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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Herr Schischkin vom russischen Hofballett

Am nächsten Morgen war der große Augenblick gekommen, da Purzelchen dem Stiefbruder von der Umkehr ihres Schicksals Mitteilung machen durfte.

»War auch Zeit,« lachte er. »Und nun tret' ich an die Tête.«

Endlich sollte sie erfahren, was Herbert mit ihr im Schilde führte. Er las ihr die Neugier von den bittenden Augen ab.

»Sehr einfach, Kleines,« sagte er. »Nach unseren einstigen Übungen hättest du es selber erraten können. Wir machen eine neue Firma auf. Ein berühmtes Tanzpaar werden wir werden, nach dem die Direktoren sich reißen.«

Purzelchen erschrak so sehr, daß sie glaubte, zu Boden fallen zu müssen. Ob vor Freude oder vor Angst, hätte sie nicht zu sagen gewußt. Mit der Gewißheit, tausend verschwiegene Träume sich erfüllen zu sehen, kam zugleich das Bewußtsein, einer so schweren Aufgabe nie und nimmer gewachsen zu sein. Und aus dem Wirbel all dieser Gefühle stieg die bange Frage empor: »Was würde Fritz dazu sagen?«

Doch als sie sich dessen erinnerte, wie man sie damals nach dem Stegreiftanz in der Mondscheinbar umringt und umjubelt hatte, konnte sie sich sogleich die Antwort geben: ›Sich freuen würde er nur. Stolz sein müßt' er auf mich.‹

Das gab auf der Stelle den Ausschlag.

Sie wehrte sich nicht im geringsten, sondern fragte bloß: »Und die Eltern?«

»Da du nicht mündig bist,« erwiderte er, »so müssen sie natürlich ihre förmliche Einwilligung geben. Aber darum kümmere dich nicht. Das werde ich schon besorgen. Und wenn ich ihnen auseinandersetze, wieviel wir dabei verdienen können, und dergleichen noch mehr, dann werden sie bald Ja gesagt haben. Was in Wahrheit dabei 'rauskommt, können wir jetzt noch nicht wissen, vor allen Dingen, ob du dich gelehrig erweist.«

»Ich denk', ich hab' schon alles gelernt,« meinte Purzelchen zaghaft.

Aber der Bruder lachte sie aus.

»Hast du 'ne Ahnung!« sagte er. »Selbst für die üblichen Gesellschaftstänze müßten wir noch trainieren wie die Verrückten. Aber ich will höher mit uns hinaus. In Phantasietänzen müssen wir uns produzieren, die extra für dich erfunden sind. Denn du darfst eins nicht vergessen: dir fehlt – die Linie. Wenn du dich inzwischen auch etwas gestreckt hast, ein kleines Purzelchen bist du noch immer. Und dieses Malheur zu einem Vorzug zu machen, das können wir nur im Phantasietanz erreichen.«

»Das ist wohl, wenn man im Kostüm auftritt?« fragte sie.

Der Bruder versteckte ein Lächeln.

»Für solch eine Phantasienummer«, fuhr er fort, ohne ihrer Frage Beachtung zu schenken, »– es müssen sogar ihrer zweie sein – reicht auch mein Können nicht aus. Dazu brauchen wir einen Fachmann. Hätt' ich die Moneten, dann würd' ich mich an Blanvalet oder an Nigrel wenden. Aber so viel hab' ich mir nicht erspart – weder beim Doktor, dem ich heute gleich den Stuhl vor die Tür setzen werde, noch auch bei der Eintänzerei. Dagegen, wie du weißt, kenn' ich von früher her einen Ballettmeister, den ich zwar auch nicht bezahlen kann, der sich aber auf künftige Teilung einlassen wird, wenn er sich von uns was Gutes verspricht. Bei dem werd' ich gleich mal anfragen.«

Damit ging er in den Hausflur, wo das Telephon angebracht war, und blieb eine ziemliche Weile.

