblicken betrachtend, und die zur Linken fügte hinzu: »Wer wird den Happenpappen zu schlucken kriegen?«

Das zartblonde Jungmädchen aber mit dem neckischen Lockengewirr, das vorhin aus dem Regenschirm das schöne Lied: »Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?« hervorgezaubert hatte, faltete gerührt die Hände und sagte: »So sah meine Lotte auch aus, als sie sechzehn war.«

»Hier, hier, die Druse!« sagte die Garderobiere, Purzelchen ein fleischfarbenes, handbreites Band hinhaltend, das einen dreieckigen Zwischengurt hatte und an seinem Schmalende eine Schnalle trug.

»Was soll ich damit?« fragte sie.

Alle vier lachten sie aus.

Und gleich darauf wurde das Band ihr um die Lenden gelegt und mit ein paar Handgriffen hinten befestigt.

Da klopfte es laut an die Tür, und zugleich rief eine dringende Stimme: »Is bloß der Friseur.«

»Na, denn man 'rin,« sagte die Garderobiere.

Purzelchen schrie hellauf und griff nach dem Hemde, sich vor den Blicken des eintretenden Mannes zu schützen.

»Haben sich man nich,« schalt die Garderobiere, einen Gürtel mit zwei tellerförmigen Ausbuchtungen gemächlich um ihre Brüstchen legend, »der kommt doch extra, um Ihnen anzustreichen.«

»Außerdem, mein verehrtes kleines Fräulein,« sagte der Friseur, der sie vorhin schon geschminkt hatte, ein graulockiger Windikus mit lustig begehrlichen Augen, »Sie sind ja angezogen wie zu einem verflossenen Hofball. Und wenn ich Sie wäre, würde ich mir das Nonnengewand da höflich verbitten.«

Damit wies er auf den gebatikten Lappen – »das Schnupftuch«, wie der Direktor gesagt hatte –, den die Garderobiere ihr hinhielt. Und als er angelegt war, da reichte er noch nicht einmal bis zur Mitte des Oberschenkels herab – ganz abgesehen davon, daß ein Seitenschlitz bei jeder Bewegung das Zuverhüllende bloßlegen mußte.

›Wenn Fritz das sieht!‹ schrie es in ihr, und der Gedanke an Badezimmer und zwanzig blauzüngelnde Flammen, der über all den Aufregungen so lange geschwiegen hatte, stieg als einzige Zuflucht von neuem in ihr empor.

Da war auch schon der Pinsel des Friseurs rücksichtslos über ihr – glitt am Leibe herauf und herunter – leerte sich und wurde wieder gefüllt, und tastete weiter nach jeglicher Stelle, die sich den Blicken des Publikums darbieten sollte. Und dann gar kamen zwei Hände und verrieben das eben Gestrichene, zwei unverschämte Männerhände, die so taten, als müßte es sein.

»Nun rasch noch den Kopf!« sagte der Friseur. »Wo ist die Perücke?«

Eine kohlschwarze Haube mit geringelten Wülsten und Knoten stülpte sich ihr über das Haar. Gleichzeitig fuhren ihr zwei gelbliche Stifte mit klebriger Masse über Wangen und Stirn.

»Jetzt bloß noch die Augen,« sagte der Friseur, statt der gelben Stifte zwei schwarze – oder auch blaue – zur Hand nehmend.

Ritsch – ratsch unterhalb – oberhalb der sich schließenden Lider – nach den Schläfen hin – in drei Sekunden war es geschehen.

»Und nu kucken Se mal in den Spiegel.«

»Das bin ich ja gar nicht!« schrie Purzelchen auf, und die anderen lachten.

Nein, das war sie, weiß Gott, nicht! Ein fremdes, nacktes Weib, gelb wie eine Zitrone, mit fingerlangen Schlitzaugen und einem kohlschwarzen Haarturban schaute ihr verwundert entgegen.

Aber sich zu verwundern war keine Zeit mehr, denn die freche Glocke schrillte schon wieder.

Beim Heraustreten dachte sie: ›Er wird gar nicht wissen, daß ich es bin,‹ aber die Fistelstimme des Ansagers, der weibisch hüpfend auf dem Podium hin und her lief, bewies ihr sogleich, daß sie verraten war.

