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Eines Tages gegen Mitte August war Herr Gerberding wieder im Lande.
Sein Hiersein kündigte sich frühmorgens durch einen Blumenkorb an, der an Umfang und Teuerkeit jenem ersten, gleich nach dem Kennenlernen gesandten nichts nachgab.
›Au fein,‹ dachte Purzelchen, ›heut kann ich einen tüchtigen Packen nach oben tragen und brauch' ihn noch nicht mal zu klauen.‹
Aber dem Korb war auch ein Brief beigefügt, und der bot weniger erfreuliche Aussicht.
»Nun darf ich wohl der berechtigten Hoffnung Ausdruck geben,« hieß es darin, »daß Sie, mein teures Fräulein Annemarie, ebenso wie Ihre geschätzten Eltern nichts dagegen einzuwenden haben werden, wenn ich Sie bitte, unsere abendlichen Ausgänge wieder aufnehmen zu dürfen. Ich will Ihnen auch gestehen, daß ich diese sechswöchige Reise, wenn sie auch in der Hauptsache der Anknüpfung neuer geschäftlicher Verbindungen dienen sollte – und diese Absicht ist ja Gott sei Dank in Erfüllung gegangen –, nicht zum mindesten deswegen ins Werk gesetzt habe, damit Sie gleicherweise wie ich unsere Gefühle füreinander einer unbeeinflußten Prüfung unterwerfen konnten. Durchaus mit Recht sagt der Dichter: ›Drum prüfe, wer sich ewig bindet.‹ Und so darf ich hoffen, in Ihnen dieselbe ruhige Gewißheit zu finden, die, wie ich glaube, auch in meiner Seele vorhanden ist. In diesem Sinne werde ich mir erlauben, Sie heute abend um sieben aus Ihrer elterlichen Wohnung abholen zu kommen.«
Gerade heute abend hatte sie mit Fritz zusammensein wollen. Und wenn wie vordem Herr Gerberding sie jeden Tag in Anspruch zu nehmen gedachte, dann blieb für ihn überhaupt nichts mehr übrig.
Den Eltern, die den Brief immer von neuem studierten, um aus seinem Wortlaut die erlösende Gewißheit zu gewinnen, daß die entscheidende Wendung bevorstand, – den in Furcht und Hoffnung zitternden Eltern war mit irgend einem Einwand nicht nahezukommen.
Als Purzelchen in zagem Bedauern auf den Ferienkurs hinwies, der ihr so sehr am Herzen liege, da wurde Mama ordentlich böse.
»Wenn du etwa meinst, daß du solche Fixfaxereien dem Zusammensein mit deinem künftigen Verlobten vorziehen kannst, dann zeigst du damit nur, daß du ein dummes Jör bist, das sein künftiges Glück gar nicht zu würdigen weiß.«
Und Papa meinte versonnen: »Daß er seine deutschen Dichter kennt, gefällt mir an ihm. Einem solchen Mann kann man ruhig auch in die Wildnis folgen. Und seine Wünsche muß man erfüllen.«
Hier wäre wenig zu machen gewesen, wenn Gudrun nicht wieder einmal als Helferin eingegriffen hätte.
»Hört mal, Kinder,« sagte sie, »mir ist damals aufgefallen, daß unser Kleines von dem ewigen Herumziehen schon ganz elend geworden war. Hübschsein ist aber in solchen Fällen die Hauptsache. Darum müssen wir ihr das Ausschlafen gönnen. Außerdem schadet es gar nichts, wenn man dem Freiersmann die Trauben etwas höher hängt. Dann erklärt er sich umso fixer.«
Das leuchtete den Eltern ein, und Mama gab Purzelchen noch etliche Verhaltungsmaßregeln mit auf den Weg, die dazu dienten, Herrn Gerberding die Schwergeburt zu erleichtern. Eine liebliche Traurigkeit, ein rätselvolles Verstummen, ein selbstvergessener Augenaufschlag, ja sogar ein plötzliches Tasten nach seiner Hand mit ebenso plötzlichem Rückzug, das alles wären Momente, die in Betracht zu ziehen seien, um zaudernden Bewerbern die Zunge zu lösen.