Dann kam er zurück und sagte: »Zieh dich fix an. Er will sehen, was wir können.«

Eine Viertelstunde später gingen sie los.

Als sie in die Elektrische stiegen, zog Herbert eine Grimasse. Er, der sonst einen vornehmen Wagen lenkte, konnte sich an dies plebejische Fahrzeug schwer wieder gewöhnen. Aber gespart mußte ja werden. –

Ein Mietshaus wie andere in dem verpöbelten Teile des Westens.

Drei kahle Treppen empor.

 

Schischkin, Tanzlehrer

 

stand auf dem porzellanenen Schilde zu lesen.

Durch einen finstern, verräucherten Korridor in ein teppichloses, fast gänzlich ausgeräumtes Zimmer. Nur an den Wänden Stuhl an Stuhl. Ein Spiegel dazwischen. In den Fensterecken links ein zerkratztes Piano und rechts ein eichener Grammophonschrank.

Das alles war wenig vertrauenerweckend.

Die Tür zum Nebenzimmer sprang auf.

Ein mittelgroßer, jungenhaft schlanker Herr trat ein, dessen ergrauender Spitzbart in seltsamem Gegensatz zu seinen federnden Bewegungen stand. Weiche, blaue, schwarzumschattete Augen saßen in dem zartgeschnittenen Gesicht, das man eher noch mädchenhaft als jungenhaft hätte nennen können.

Und eine Mädchenhand schien es, die sich nach Purzelchen ausstreckte, in der ein unbegrenztes Vertrauen plötzlich erblühte.

»Siend langee niecht bei mirr gewessen,« sagte er mit milder, ein wenig klagender Stimme, zu Herbert gewandt. »Glaubte schonn, tanzenn niecht merr.«

Dann umfaßte er Purzelchens Gestalt mit nachdenklich abschätzenden Blicken, indem er mit seinen sich wölbenden Armen gleichsam einen Rahmen rings um sie erbaute.

Unwillkürlich kroch sie in sich zusammen und kreuzte die Arme schützend über der Brust.

»Bleibenn so! Bleibenn so!« rief der Tanzmeister in Überraschung aufleuchtend, und als er sie mit Augen und Händen von neuem umrahmt hatte, fuhr er fort: »Chapp schon! Chapp schon! Sett, liebe Kinderr, das iest kinstlerische Intuition. Ihr ich chapp verdankt am kaiserlichen Ballett zu Petrograd meine grössten Erfolgee. Aals ich noch niecht war armerr Emigrant und Hungerbrott essene.«

Auch Herbert betrachtete Herr Schischkin mit wachsender Freude und zog dabei hellseherische Kreise durch die Luft, aber dann kehrte er wieder zur Wirklichkeit zurück.

»Jetzt werrde scheenen Tango andrehenn, und hierauf bitee Kesellschaftstanz! Chanz einfach Kesellschaftstanz.«

Purzelchen, das die vorherige Scham gänzlich vergessen hatte, machte, von Herbert geführt, die landläufigen Tangofiguren und noch ein paar andere, die er während früheren Übens hinzugefügt hatte.

»Gutt, gutt, gutt,« rief Herr Schischkin. » Les doubles ciseaux! Promenade à reculons! Gutt, gutt, gutt! Und jetzt, liebee Kinderr, zeigt mirr eire höcheren Kinste.«

Purzelchens Herz fing schärfer zu pochen an.

Wird es gehen? Wird es nicht gehen?

Da fühlte sie sich auch schon in die Lüfte gehoben und hörte in sich das selige Jauchzen, das sie stets überkam, wenn die Erdenschwere sich löste.

»Gutt, gutt, gutt!« hörte sie von ganz fernher Herrn Schischkins Stimme.

Sie glitt aus Herberts Armen hernieder, sie stieg in ihnen wieder empor, sie wirbelte im Kreise um den Pfeiler seines Leibes herum, getragen von einem zischenden Sturmwind.