»Und wenn Sie vorhin, meine Hochverehrten, sich von den Reizen kindlicher Tugend zur Begeisterung hinreißen ließen, so werden Sie jetzt erst erkennen, was diese Tugend zu schenken hat, wenn sie sich schamhaft entkleidet.«

Auch zum Sichängstigen war keine Zeit, denn »Bum, bum, bum« ging draußen die ihr Erscheinen verkündende Pauke.

»Die Rosen!« rief eine Stimme neben ihr.

Weiß Gott, die Rosen hätte sie beinahe vergessen! Weich und kühl legten sich die Blüten in ihren Arm.

›Heut sind sie nicht aus Kattun,‹ dachte sie. Herbert hatte sie ihr gestiftet.

»Bum, bum, bum!«

»Ah,« klang es in leisem Chor aus der Tiefe.

Langsam, langsam! Und die zwei Stufen hoch, die inzwischen gebaut waren.

Sich niedersetzen – aber ganz langsam. So langsam, wie Herr Schischkin es eingeschärft hatte.

Da – als die Rosen im Schoße sich wölbten, klomm aus dem schwarzen Loch – nicht der trikotbekleidete Teufel von früher – ein nackter Mann, rotbraun und glänzend von Fett, mit wildem Haarbusch und wulstigen Muskeln klomm aus der Tiefe.

Das war doch nicht Herbert – ein Fremder war's, ein nackter, wildfremder Kerl, der ihr die Kehle zudrücken kam.

Die Rosen sanken von selber zur Erde – und die Jagd begann – die Jagd auf Leben und Tod.

Fast hätte sie die Takte vergessen – so angstvoll rang sie um Rettung und Freiheit.

Und jetzt packt er sie doch. Vor ihm in die Kniee! Arme hoch! – Anklammern und Abwehr zugleich – pfui, wie schmierig faßt er sich an – und nun das Schwerste von allem: der Ringkampf, der nur eine letzte Verzweiflung sein kann – ein ersterbendes Flattern vor dem lautlosen Ende.

Hochgehoben und dann zur Erde geknallt. – – Beutestück und nichts mehr. Doch ein Beutestück, das noch die Kraft hat, zu kriechen. – Rückwärts – zur untersten Stufe hin. Langsam, langsam, damit er in nichts ahnendem Triumph die Greifklauen über ihr halten kann.

›Fritz, lieber Fritz, – mach' ich es gut? Wenn ich jetzt mit der Linken unmerklich nach hinten taste und die nächste der Rosen ergreife – dann mach' ich es gut – dann mach' ich es gut.‹

Und jetzt der Wurf! So!

›Da zuckst du hoch – du altes Ekel! Zuck du nur hoch – zuck nur zurück! Es kommen mehr! Viel mehr kommen noch! Ich werd' mich genieren! Da kennste mich schlecht!‹

So – und so – und so!

»Bum, bum,« macht die Pauke, genau wie am Anfang. Das hat der Kapellmeister hinzugedichtet. »Bum, bum, bum.« Das bedeutet: die Chose geht jetzt zu Ende.

Und da drückt sich der Kerl auch schon, um in das schwarze Loch hinunterzukriechen.

Die letzten Rosen ihm nachgeschleudert, bis er verschwunden ist.

Und jetzt – und jetzt – jetzt kommt das glückselige Dankgebet.

Augen gen Himmel. Arme gen Himmel – auf die Zehenspitzen empor, so hoch, als könntest du fliegen in den geöffneten Himmel hinein.

›Was? Wo bin ich? – Was wollen die Leute mit ihrem Geschrei? Ach so, das gilt mir? Ach, das ist gut! Dann werden wir engagiert. Danke! Danke! – Ach, Sie sind so lieb zu mir. Ich bedank' mich auch schön.‹

Und plötzlich drängen aus dem dichtgestaffelten Schwarm der klaffenden Münder und der pendelnden Hände zwei Augen sich vor – zwei Augen in starrem, selbstvergessenem Brennen nach ihren Augen hinzielend.