»Wenn du dich nach dem Wiedersehen richtig benimmst,« so schloß Mama, »erklärt er sich vielleicht schon heute. Ja, eigentlich muß er sich heute erklären.«
Damit fühlte Purzelchen sich beim Ehrenpunkte gefaßt. Der Heiratsantrag war nunmehr eine Aufgabe geworden, deren Lösung ihr selber oblag. Von ihrer Geschicklichkeit allein hing es ab, wie ihr Schicksal und das der Familie sich künftig gestaltete. Und über allem schwebte als sittliche Notwendigkeit, die Erwartung der Eltern nicht zu enttäuschen.
Glücklicherweise behielt sie nach Schluß der Sprechstunde gerade noch Zeit, die Hälfte der Blumen aus dem Korbe zu reißen und damit nach Fritzens Wohnung zu laufen.
Er war noch nicht heimgekommen, und sie konnte nichts anderes als einen Zettel zurücklassen: »Er ist wieder da. Muß mich mit ihm herumtreiben. Sieh zu, Liebling, daß du heute bei Ellinor sein kannst, dann bleibt der morgige Abend für uns. Ewig dein Purzelchen.« –
»Was hast du mit dem Korbe gemacht?« empfing sie bei der Heimkunft Mama. »Der sieht ja aus wie ein gerupftes Huhn.«
»Willi, Kurt und Hans Joachim«, antwortete sie rasch gefaßt, »pfiffen unten das ›Waldvöglein‹, und weil ich nicht mitkommen konnte, hab' ich ihnen zum Trost ein paar Blumen 'runtergeworfen.«
Mama rang die Hände: »Wie sollen wir nun den Abgang vor Herrn Gerberding rechtfertigen? Sein erster Blick fällt doch sicherlich auf den Korb.«
»Ich hoffe, sein erster Blick fällt auf mich,« erwiderte Purzelchen selbstbewußt. »Wirf den Korb ruhig in den Müllkasten. Ich sag', ich hab' ihn in mein Schlafzimmer gestellt. Da kann er nich 'rein.«
In den Müllkasten kam der Korb nun gerade nicht, aber er verschwand alsbald aus den vorderen Räumen, und wie Herr Gerberding da war – blitzblank und knirschend, in gemäßigter Innigkeit und in scherzhaftem Ernst –, da gab es einen wahren Triumph, als Purzelchen sich für die wunderschönen Blumen bedankte und schämig hinzufügte, sie hätten jetzt ihren Platz so nah an ihrem Bette, daß sie den Duft noch gerade mit in den Schlaf nehmen könne, ohne doch Kopfschmerzen zu bekommen.
Herr Gerberding konnte vor Rührung gar keine Worte finden, und Mama nickte mit stieren Augen gewichtig zu ihm hinüber, als wollte sie sagen: ›Und dieses Wunder an Gemütstiefe habe ich eigens für Sie erzogen.‹
Aber trotzdem erklärte er sich immer noch nicht.
Im Gegenteil, es war das alte Geschmuse. Wie nötig es sei, daß Menschen, die einen Bund fürs Leben miteinander zu schließen gedächten, in der eigenen und in der Seele des andern Bescheid wüßten. Wie man sich aber nur schrittweise näherkommen könne und wie im günstigen Falle jeder kleine Zug dazu diene, den einen enger an den andern zu ketten.
Es war erstaunlich, auf wievielerlei Arten er dieses Thema zu behandeln wußte und wie er bei jedem Begebnis darauf zurückkam.
Als ihnen an jenem Abend zur Einleitung des Soupers Krabbensalat serviert wurde und Purzelchen aus ihrer Vorliebe für solche pikanten Sachen kein Hehl machte, sagte er sofort in freier Anlehnung an das Schillerwort: »Ja, mein liebes Fräulein Annemarie, wo sich das Strenge mit dem Zarten, wo Süßes sich und Saures paarten, da gibt es einen guten Klang. Auf diesen guten Klang wollen wir gleich mal anstoßen. Sehen Sie, das gab auch wieder einen guten Klang, den wir als glückliche Vorbedeutung betrachten können.«
›Nun wird's doch kommen,‹ dachte Purzelchen mit einigem Herzklopfen.