Und schließlich stand sie wippend auf seinen ausgebreiteten Händen und schrie vor Vergnügen.

»Gutt, gutt, gutt!« sagte Herr Schischkin. »Odder vielmehr niecht gutt. Spring cherunter, Kleinee! Akrobaten siend wir hier niecht.«

Herbert pfiff durch die hohl geründeten Lippen, um seine Atemnot zu verdecken, und der Tanzmeister gab in folgender Weise seine Kritik: »Dieses, was ihr chabt gemacht, liebe Kinderr, iest also der natierliche Kunsttanz oder der kinstliche Naturtanz oder, wie ich nenne: der Dilettantisme als Offenbarrung. Was die kleinen Tanzmädchenn und messieurs les officiers d'autrefois auf Biehne so machenn. Und nu wir werrden aberr Kuhnst draus machenn. Wier werrden nennen das erste Bield: die Keischheit. Das iest mal was anderes … Keischheit in Tanzpalais, das ist mal gaanz was anders. Und Sie, eddler, junker Mann, Sie werrden sie zu verfiehren verresuchen. Aberr Sie werrden sie vergebbens zu verfiehren verresuchen. Das ist das Neie. Das iest in unserer geggenwärtigen Zeit noch gaar nicht dagewesen … So! Was ich werrde dir vormachen, das wierst du nachmachen, Kleinee.«

In demselben Augenblick verwandelte sich Herr Schischkin in ein ängstlich lächelndes Halbkind, das mit scheuem Seitenblick und halb einwärts gesetzten Füßen zögernd dahergeschlichen kam und, als traue es seinen Augen nicht, staunend Umschau hielt.

»Wo bien ich? sackst du dir, Kleinee. Und wo iest meinee liebe Mama? Bin iech etwa in Tanzpalais? Waas chucken die beesen Leite mich alle so aan? Und were iest der Kavalier, der scheene, was auf mier zukommt? Abberr der iest doch so li – ieb? Und nu Tanz! Kenau wie ich werrde machen. Wierd nich kenau – aber schadt nich. Trü – tü, tü, tü. Un, deux, trois. Trü – tü, tü, tü, un, deux, trois. Musike drenn wir kleich aan. Chanz blu – menn – zarrt. Trü, tü, tü, tü. So, Kleinee, das mach nu mal naach.«

Damit lief er zum Grammophon und ließ die Kurbel schnurren.

Purzelchen fühlte, daß von diesem Augenblick alles Künftige abhing. Aber Angst spürte sie nicht mehr. Im Gegenteil. Als die Musik wieder zu quäken begann, versank plötzlich Herr Schischkin – und Herbert versank – und statt des kahlen, in Novemberschatten verdämmernden Zimmers lag vor ihr ein grellrot und golden erstrahlender Saal, gefüllt mit hemdbrüstigen Männern und nacktarmigen Frauen. Und da war auch plötzlich wieder die Angst. Aber eine ganz andere Angst. Die Angst, die das Mädchen empfand, das sie darstellen sollte.

Und so schlich sie daher und wollte auf und davon, sie wußte nur nicht, wohin, bis mit einmal in Herbert Bewegung kam.

Mit wiegenden Schwebeschritten glitt er auf sie zu, und dann tanzten sie beide umeinander herum, sie fliehend, er werbend, als hätten sie's seit langem gelernt.

Bis Herr Schischkin in heller Begeisterung ausrief: »Gutt, gutt, gutt! Das kann glicken, das kann werrden Affäre von importance. Da iech hineinspringge, ohne mir machen Gedankenn. Morgen um zenn wir werrden beginnen. Sechs Wochen, vielleicht vier Wochen. Dann wir werrden sein fertik.«

So war nun die Entscheidung gefallen, und Purzelchen durfte zuhören, wie Herr Schischkin die Bedingungen mit Herbert vereinbarte. Statt eines Honorars würden ihm für gewisse Zeit Prozente der Gage zufallen, die die Geschwister verdienten. Dafür sollte er auch die Kosten des Musikers tragen, dem die Aufgabe zufiel, die Partitur zusammenzustellen und die Übungen auf dem Klavier zu begleiten.