Einstmals – bei Herrn Samuel war's – da brannten sie so.

›Fritz, lieber Fritz!‹

Und wie sie die Arme ausstreckt, geradeaus nach ihm hin – da wollen die Beine mit einem Male nicht mehr – sie brechen wie Glas, man muß in die Kniee – gleichviel ob es sich schickt oder nicht. Und da kniet man nun, beide Hände vor die Augen gedrückt, und denkt nur eins: ›Bloß nicht weinen.‹

Die Leute aber glauben womöglich, das gehöre noch mit zu der Nummer, denn sie rasen wie die Verrückten.

Wenn man nur wüßte, wie man hoch und hier weg kommt!

Aber da ist Gott sei Dank eine Hand, die sie am Unterarm faßt und auf diese Weise emporzieht. Herberts Hand natürlich, der nun als rotbraunes Ungetüm neben ihr steht, aber dabei sich verneigt wie ein Herzog vor seinem Volke.

Alle klatschen – alle klatschen – nur einer nicht. Der steht vornübergekrümmt mit aufgestemmten Armen und starrt und starrt.

›Warum klatscht er nicht? Warum starrt er so?‹

Zwanzig blauzüngelnde Flammen tauchen aus dem Wirbel hervor – und ein Bettzeug zu Füßen der weißgestrichenen Wanne.

Da zieht Herberts Arm sie in den Seitenraum hin – und schiebt sie wieder hervor – und reißt sie von neuem zurück – in nicht endenwollendem Wechsel.

Und dann sitzt sie mit einem Male vor den heizenden Lichtern des Spiegels, wo sie doch schon mehrfach gesessen hat, und die Garderobiere reibt mit irgend einem lauen, glibbrigen Zeug an Hals und Armen herunter.

Die beiden Zigeunerinnen sind verschwunden, und der neckische Lockenkopf ist auch nicht mehr da.

In jedem Augenblick klopft's, und die Garderobiere schreit immer wieder: »Draußen bleiben!«

Bis Purzelchen Hemd und Höschen anhat und in dem Spiegel ein Bildnis erscheint, das mit dem Purzelchen, welches sie kennt, eine gewisse Ähnlichkeit zeigt.

Da plötzlich heißt's vor der Tür: »Der Direktor.«

Die Garderobiere knickt zusammen.

Bei diesem Rufe gibt's kein Sichweigern.

So rasch ihre Pantoffeln sie tragen, schlampt sie zur Tür und schiebt den Riegel zurück.

Der Allgewaltige kugelt herein – ohne die schwarze Zigarre diesmal, und darum ist sein Kopf mitsamt dem Gesichte darin farblos und glatt wie ein Kürbis.

Sie hat die Hände vor den Busen gedrückt und blickt zu ihm auf, vor Scham ganz erstorben.

»Tu man nich so, Kleene,« sagt er, »ick hab' dir doch eben schon nackigter jesehn. Also, wat ihr da verzapft habt, is nu wirklich nich das Richtige fier meinen Laden, aber – wie ick zu deinem Bruder schon eben jesacht hab' – ick wer' mal nich so sein und den Kontrakt gleich unterzeichnen. Nu bist du aber natierlich noch minderjährig, und dein Vater muß es für dich tun. Wat machen wir da?«

»Ich weiß nicht,« sagt Purzelchen, das gar nicht recht hingehört hatte.

»Nu ja – wie sollst du Seigling auch wissen! Wenn dein Bruder sich menschlich jemacht hat, werd'n wir weiter verhandeln.«

Damit wälzt er sich wieder hinaus.

Aber durch die unverschlossene Tür stürmen drei, vier, die längst lauern. Der Rendant, zwei Kellner und eine Barmaid mit Blumen.

Der Rendant will bloß tätscheln, das sieht man. Aber die Kellner legen ein halb Dutzend Karten vor sie hin, und die Barmaid flüstert zwinkernd, sie möge die andern nur abblitzen lassen, der Herr, der sie schicke, sei ein wirklicher Graf, und sie selber wolle sie führen.

Purzelchen läßt die Karten durch ihre Finger gleiten; Fritzens Name auf keiner.