Aber nichts kam. Ohne Überleitung wies er vielmehr auf die großen Erfolge hin, die ihm bei seinem Streifzug durch das Rhein- und Ruhrgebiet beschieden gewesen waren. Nicht allein in ihren Kontoren hatten die Industriebarone ihn mit Zuvorkommenheit empfangen, auch die Pforten ihrer Villen und Schlösser waren ihm gastfrei von ihnen geöffnet worden. Bei den Krupps auf Hügel, den Schmitzens in Soest, den Jansens in Krefeld, den Dumonts in Hamborn hatte er aus und ein gehen dürfen, ihre Frauen und Töchter waren ihm mit Wärme entgegengekommen, und – e – wenn er sich nicht in gewissem Sinne gebunden gefühlt hätte – –
Hier schwieg er bedeutsam, und Purzelchen blieb es vorbehalten, sich auszumalen, wieviel an Ersatz für das verlorengegangene Glück sie ihm würde bieten müssen, ohne daß er allzu großen Schaden erlitte. – – –
Als sie an diesem Abend um Mitternacht nach Hause zurückkehrte, fand sie die Eltern voller Begierde ihrer noch harrend.
»Nun, hat er sich erklärt? Hat er sich erklärt?«
Sie konnte nichts als voll Kummer verneinen und schlich beschämt in ihr Zimmer, wie wenn sie der Familie Schande gemacht hätte.
Auch als sie am nächsten Nachmittag zu Fritz hinaufging, fühlte sie sich durch ihre demütigende Lage bedrückt und erniedrigt.
An jenem Abend, an dem sie mit ihm bei Herrn Samuel zusammengekommen war, hatte sie ihm von ihrer Verlobung wie von einer vollzogenen Tatsache gesprochen und sich sogar zu der Behauptung verstiegen, daß die Eltern nach Herrn Gerberdings Rückkunft Karten herumschicken würden.
Jawohl! Karten herumschicken. Wohin? Nach dem Monde.
Wie eine Schwindlerin kam sie sich vor, die vor der Entlarvung stand.
Ein großes Glück war's, daß er gar nicht viel fragte, sondern nur tröstend den Arm um sie legte.
An seine Brust gedrückt, stand sie da, hörte sein Herz und seine Taschenuhr ticken und fühlte sich mit einem Male wieder freien Gewissens.
Auch als sie zwischen den goldenen Greifen nebeneinander saßen, wollte er so gut wie nichts von dem gestrigen Wiedersehen wissen, sondern sprach nur von der Art und Weise, in der sie ihr künftiges Zusammensein einrichten könnten.
Ein Telephon besaß er natürlich nicht, aber der Kaufmann unten würde immer bereit sein, eilige Botschaften zu empfangen und weiterzugeben. Seine Ellinor sei allerdings nicht sehr friedlich gestimmt, wenn er sie mit einer Absage bedenke, aber auch ihre Vorwürfe wolle er gerne ertragen –
»Nein, nein,« unterbrach Purzelchen ihn. »Solche Vorwürfe können leicht eine Erkältung herbeiführen. Wenn Gudrun sich mit einem Freunde richtig gezankt hat, dann dauert's nicht lange, bis sie ihn laufen läßt … An solch einem Unglück will ich nicht schuld sein. Eher versetz' ich noch meinen Herrn Gerberding, wenn ich bloß bei dir sein kann.«
Daß sie ihren Herrn Gerberding schlecht behandelte, das wollte nun er wieder nicht leiden.
Und so wogte der Wettstreit eine Weile hin und her, bis er in dem Pakt seine Ruhe fand, daß jeder zuerst die Pflichten seines Verlobtseins erfüllen solle, ehe die Liebe zu Wort kommen dürfe.
Doch als Fritz immer wieder und wieder von Herrn Gerberding als ihrem Verlobten sprach, da hielt Purzelchen sich schließlich nicht länger und klagte ihm ihr ganzes Herzeleid.