Nachdem dies schriftlich festgelegt war, durften sie heimgehen.

Aber noch wußten die Eltern von gar nichts, und ob sie ihr die Erlaubnis geben würden, schien Purzelchen mindestens fraglich.

»Hast du nicht einen Freund, mit dem du eine Stunde spazierengehen kannst?« fragte Herbert.

Sie wollte wissen, weswegen.

»Damit er dir die Zeit vertreibt, bis ich den Alten die Sache klargemacht habe.«

Einen Augenblick schwankte sie, ob sie ihn nicht bei dieser Gelegenheit in die Geschichte mit Fritz einweihen solle, aber schließlich entschied sie sich klüglich fürs Schweigen und trennte sich von ihm, um den Tiergarten mutterseelenallein zu durchstreifen.

Das war eine seltsame Stunde voll glückseligen Hochschwungs und lebenumspannender Pläne!

Immer sicherer erschien es ihr, daß ihre Kunst das einzige Mittel war, um Fritz zurückzugewinnen. Der Himmel hatte sie ihr extra zu diesem Zwecke geschenkt, und mochte er ihr noch so böse sein, – wenn er mit seinen eignen staunenden Augen erkannte, was Herbert einstmals von ihr gesagt hatte, daß sie ein kleines Tanzgenie sei, was konnte er anders, als reuig zu ihr zurückkehren? – –

Als sie die Wohnung betrat, ersah sie sofort, daß Herbert ganze Arbeit gemacht hatte.

Mama stand wartend bereits an der Tür und schloß sie gerührt an ihren prallgeschnürten Busen, und der gute Papa ging schweigend und leuchtenden Auges um sie herum, als hätte sie bereits der Wunder höchstes vollbracht.

Nur Gudrun schien wenig erbaut, und als sie später mit ihr allein war, fing sie heftig zu schelten an.

»Noch eben hab' ich dich mit allen meinen Kräften 'rausgehauen, und jetzt hast du nicht einmal so viel Vertrauen zu mir, um mit mir zu besprechen, was vorgeht? Bist du ein undankbares kleines Biest oder nicht?«

Purzelchen aber verbockte sich. »Päh,« sagte sie und zuckte die Achseln.

»Was heißt ›päh‹?« fragte die Schwester.

Da quollen Groll und Angst in ihr über.

»Das heißt,« erwiderte sie, »daß du es natürlich bei eurem nächsten Zusammensein Fritz hinterbringen wirst und daß ich dadurch in seiner Achtung womöglich noch weiteren Schaden erleide, denn erst muß ich doch was geleistet haben, eh' er's erfahren darf.«

Gudrun kniff die Augen zu einem nachdenksamen Spalte zusammen.

»Erstens«, sagte sie, »weiß ich noch gar nicht, ob oder wann überhaupt ich mit ihm zusammensein werde. Und zweitens brauchst du nur zu befehlen. Soll ich ihm vielleicht auch verheimlichen, daß du mit Herrn Gerberding Schluß gemacht hast?«

Statt der Antwort umklammerte Purzelchen Gudruns Hals.

»Ach, Gudrun, Gudrun!« klagte sie. »Wenn du es doch aufrichtig meintest!«

Die Schwester zuckte die Achseln. »Was ich tun kann,« sagte sie, »geschieht nach deinem Wunsch und zu deinem Besten. Ist dir das noch nicht genug?«

Hiegegen gab es kein Widersprechen, und wie immer fühlte Purzelchen sich von der Schwester bezwungen. – –


Am nächsten Morgen hatte Herr Schischkin seine Pläne geändert.