›Wie sollt' es auch?‹ denkt sie. ›So viel Glück gibt es gar nicht auf Erden!‹

Und zu den sie Umdrängenden sagt sie: »Ach bitte, ich möcht' mich gern anziehen.«

Da schiebt die Garderobiere alle hinaus, selbst das Fräulein muß ihren Grafen auf später vertrösten.

Als sie so gut wie fertig ist, klopft es von neuem.

»Ich – Herbert!« meldet sich eine vertraute Stimme.

Der darf natürlich herein.

In tadellosem Dreß, mit blank zurückgestrichener Frisur und schwarzem Schmetterlingsknoten, um die Mundwinkel sein höhnisch-herablassendes Lächeln, tritt er langsam über die Schwelle.

So elegant ist kein anderer, so überlegen weiß keiner seine Umgebung zu meistern wie dieser arme, abgetakelte Leutnant, der bis heut sein Leben als Chauffeur und als Eintänzer zu fristen verdammt war.

Er zieht Purzelchen an sich und küßt sie leis auf die Stirn, dann sagt er: »Der Direktor will, so spät es ist, einen Boten nach Hause schicken, damit Papa für dich unterzeichnet. Aber der Vertrag darf heute noch nicht perfekt werden. Ich hab' meine Gründe. Verstehst du?«

Purzelchen nickt voll Ergebung.

Er aber, mit seinem niederträchtigsten Lächeln, die Zunge zwischen den Backen spazierenführend, zieht ein Blatt aus der Tasche und reicht es ihr hin.

»Ich habe da eine putzige Einladung bekommen,« sagt er. »Von meiner Verflossenen nämlich. Wie die gerad heute hergefunden hat, wissen die Götter. Doch lies du mal selber.«

Und Purzelchen liest: »Wie wär's, Lieber, wenn du hernach meinen Tisch heimsuchtest, an dem ich gerade Entlobung feire, und dein süßes Schwesterchen mitbrächtest, das ein gewisser Jemand mit schlecht verhehlter Sehnsucht erwartet? Ich habe übrigens gar nicht mehr gewußt, daß du so schön bist. Deine untreue Ellinor.«

Woher kommen mit einmal alle die blauen und roten Sterne, die solche komischen Tänze vollführen? Und woher das Singen, das die Lüfte erfüllt?

Und dann ist plötzlich ein Miefen zu hören, genau so wie junge Hunde miefen, wenn sie den warmen Mutterleib suchen.

Das muß aus der eigenen Kehle gekommen sein. Und das nimmt erst ein Ende, wie sie den vor ihr stehenden Bruder mit den beiden Armen umklammert und in seine Weste hineinschluchzt.

Und Herbert ist nett wie immer.

»Ruhig, ruhig, mein Liebling!« spricht er tröstend zu ihr herab. »Es wird sich alles historisch entwickeln.«

Und da ist der Direktor schon wieder.

»Also, Kinder,« sagt er, in jeder Hand einen Bogen schwenkend. »Die Uhr is elfe. Wenn mein Boy sich 'n Auto nimmt, dann kloppen wir den Papa gerade noch 'raus.«

»Wie ich soeben von meiner Schwester höre,« erwidert Herbert, »ist mein Stiefvater heut abend gar nicht zu Hause. Es hat also wenig Zweck. Und ich unterzeichne auch erst, wenn das andere in Ordnung ist.«

»Na, denn also morgen frieh,« gibt jener sich achselzuckend darein. »Und jetzt kommt mal hibsch an'n Kinstlertisch.«

»Warum Künstlertisch?« fragt ihn Herbert.

»Das ist Bedingung,« erwidert er, auf den Bogen hinweisend. »Das steht hier in Paragraph sechzehn … Hinterher wird nich etwa jetirmt … Mein Lokal is 'ne heilige Sache. Det is wie so'n Dom … Ja … Rings um die Kuppel da steht jeschrieben: ›Kindlein, liebet eich untereinander.‹ Na, und in diesem Sinne wird denn auch fleißig – jekuppelt … Hä, hä, hä … In allen Ehren versteht sich. Aber Betrieb muß sind. Und dazu habt ihr zu helfen.«

»Das kenn' ich ja alles aus meiner früheren Praxis,« sagt Herbert. »Wir sind aber an einen anderen Tisch geladen.«

Der Direktor tritt respektvoll zwei Schritt zurück und erwidert: »Oh, det is denn janz wat anderscht. Wejen den Konnex mit's Publikum is die Verordnung ja da. Also morjen vormittag.«

Damit trollt er sich lachend.