Er sagte: »Eigentlich müßt' ich mich freuen. Aber wie kann ich? Verloren bist du mir doch. Und wenn der Mann gut zu dir sein wird –«
»Ja, das wird er,« bestätigte sie mit Überzeugung. »Und tüchtig und fleißig ist er wohl auch. Wenn er in Liebessachen bloß nicht so'n Esel wär'!«
»Ich wünschte, meine wär' ähnlich,« erwiderte er. »Aber erstens tut sie rein gar nichts. Zweitens ist sie durchaus nicht sehr gut zu mir – und drittens –«
Aber das Dritte wußte er nicht, oder er wollte es nicht wissen. Er drückte nur das Gesicht in Purzelchens Haar hinein, und sie kuschelte sich enger an ihn heran, so daß ihr war wie dem Vogel in seinem Neste, wenn die Nacht kommt und alles versinkt.
So saßen sie still beieinander, bis wirklich der Abend herabsank und der Laternenschein seine Rolle als aufgehender Mond zu spielen begann.
Aber durch Getreidefelder quoll er nicht mehr. Die waren längst schon geerntet, und was von ihnen noch übrig war, lag als ein daumendickes Strohbündelchen ährenlos im dunkelsten Winkel. Auf den Verbleib der Körner, die doch das Wichtigste waren, hatte Purzelchen gar nicht geachtet.
Die nächsten Wochen vergingen, und immer blieb es das gleiche. –
Purzelchens Lage wurde nur noch bedrückender, und wenn Herr Gerberding sie spätabends nach Hause brachte, traute sie sich kaum die Treppe empor, wiewohl sie wußte, daß die Eltern sie nicht mehr erwarteten. So wenig bauten sie noch auf die Entschlußkraft jener Eroberernatur.
Auch Fritz begann ungeduldig zu werden. Es war, als fühlte er sich in seiner Liebe gekränkt, weil die, die er liebte, die hinreißende Wirkung, die er selbst an sich spürte, an anderer Stelle nicht auszuüben vermochte, und sein fragender Blick schnitt Purzelchen immer tiefer ins Herz.
Am wenigsten gab sich Gudrun zufrieden. »Man wird Feuer unterlegen müssen,« sagte sie mehr als einmal. »Man wird ihn wie einen jungen Hund mit der Nase hineinstupsen müssen, sonst ist er schließlich imstande, seine Optionsrechte fallen zu lassen.«
Und nur mit Mühe konnte Purzelchen sie davon abbringen, Herbert ins Treffen zu schicken, dessen herablassender Hohn nur Schaden gebracht hätte.
Da geschah's eines Abends, daß ein an sich fatal gearteter Zufall die Lösung der Krise herbeiführte.
Obwohl Herr Gerberding so unbegabt war, daß er einen Tango von einem Foxtrot nicht zu unterscheiden wußte, so liebte er es doch, Purzelchen zu den Stätten zu führen, in denen der Tanz als Alleinherrscher galt. Und wie sehr sie auch darauf brannte, guttanzenden Paaren sehnsüchtig nachzuschauen – schon dieses war Wonne –, selber mit ihrem Begleiter das Parkett zu betreten, bot nur ein mäßiges Vergnügen. Abgesehen davon, daß er sich, wie gesagt, im Takte andauernd irrte, hatte er die Gewohnheit, bei der Wahl des Bodens für die Ausübung seiner Künste Purzelchens Füßen den Vorzug zu geben.
In einem gewissen Augenblick hatte sich unter dem Gewicht seines Trittes ein Knopf ihrer Schuhe gelöst.
Und als sie auf ihrem Sitzplatz angelangt war, versuchte sie es, den Schaden zu heilen, und bückte sich, um besser hantieren zu können, unter den Tisch.
Herr Gerberding aber verstand diesen Vorgang falsch, er glaubte offenbar, ihr wäre Lippenstift oder Puderquaste entglitten, und da er als diensteifriger Kavalier nicht dulden durfte, daß sie das Verlorene selber emporhob, so suchte er ihr zuvorzukommen und stieß hierbei mit seiner Stirn so heftig gegen die ihre, daß ihr feurige Nebel vor den Augen zu tanzen begannen und eine süß-selige Lust sie überkam, sich vollends fallen zu lassen.