»Ah, ah, ah, liebee Kinderr,« klagte er, »Keischheit niecht iest das Riktige. Keischheit nix iest für heitige Zeit. Keischheit iest eine Beleidikkung für aale, welche Keischheit niecht mehr besietzen. Wir missen wellen aanderen Wek. Natierlich Sie kennen beriehmtes Tableau, welkes iest genannt: › La crûche cassée‹. Das hier iest« – und er wies auf Purzelchen hin – » la crûche entière … Wie daraus wierd eine crûche cassée, das soll unsriger Tanz jetzt erzällen.«

Mit hüpfenden Schritten holte er einen irdenen Krug, der auf dem Grammophonschrank bereit stand, und legte ihn in Purzelchens Arme.

»Viel Geschirr wird kostenn. Jedden Tak eine Fayence. Abber tut nix. Augen von Mäddelchen aales werden zauberrn wieder gaanz.«

Herbert lachte belustigt in sich hinein, und dann konnte die Lehrstunde beginnen. – – –

Manche andere folgte. An jedem Tag war es das gleiche, aber jeder Tag brachte Neues und Förderndes.

Nicht immer erklang das mutmachende »Gutt, gutt, gutt«. Auch jammernder Tadel mischte sich drein und zweifelnde Klagen über Vergeßlichkeit und Verwirrung.

Aber schließlich gedieh alles aufs beste. –

Die übrige Zeit des Tages lief Purzelchen herum wie im Traume. Ihr ganzes Wesen ging auf in dem weltbewegenden Werke, das zu vollbringen war.

Doch – ob einschlafend oder erwachend, ob in Arbeit oder im Ausruhen – niemals verließ sie der Gedanke: ›Was wird Fritz dazu sagen?‹

Darüber, daß Gudrun noch immer keine Botschaft von ihm brachte, grämte sie sich nicht mehr so sehr; das Große würde schon kommen, durch das sich alles zum Besten wandte. – – –

Herr Schischkin hatte recht gehabt: jeden Tag wurde ein Topf zerbrochen. Der kostete mindestens eine Mark fünfzig. Aber Herr Schischkin ließ nicht mit sich handeln.

»Dieses iest der Zenit,« sagte er. »Wenn crûche nicht iest cassée, kann Fantaisie nicht mer folgenn. Ibrigens chabbe Vorrat gekauft. Par douzaine Unglick iest wenniger groß. Ganz wie im Lebben.«

Etliche Schwierigkeiten machte der Schluß. Das Gegebene wäre gewesen, die Scherben zu sammeln – auch wegen der Säuberung des Parketts höchst empfehlenswert – und dann sitzen zu bleiben. Aber wie kam man zum Saale hinaus? Besonders, da der alles verschuldende Partner schon vorher das Feld geräumt haben mußte.

Da fand Purzelchen selber die Lösung. Unwissentlich freilich. Aber darauf kam es nicht an.

Als sie während eines bestimmten Augenblicks, den zerbrochenen Henkelkrug am Arme, in ratloser Frage dastand, wie das Problem wohl zu lösen sei, stieß der Tanzmeister plötzlich einen Freudenruf aus.

» Mais voilà le tableau! Le tableau lui-même. Das iest wie eine vision. Jeddermann sieht. Jeddermann kennt. Jeddermann iest entzickt … Ganz immobil stenn bleibenn, bies aalgemeineer Jubell sackt: ›So iest gutt.‹«

»Und wenn der Jubel ausbleibt?« warf Herbert skeptisch dazwischen.

»Bleibt nicht aus! Bleibt nicht aus! Freilich, wir brauchenn Bihne dazu. Jeddermann muß chabben gleichen Aspekt.«

»Wo nehmen wir aber die Bühne her in der Tanzbar? Da gibt's gar keine Bühne.«

»Gibt! Gibt! Gibt! Viele Mal chabbe selber getanzt, wo war ehemalik Theater. Auf Bihne jetzt sietzt Orchester. Und wenn Plaatz zu klein, wird Podium vorkestellt.«

Und er nannte als Beispiel die Elysiumbar und die Capuabar und die Bar zum wiedergewonnenen Paradiese.