»Nun komm,« sagt Herbert und legt Purzelchens Arm in den seinen.

Ihr ist's, als ging's aufs Schafott, und sie ist doch voll Glück und voll Jubel.

Vier Stufen hinunter. Scheinwerferlicht wie vorhin. Und mitten im Saale mit »Hopp« und »Olé« die beiden Andalusierinnen, sich ineinander verknäulend.

An den Gaffenden ungesehen vorbei – nach jenem Platz hin, von dem her vorhin zwei Augen ihr entgegengebrannt haben.

Und da schießt er auch schon in die Höhe.

Eine Hand streckt sich aus, die sie mit ihren beiden umklammert. Sie spricht nicht. Sie schaut ihn nicht an. Nur festhalten tut sie ihn. Mag zusehen, wer will.

Aber es sieht ja noch keiner einmal. Denn Herbert und Fräulein Ellinor Schmitz sind genau so miteinander beschäftigt.

Erst als ringsum ein paar unwillige Stimmen »Hinsetzen!« rufen, bemerken sie beide, daß sie ihren Nachbarn die Aussicht verderben. Außerdem: wer extra aus Andalusien kommt, hat ein Recht auf die Rücksicht einer guten Kollegin.

Ein Stuhl schiebt sich hinter Purzelchens Kniekehlen, und nun sitzt sie da, und Fräulein Ellinor Schmitz spricht huldvoll zu ihr herüber: »Hätte ich damals gewußt, Fräulein Annemarie, daß eine solche Künstlerin bei mir war, Sie hätten mir gleich etwas vortanzen müssen.«

Purzelchen lächelt beglückt. Geradezu verliebt ist sie in sie und hat sie doch sonst für eine Canaille gehalten.

Dann stellt Fräulein Ellinor Schmitz die Herren einander vor – und zwar mit folgenden Worten: »Herr Herbert Hartung, mein früherer Verlobter – Herr Fritz von Nadolny, mein früherer Verlobter.«

Beide stutzen und sehen einander mißtrauisch an. Herbert ist der erste, der die Fassung wiedergewinnt. Und er schüttelt Fritzens Hand so überzeugungstreu, als gälte es die Freundschaft langer Jahre neu zu befestigen.

Purzelchen hat nur gehört, daß sie nun auch Fritz ihren früheren Verlobten genannt hat. Jetzt wird ihr klar, was das unverständliche Wort bedeutete, das auf dem Blatte zu lesen gewesen.

›O Gott,‹ denkt sie, ›wenn er nun frei ist – –.‹

Aber mit einem Male steigt Gudruns Bild vor ihr auf, die zu ihm geht und die seine Schlüssel mit sich herumträgt. Und Gudrun ist ja so klug, die hat sicherlich auch die Verlobung zuschanden gemacht, um ihn für sich zu gewinnen.

Da sind die zwanzig blauen Flammen schon wieder – jetzt erst recht sind sie da – und das Bettzeug ist da zu Füßen der Wanne.

Doch wie sie gerade von neuem wieder verzagen will, da schlägt ganz leise, nur für sie selber verständlich, der Name »Purzelchen« an ihr Ohr. Sie rührt sich nicht, sie macht nur die Augen zu und denkt: Wenn er »Purzelchen« sagt, dann kann es so schlimm nicht sein. Dann wird vielleicht alles noch gut.

Sekt wird ihr eingegossen. Essen wird für sie bestellt. Sie sieht und hört – und sieht und hört doch nichts.

Sie denkt nur das eine: ›Purzelchen hat er gesagt.‹

Inzwischen ist man an den umliegenden Tischen auf sie aufmerksam geworden. Zärtliche Blicke fliegen ihr zu, Ellbogenstöße pflanzen sich fort. Dieser und jener steht auf, um sie besser betrachten zu können. Schon drängen sich Neugierige her, die ganz woanders gesessen haben. Dasselbe Theater wie damals nach ihrem ersten ahnungslosen Flug in die Tanzwelt.