Herrn Gerberdings Aufschrei weckte sie aus ihrer Betäubung. Sie fühlte die Griffe von tausend Armen. Sie wurde emporgerissen und auf den Stuhl zurückgepflanzt. Ein kalter Strahl von Eau de Cologne traf ihren Hinterkopf. Und nun hätte sie die Lider ruhig aufschlagen können, aber es war so nett, sich umsorgt und wichtig genommen zu fühlen, daß sie beschloß, noch ein wenig in diesem interessanten Zustande zu verharren.
Da hörte sie noch einmal Herrn Gerberdings Stimme: »Meine Braut wacht gar nicht auf. Ist denn kein Arzt da für meine Braut?«
›Holla,‹ dachte Purzelchen. › Was hat er gesagt?‹
Und weil sie Angst hatte, daß er das Wort wieder zurücknehmen könne, wachte sie erst recht nicht auf.
In dem dumpfen Wirrwarr der Stimmen ein heller, energischer Ton: »Ich bin Mediziner. Was ist hier los?«
Und Herr Gerberding: »Hier – meine Braut – hat sich gestoßen. Dabei ist sie ohnmächtig geworden und kommt gar nicht mehr zu sich.«
»Immer ruhig,« sagte die helle Stimme, und zugleich griff eine stählerne Hand nach der Stelle, wo ihr Puls sitzen mußte.
Da hielt Purzelchen den Augenblick für gekommen, ins menschliche Leben zurückzukehren. Und wie sie die Augen groß aufschlug, sah sie einen fremden jungen Mann zu sich herabgebeugt, dessen zigarettengeschwängerter Atem sie überströmte.
Rasch entriß sie ihm ihr Handgelenk, denn sie wollte ihn los sein, und er verstand auch sogleich, daß es für ihn hier nichts mehr zu tun gab. Er murmelte etwas von »Ruhe« und »Heimgehen« und wollte sich mit kurzer Verneigung empfehlen, aber Herr Gerberding hielt darauf, seinen Gefühlen klingenden Ausdruck zu geben.
Er ergriff die Hand des jungen Arztes und sagte: »Wir, meine Braut und ich, werden Ihnen gewiß ewig dankbar sein für die prompte Hilfeleistung! Mein Name ist Gerberding, ich wohne im ›Adlon‹, – dies, meine Braut Fräulein Lüdicke – und wenn Sie mir gleichfalls Namen und Adresse angeben wollen, so werde ich nicht verfehlen – meiner Erkenntlichkeit – –«
Weiter kam er nicht. Eine abermalige knappe Verneigung, damit war der Helfer verschwunden.
Der Helfer aus aller Not! Denn ihm gegenüber war das große Wort zu bindender Geltung gediehen. Nun ließ es sich kaum mehr zurücknehmen.
Die umgebende Menge zerstreute sich.
Verlegen saß Herr Gerberding da, und endlich begann er: »Ich bitte Sie, mir zu verzeihen, liebes Fräulein Annemarie, daß ich so eigenmächtig gehandelt habe. Oh, ich weiß wohl, was sich ziemt. Aber die Umstände, nicht wahr? Sagen Sie selbst, was sollte ich machen? Jede andere Bezeichnung hätte unsere Beziehungen kompromittieren können. Es wuchs mir eben über den Kopf. Und jetzt, nicht wahr, jetzt darf ich doch hoffen, daß Sie nachträglich bestätigen werden, was – nun eben – einmal – geschehen ist.«
Purzelchen seufzte tief auf. Verängstigt, wie sie war, hatte sie schon zu fürchten begonnen, daß er das große Wort, um es schließlich doch noch zurückzunehmen, als eine notgedrungene Täuschung der Außenwelt hinstellen würde.
Auch diese Gefahr war aus dem Wege geräumt.
Niemand auf der Welt durfte jetzt an ihrer künftigen Bräutlichkeit zweifeln.
Ihr erster Gedanke war: ›Wie werden die zu Hause sich freuen!‹ Und ihr zweiter: ›Fritz wird nun auch ohne Sorge sein können!‹
Obgleich bei dem Gedanken an Fritz ein leiser Gram in ihr hochstieg.