Dieser Sachkenntnis gegenüber mußte Herbert sich als geschlagen erklären, und er widerstand umso weniger, als Herr Schischkin erklärte: »Bihne wir brauchen auch zu zweite Stick, was ich chabbe für eich. Ohne Bihne unmeklich. Und nu wir genn an das zweite Stick.«

»Also?« fragte Herbert und setzte sich horchend zurecht.

Und Purzelchen dachte: ›Wenn es nur Fritz gefällt.‹

Was Herr Schischkin sich ausgedacht hatte, war eine freie Umdichtung der letzten Szene aus dem zweiten Teile des »Faust«, der Szene, in der Mephistopheles und die anderen Teufel vergeblich gegen die rosenstreuenden Engel anzukämpfen versuchen.

»Foßt von den grossen Gette – vous savez?«

Sie, die von deutscher Schulbildung Gesättigten, erinnerten sich des Auftritts nicht, er aber, der Russe, der Tanzmann, er wußte genau.

Der Teufel kriecht aus dem Souffleurkasten – oder vielmehr aus dem verdeckten Loche, das davon noch übriggeblieben – und versucht freventlich zu dem Sitz der Himmlischen emporzudringen. Aber vor der Himmelspforte hält ein Engelchen Wache, das sich gerade einen Rosenkranz windet. Zuerst ist es von Schrecken erstarrt, dann aber unternimmt es, ihm den Eintritt zu wehren. Er will es lachend ergreifen, es flüchtet, es jammert, es fleht. Vergebens. Er kriegt es zu packen und will es hinab in seine Unterwelt schleppen. Da – in höchster Not gedenkt es der Rosen, die es beim Anblick des Eindringlings von sich getan hatte. Es benutzt sie als Waffe, und siehe da, es bezwingt ihn. Wenn eine Blüte den Unhold trifft, zuckt er in Qualen auf, windet sich, bittet um Gnade und tritt schließlich den Rückzug zur Hölle an, der er entkrochen war. Die kleine Siegerin aber schickt, die Rosen triumphierend erhoben, ein inbrünstiges Dankgebet zu Gottes Throne empor.

Herbert äußerte seine Bedenken. Ob das blutige Anfängertum seiner Schwester der Aufgabe gewachsen sein würde, daran ließe sich zweifeln.

Herr Schischkin lachte ihn aus.

»Dieses Anfänkertum iest ja, was die Leit wird machen verrückt. Weibspersonen dans toutes les espèces de raffinement kennt sich Welt zur Keniege. Et beau physique chat gesenn jedenn Abend. Was hier stett, hat niecht gesenn.«

So wurde also mit dem Probieren auch dieser Nummer begonnen. Und zum freudigen Erstaunen der beiden Herren machte Purzelchen seine Sache vortrefflich. Sie bekam als Engelsgewand bis auf weiteres ein Nachthemd des Herrn Schischkin, das durch den Gürtel gekürzt wurde, und wenn auch ein hochschlanker Cherub als Himmelswächter eher am Platze gewesen wäre, so wirkte sie doch – das sagten ihr beide – zum Anbeißen lieb und holdselig.

Wenn dann gar noch die Flügelchen angebracht waren!

Auch auf sich selber konnte Herbert wohlberechtigte Hoffnungen setzen. In seinem schwarzen Seidentrikot war er einem schönen Luzifer gleich, wie Purzelchen ihn einst im Theater gesehen hatte. Und was das Tänzerische betraf, so vollführte er das, was ihm oblag, mit einer Selbstverständlichkeit, als wären Mimik und Tanzkunst ihm schon immer Lebensinhalt gewesen.

Bis dahin hatte das Grammophon, bald in diesem, bald in jenem Takte, seines Amts gewaltet. Eines Tages aber fand Purzelchen vor dem Klavier einen sehr blonden, sehr langen, sehr schmalen jungen Mann, der ihr aus hohlem Gesicht mit großen, weißwimprigen Augen hungrig entgegensah.