Da rafft sie sich auf und sagt zu den andern: »Ich hab' große Furcht, es wird sehr ungemütlich hier werden.«

Aber Ellinor meint: »Im Gegenteil, mein kleines Fräulein. Ich möchte mich auch einmal in Berühmtheit sonnen, wenn es auch die einer anderen ist.«

Und damit wendet sie sich zu Herbert zurück, mit dem sie unendlich viel zu besprechen hat. Fritz schenkt sie kaum einen Blick, aber bös ist sie ihm nicht, im Gegenteil, sie hat ihn vorhin sogar gebeten, die Speisen für sie zu wählen, und lachend dazu gemeint: »Du kennst ja meinen Geschmack.«

Purzelchen denkt: ›Wenn er doch reden möchte zu mir.‹

Aber er sitzt da und starrt in das Sektglas.

Und sie fühlt, wie das Atmen ihr immer schwerer und schwerer wird.

Ob es die Nacktheit ist von vorhin, die ihm die Rede verschlägt, oder noch immer der Groll von dazumal her, als sie beim Doktor so frech zu ihm sprach? Oder gar das, was Gudrun in Liebe ihm antat?

Gudrun, Gudrun! Das mit Gudrun ist von allem das schlimmste.

Und weil sie den Jammer dieses Gedankens nicht länger ertragen kann, faßt sie sich endlich ein Herz und sagt: »Gudrun hab' ich von heut nichts erzählt. Tut's dir sehr leid, daß sie nicht da ist?«

Erst sieht er sie an, als hab' er sie gar nicht verstanden, dann fragt er verwundert: »Warum soll mir das leid tun?«

»Nun – weil sie – weil sie – jetzt doch immer zu dir kommt – an meiner – an meiner Stelle. Ja.«

»Gewiß ist sie zu mir gekommen. – Aber an deiner Stelle? Das, Purzelchen, nein.«

»Nun – sie hat doch – die – Schlüssel.«

»Ja, die hat sie. Die ließ ich ihr, weil sie mich darum bat, und ich hatte sie auch gerne bei mir, denn ich konnte – nie – genug von dir hören.«

Wie er das sagte, da versanken für immer die zwanzig blauzüngelnden Flammen mitsamt dem Bettzeug am Boden – und aller Kummer versank – und nichts war mehr da als Glück und Hoffnung und Liebe.

›Wenn ich bloß nicht wieder losheule,‹ denkt sie.

Da kam zur rechten Zeit das Wiener Backhuhn, das Fritz vorhin für sie ausgesucht hatte, weil auch ihr Geschmack ihm nicht ganz unbekannt war.

Und sie entdeckte plötzlich, daß sie wieder einmal einen Mordshunger hatte.

Die Leute ringsum mochten gaffen, soviel sie nur wollten, und mit Kügelchen nach ihr schmeißen, sie schüttelte sich kaum einmal, wenn eins der Geschosse sie traf, und aß alles auf bis auf das kahle Gebein.

Aber den Sekt mochte sie nicht. Denn es war viel zu schön so, um sich einen heißen Kopf anzuschaffen. Hätte sie nur Fräulein Ellinor Schmitz nicht zum Trinken verleitet!

»Vielleicht würde ich auch so was können wie Sie, kleines Fräulein,« sagte sie, mit ihr anstoßend, »ich brächte sogar als Mitgift die bessere Linie mit. Doch, wie ich Ihnen wohl damals schon klagte, leide ich öfters an Kreuzschmerzen, und das macht das Trainieren so lästig. Was meinst du, Herbert, würdest du es wagen mit mir?«

»Denke nicht dran,« erwiderte er. »Erstens hast du es nicht nötig, und zweitens bist du faul wie die Pest.«

Fräulein Ellinor lachte ein schmelzendes Lachen.