Für jetzt aber war die dringende Frage: wie sich zu Herrn Gerberding stellen, der noch immer erwartungsvoll und mit flehenden Glaskugelaugen zu ihr herübersah.
»Ach Gott,« sagte sie, »das kommt alles so plötzlich.«
»Plötzlich kommt es allerdings,« bestätigte er, »und wenn Sie sich eine gewisse Überlegungszeit ausbedingen wollen –«
›Bloß nicht!‹ dachte sie und schob nach Mamas Rezept ihre Hand in die Nähe der seinen, so daß er nicht anders konnte, als sie ergreifen.
Und damit war endlich die Sache perfekt.
Sodann begann er von seinen Plänen zu reden. Eigentlich wäre der Zweck seiner Europareise nunmehr erfüllt und er könnte für sich und sie alsbald eine Kabine bestellen –
›Um Himmels willen!‹ schrie es in ihr.
– aber er kenne ja den Wunsch ihrer Eltern, sie bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag im Hause zu haben, und werde sich darum bescheiden, so lange zu warten. Obgleich das Geschäft und so weiter.
›Zweieinhalb Monate,‹ dachte sie. ›Zweieinhalb Monate Lebensglück!‹
Und dann kam der Tod. Sechzig, siebzig Jahre lang nichts weiter als Sterben. Aber vielleicht kam er auch früher. Mochte er nur! Es war ja dann alles egal.
Inzwischen redete Herr Gerberding immerzu. Von der Ausstattung, die nicht groß zu sein brauche, da sie ja höchstens ein paar Koffer mitnehmen könnten, von der drüben herrschenden Eleganz, die in Europa zumeist unterschätzt würde, von der Hoffnung, die sie hegen dürfe, ein Liebling der deutschen Gemeinde zu werden, denn die meisten Damen seien bereits in einem höchst unerfreulichen Alter.
Und redete immer so weiter.
Hätte er wenigstens ihre Hand dabei losgelassen! Aber sie war ja jetzt mit ihm verlobt. Darum hatte sie kein Recht mehr, sich ihm zu entziehen.
Und es kam auch noch ärger.
Als er bei der Heimfahrt neben ihr saß – dichter als sonst, wie sie mit Erschrecken bemerkte –, bat er plötzlich aus heiler Haut – ja, um was bat er?
Um ein – »Verlobungsküßchen«.
Da war nichts zu machen. Das gehörte nun mal zum bräutlichen Stande. Und darum drückte sie die Augen zu und bot ihm in Gottes Namen ihre festgeschlossene Schnauze.
Herr Gerberding war beseligt.
»Man fühlt es sofort,« sagte er, » diese Lippen haben noch niemals geküßt.«
›Au weh!‹ dachte sie.
Und die schöne, junge Doktorin fiel ihr ein. Die hatte dasselbe von sich gesagt. Und der durfte man glauben. Aber zwei Stunden später hatte auch sie es kennengelernt.
Nun hielt der Wagen.
Herr Gerberding bat, am nächsten Mittag anhalten kommen zu dürfen, und Purzelchen nickte gnädig, doch als er bei schon geöffneter Tür die Prozedur mit dem Verlobungsküßchen zu wiederholen versuchte, da entglitt sie ihm rasch und eilte die finstere Treppe empor.
Auf dem ersten Podest hielt sie an. Man konnte deutlich hören, wie Herrn Gerberdings Wagen davonrollte.
Die Fenster der Wohnung waren dunkel gewesen. Das hatte sie beim Aussteigen mit heimlichem Aufblick festgestellt. Die Eltern warteten natürlich nicht mehr.
Sie zu wecken, hatte nicht viel Sinn. Morgen früh erfuhren sie es zeitig genug. Und Gudrun war vielleicht noch gar nicht zu Hause.
Aber einen gab es, der harrte darauf, Freud und Leid in Treue mit ihr zu teilen. Wenn Herr Gerberding seine Bräutigamsrechte spielen ließ, sah sie ihn morgen vielleicht gar nicht. Und übermorgen auch nicht. Sollte das Große ihm etwa verschwiegen bleiben, bis nach etlichen Tagen eine glückliche Fügung sie auf Augenblicke miteinander vereinte?
