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Purzelchen stand allein auf der Straße.
Herbert war noch einmal zurückgegangen, denn es blieb allerhand zu besprechen. Orchesterprobe und so.
»Hier tatschen sie doch bloß an dir herum,« hatte er gesagt. »Drum geh nur ruhig nach Hause. Was nötig ist, dafür sorg' ich.«
Und wie sie sich umsah in der nebligen, lichterdurchsprenkelten Dämmerung, während um sie herum die Leute zum Tanztee herbeiströmten, da erwachte sie allgemach zur Besinnung.
Denn bisher war sie wie in einem wüsten Traume gewesen und hatte stillschweigend über sich reden und ratschlagen lassen, als ob sie das alles nicht im mindesten anginge.
Jetzt erst wurde ihr klar, was man von ihr verlangte.
Nackt – so gut wie splitterfasernackt sollte sie sich der gaffenden Menge preisgeben – ebenso wie die vielen, denen sie, wenn Herr Gerberding sie in den Bars und den Kabaretten herumgeschleppt hatte, mitleidig schaudernd mit den Blicken gefolgt war, als wären sie fremde, katzenartige, von Scham nichts wissende Tiere.
Sie hatte bis dahin geglaubt, sich zu den andern, den künstlerisch Vornehmen zählen zu dürfen, die durch Anmut und Lieblichkeit zu wirken verstehen, ohne in würdeloser Entblößung der Sinnengier dienen zu müssen, hatte gehofft, durch ihren Emporstieg Fritz, der in Mißachtung sich von ihr gewandt hatte, zurückzugewinnen. Da plötzlich sah sie sich in Tiefen hinabgestoßen, aus denen sie niemals mehr zu ihm emporklimmen konnte.
Hatte sie bis zu dieser Stunde geplant, ihm zu ihrem ersten Auftreten eine Einladungskarte zu schicken – anonym natürlich, doch durch die Handschrift erkennbar – – ihm und Ellinor Schmitz – denn auch die sollte Zeugin ihres Triumphes sein –, dann ging das heute zuschanden. Im Gegenteil! Nichts mußte ängstlicher verhütet werden, als daß er von dieser Erniedrigung jemals Kunde erhielt.
Wobei freilich nicht ausgeschlossen blieb, daß er, mochte Gudrun auch stumm sein wie das Grab, nicht doch eines Tages, wenn Ellinor ihn zum Bummeln verführte, durch Zufall die Stätte aufsuchte, an der sie sich wegwarf.
Und dann war alles verloren.
Aber verloren war ja ohnehin, was sie in diesen Wochen erhofft und erträumt hatte.
Nie mehr würde sie in bescheidenem Stolze vor ihn hintreten und zu ihm sprechen dürfen: »Das bin ich geworden. Das hat dein Purzelchen aus sich gemacht.«
Nie mehr!
Aber halt! Ein Mittel gab's, auch diese Not zum Besten zu wenden: Sich ihm anvertrauen, ihn um Rat fragen, von seinem Richterspruche ihr künftiges Tun und Lassen abhängig machen. Das war's. Das brachte vielleicht Rettung.
Und während sie ganz verzweifelt in den Straßen umherrannte, schrie es immer lauter in ihr: ›Sehen will ich ihn! Sprechen will ich ihn! Will wissen, was er dazu sagt! Und wenn er sagt »Nein«, dann soll eher die Welt untergehen, als daß ich es tue.‹
Ihm auflauern? Wie oft hatte sie diesen Gedanken erwogen, aber wenn sie ihn in die Tat umsetzen wollte, war sie feige zurückgescheut, denn sie wußte: Von ihm stehen gelassen zu werden – und wie leicht konnte sich dies ereignen – eine solche Schmach hätte sie niemals ertragen.
Oder ihm schreiben? Auch dieses schien zwecklos, nachdem Gudrun, der doch sonst alles gelang, ein Wiederbegegnen mit ihm nie mehr erreicht hatte.
Vorausgesetzt natürlich, daß die Schwester ihr nichts verschwieg.
Aber gleichviel ob sie die Wahrheit sprach oder nicht, jetzt war Not am Mann, jetzt mußte sie Farbe bekennen.
Mit diesem Entschlusse beladen ging Purzelchen heim.
Die Uhr schlug halb sieben. Niemand war da. Aber wenn sich alles regelrecht zutrug, mußte die Schwester bald kommen.
Und da kam sie. Eilig, zerstreut und zu Unterhaltungen wenig erbötig. Gerade daß sie noch fragte, wie die Probe verlaufen war.