»Nein, wie lieb,« rief sie, »wieder einmal deine kleinen, süßen Unverschämtheiten zu hören! Fritz war ja auch immer sehr lieb – dein Wohl, lieber Fritz! – aber, sei aufrichtig, diese Desinvoltüre hast du nie.«

Und dann, sich zu Herbert zurückwendend: »Findest du nicht, mein Freund, daß in uns viel Verwandtes steckt? Urgeschwistertum, möcht' ich fast sagen. Irre ich mich, oder hast du nicht auch den vampirischen Trieb, das Leben – zu leben?«

Und da war die S-förmige Kurve wieder, die Purzelchen von jenem Besuche her wohl in Erinnerung hatte.

Sie schielte nach links, um zu erkunden, was Fritz zu diesem Geplänkel sagte, und ertappte ihn gerade über einem Seufzer, wie nur der ihn tut, der ganze Berge von seiner Seele wälzt.

Als alle satt geworden, ergab sich, daß jetzt Fräulein Ellinor Schmitz es war, die nach Weggehen verlangte.

»Ich habe gar nicht gewußt, daß selbst der Ruhm so lästig sein kann,« sagte sie, sich ein paar Papierschlangen aus dem lichtblonden Wellenhaar lösend, denn auch sie wurde mit Auszeichnungen reichlich bedacht. »Überdies schätze ich die resultatlosen Flirts nur wenig. Etwa du, lieber Herbert?«

»Gerade hierin, glaube ich, hat sich unser Urgeschwistertum schon einmal entfaltet,« erwiderte er.

Fräulein Ellinor lachte heftig und sagte über den Tisch hin: »Zahl für uns alle, Fritz, wir rechnen dann ab.«

Aber Herbert wollte hiervon nichts wissen. »So weit sind wir noch nicht, Kindchen,« sagte er mit seinem herablassendsten Lächeln. »Der Schmitzsche Mammon darf seine Reize erst später entfalten.«

Und er bezahlte für sich und die Schwester. –

»Hierbleiben. Hurra! Hierbleiben,« erklang's von den Tischen weit und breit, als sie der Türe zuschritten, aber sie nickten nur fröhlich und machten, daß sie davonkamen. – –

Draußen suppte der Nebel – der richtige Berliner Novembernebel, rußig und klamm, in dem man, ohne den Schnupfen zu kriegen, nicht lange umherwandern kann.

Und sie beide hatten sich doch so viel zu erzählen.

Dazu kam noch das Unglück, daß das andere Paar, das noch eben in ziemlicher Nähe vor ihnen herging, plötzlich verschwunden war. Vom Nebel verschluckt wie der über Bord Gefallene von einem Haifisch.

Fritz hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, und sie rieb die Backe bisweilen an seinem feuchten Überzieher, nur um noch etwas mehr von ihm zu haben.

Von der Gedächtniskirche her schlug es jetzt eins.

»Wie lange hast du Zeit?« fragte er, und es war ein eigentümliches Schwirren in seiner Stimme.

Zum erstenmal dachte sie wieder ans Waldhorn.

›Die liebe Waldhornstimme,‹ dachte sie, aber das Schwingen und Schwirren darin ließ einen kleinen Schauer über sie hergehen.

»Eigentlich, so lange ich will,« antwortete sie. »Ich schlaf' ja jetzt vorne.«

Und dabei zitterte ihre Stimme, ganz ähnlich, wie die seine getan hatte.

»Hier unten können wir uns nicht ewig 'rumtreiben,« fuhr er fort. »Und ins Café hast du wohl auch nicht viel Lust.«

»Pfui!« rief sie voll Überzeugung.

Nun sagte er eine Weile nichts – und hierauf leise und stockend: »Möchtest du – dann – noch zu mir – 'raufkommen?«

Ganz feierlich wurde ihr da zumute.

»Gern, Fritz,« antwortete sie. »Wenn du mich willst.«

»Ja – ich – will – dich,« erwiderte er. Und das klang noch viel feierlicher, als ihr eben zumute gewesen war.

So hatte sie's eigentlich nicht gemeint, aber da er's so auffaßte, wurde alles noch tausendmal schöner.

Und dann gingen sie schweigend bis vor sein Haus und schweigend die Treppen hinan.


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