Und mochte er ihr tausendmal verboten haben, um die Nachtzeit zu ihm zu kommen, eine so kolossale Neuigkeit rechtfertigte jeden Überfall.
In der vertragnen Tasche klirrten neben den eigenen Schlüsseln die seinen. Niemals ließ sie sie von sich, damit keiner sie entdeckte und unnütze Fragen tat.
Auf! Hinunter! Rasch! Das Haustor war noch gar nicht geschlossen. Die Straße leer. Kein Klatschmaul konnte je petzen.
Leider gab es in seinem Hause keine Treppenbeleuchtung. Aber sie kannte den Weg gut genug, um sich an Wand und Geländer entlang bis zum fünften Stockwerk emporzutasten.
Ob er daheim war oder nicht, machte nichts aus. Entweder sie weckte ihn, oder sie legte sich auf das Greifensofa, bis sein Schritt im Gange erdröhnte.
Die Korridortür klappte geräuschlos zurück. – Ein endloser Weg bis zur nächsten Tür, von keinem Straßenschimmer erhellt. –
Dann aber, Gott sei Dank, fand sich der Knopf, mit dem Licht gemacht werden konnte.
Im Vorraum hingen Mantel und Hut. Also war er zu Hause. Und nun wurd' es ihr doch in der Kehle recht eng.
Das Wohnzimmer dunkel und leer. Durchs Fenster geisterte der Laternenschein.
»Wer da?« schallte seine Stimme von ferne aus dem Schlafzimmer her. Und gleich darauf gab es ein Knacken.
Sie wußte, eine alte Pistole lag immer neben dem Bett.
Das fehlte gerade, daß er sein Purzelchen totschoß!
Darum wagte sie auch nicht, weiterzugehen, sondern rief nur aus dem Dunkel heraus: »Ich bin's bloß, Fritz! Ich, Purzelchen, ich!«
»Du? Was willst du so spät?« Seine Stimme klang eher ängstlich als froh. Und ein wenig unfreundlich klang sie wohl auch.
»Ich hab' dir was zu erzählen – was Wichtiges!«
»Komm!«
Jenseits des Engpasses flammte das Licht auf, und auf das rannte sie zu.
Da saß er in seinem Feldbette, geradeso, wie sie ihn sich immer drin vorgestellt hatte, und an dem Schillerkragen des Nachthemdes fehlte der Knopf, den sie gestern nachlässigerweise nicht angenäht hatte.
Sie wand sich zwischen den Holzschalen hindurch, die Tisch und Stühle bedeckten, hockte strahlend auf der Bettkante nieder und bekam seine Hände zu fassen.
»Denk dir! Er hat sich erklärt! Er will bloß noch warten bis nach dem Geburtstag, dann –«
Da, aus aller Freude heraus, stürzten ihr plötzlich die Tränen. Sie umklammerte ihn, und wie er den Kopf zurücksinken ließ, warf sie sich über ihn und weinte, weinte, weinte sich das Herz aus dem Leibe.
Tasche und Taschentuch hatte sie vorne gelassen, drum nahm sie einen Lakenzipfel zur Hand und trocknete sich die Wangen, das Kinn und die Nase.
Er streichelte ihr die Haare, und wie er so lieb zu ihr aufsah, saßen auch in seinen Augen die Tränen.
Das brachte sie aufs neue zum Weinen. Und so nahm die Sintflut kein Ende.
Bis er sich abermals aufrichtete und mahnend sagte: »Es ist tief in der Nacht, Liebling! Du mußt heim.«
»Nein, nein, nein, nein!«
Bis an den morgigen, bis an den Jüngsten Tag wäre sie bei ihm geblieben, hätte er nicht plötzlich das Felsengesicht gemacht, das sie so sehr an ihm fürchtete.
Und als er ihr anbefahl, sie möchte ins Wohnzimmer gehen und dort auf ihn warten, bis er käme, sie nach Hause zu bringen, da wagte sie kein Wort des Widerspruchs mehr.
Vor lauter Tränen war sie ganz schnupfig geworden.
So traurig endete Purzelchens heißersehntes Verlobungsfest.