Herr Weinkauf hieß er, wie sich beim Vorstellen ergab, hatte bis vor kurzem irgend ein Konservatorium besucht und verdiente sich sein Abendbrot an allen den Abenden, in denen er in einem Halenseer Café aushilfsweise die Geige spielte.

Bemerkenswert an ihm waren die ausgefransten und ausgeweiteten Knopflöcher, die man, als wären sie drei weitere weißwimprige Augen, dauernd auf sich gerichtet sah.

Während des Tanzes, dem jetzt zum letztenmal das Grammophon seinen Segen gab, machte er sich eifrig Notizen, und schon bei der ersten Wiederholung begleitete er so klar und so schmiegsam, daß einem die Flügel gleichsam von selber wuchsen.

Am nächsten Morgen brachte er für die » Crûche cassée« bereits ein Notenheft mit, und bald darauf war auch der Engelskampf von ihm vertont.

Selbst das Ausschreiben der Stimmen für kleines Orchester sollte er im voraus besorgen. Als Herr Schischkin ihm diesen Auftrag erteilte, nickte er in trauriger Ergebung drei-, viermal vor sich nieder, als wollte er sagen: ›Wenn es nur was dabei zu essen gäbe,‹ so daß Purzelchen sich am nächsten Morgen entschloß, ihm ein Pfund Pralinees mitzubringen, die sie zu diesem Zwecke im Laden stibitzt hatte.

Aber ebenso traurig und ergebungsvoll lehnte er ab.

»Ich habe leider einen sehr schwachen Magen,« sagte er. »Schokolade vertrag' ich schon lange nicht mehr.«

Worauf Purzelchen es so einzurichten wußte, daß sie fortan zwei Frühstückssemmeln mitbekam, von denen er eine mit schämigem Bräutigamslächeln stets für sich annahm.

Sein eigentliches Honorar sollte auch er dann erst empfangen, wenn den Geschwistern die Gage ausgezahlt wurde. Und das hatte noch gute Wege.

Vorausgesetzt, daß es je dazu kam!

Sodann mußte die Kostümfrage in Erwägung gezogen werden.

Purzelchen besaß von ihrem letzten Monatsgehalt fast noch alles, denn die Pension, die sie seit Antritt ihrer Assistentenstellung den Eltern zu zahlen pflegte, war diesmal in Vergessenheit geraten.

Und als eines Morgens vor Beginn der Lehrstunde eine schlichte und würdige Dame sich als Theaterschneiderin vorstellte, die von Herrn Schischkin nur zu dem Zwecke geworben war, Purzelchen billig und stilgerecht einzukleiden, da brauchte man nicht zu zögern, sich ihr anzuvertrauen. Das Landmädchenkostüm kostete achtzig, das Engelsgewand gar nur fünfzig Mark. Dazu kamen das Flügelpaar sowie Schuhe und Strümpfe. Aber für alles, wozu es nicht langte, erklärte der Bruder einstehen zu wollen.

So kam nach Wochen angestrengtester Arbeit der Tag, an dem Herr Schischkin ihnen erklärte: »Kinderr, liebee, behaupten, wir sind fertik, das gett nich. Fertik wird man niemals. Abber wenn ihr wollt versuchenn, ob Glick chabt, kennt ihr versuchenn.«

Noch an demselben Nachmittag machte Herbert sich auf den Weg, um zu erfahren, ob irgendwo eine Vakanz wäre, in die man sich hineinschieben könnte. Aber unverrichteter Sache kam er zurück. Wo er auch angepocht hatte, ein glattes »Nein!« war die Antwort gewesen.

»Missen Schwesterherz mitnemmen,« riet Herr Schischkin, »dann wierd Empfang gleich werdenn andrer.«

»Was kann ich dabei tun?« fragte Purzelchen mutlos.

Herbert und Herr Schischkin sahen einander an, und beide schmunzelten vor sich nieder.


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