»Hör, Gudrun,« sagte Purzelchen, nachdem sie Bericht abgestattet hatte, freilich ohne der Hauptsache Erwähnung zu tun, »ich muß dich heut um was bitten.«
»Also, was denn schon wieder?« fragte die Schwester.
»Du hast mir erzählt, daß Fritz dich hat treffen wollen. Doch nie mehr ist es dazu gekommen. Nun brauche ich aber seinen Rat. Ganz ruhig, ganz freundschaftlich, ohne an Liebe überhaupt noch zu denken. Schreib' ich ihm, dann nutzt das vielleicht nichts, drum, bitte, schreib du ihm, was mein Wunsch ist – ohne Liebe, verstehst du – und dann – und dann – dann ruhe nicht eher, als bis er Ja gesagt hat.«
»Ob er das wird, ist sehr die Frage,« erwiderte die Schwester und blickte, wie jetzt so oft, an ihr vorüber ins Leere.
»Ach Gott, du bist ja so klug,« schmeichelte Purzelchen. »Was du richtig willst, das geschieht auch. Du wirst es schon machen. Bitte, ach bitte! Versuchen wenigstens kannst du es ja.«
Die Schwester drehte den Kopf nach rechts und nach links, als fühlte sie sich in die Enge getrieben.
»Natürlich, versuchen kann man es ja,« sagte sie achselzuckend.
»Wirst es gleich tun? Ach bitte, ja? Bitte, bitte, ja.«
»Ja, ich kann es auch gleich tun.«
»Soll ich den Brief dann in den Kasten tragen?«
»Nein, nein, danke. Ich geh' hernach noch einmal aus.«
»Ich möcht's aber so gerne selber tun!«
»Wozu denn? Wenn ich doch ausgeh'?«
Dagegen ließ sich nichts sagen, wie gerne sie auch den Brief einen einzigen Augenblick lang mit eigenen Augen gesehen hätte.
Es dauerte kaum zehn Minuten, da war die Schwester schon wieder da und ging zur Garderobe, sich Hut und Mantel zu nehmen.
»Kommst du zum Abendbrot zurück?« fragte Purzelchen.
»Für alle Fälle verwahrt es mir,« erwiderte Gudrun, die schon an der Flurtür stand.
Da plötzlich fiel ihr ein, daß sie ihr Schlüsselpaar hinten vergessen hatte. Darum legte sie Schirm und Tasche auf die Spiegelkonsole und lief nach dem Schlafzimmer zurück, wo sie eben gewesen war.
›So kann ich den Brief doch noch sehen,‹ dachte Purzelchen und öffnete rasch den Bügel der Tasche.
Aber da drinnen lag allerlei, nur nicht ein Brief. In der Hand hatte die Schwester auch nichts Weißes gehalten. Wo also steckte der Brief?
Und wie sie ganz ratlos die Tasche auf die Konsole zurücksinken ließ, hörte sie darin ein merkwürdiges Klirren.
Nur Schlüssel klirren so, die schweren Flur- und Haustürschlüssel, die man stets bei sich trägt, wenn man des Abends die Wohnung verläßt. Die aber gerade hatte die Schwester vergessen.
Was also klirrte da so?
Und wie sie, von dumpfem Verdachte gepackt, die Tasche noch einmal an sich riß und in deren Tiefe hinuntergriff, was kam da ans Tageslicht?
Ein Schlüsselpaar. Ein sehr bekanntes, ein sehr geliebtes Schlüsselpaar. Dasselbe Schlüsselpaar, das sie vor sechs Wochen blutenden Herzens durch die Schwester dem Eigentümer hatte zurückschicken müssen.
Ein Irrtum war ausgeschlossen. Sie hätte den Hakenring und den zweimal gespaltenen Bart unter tausend anderen herauserkannt.
Ein Schwarm wilder Gedanken flatterte in ihr auf.
Wenn Gudrun bei jenem einen Besuche die Schlüssel nicht abgeliefert hatte, dann war sie auch deren Erbin geworden, dann durfte sie aus und ein gehen dort, wo sie selber Heimatsrechte genossen hatte.
Um Jesu willen, was war das? Damit stürzte das Weltgebäude ein, und Ehrlichkeit, Recht, Vertrauen und Liebe gingen in Trümmer.
Noch wog sie stieren Auges die verräterischen Schlüssel in ihrer Hand, da öffnete sich schon die Eßzimmertür, und die Schwester erschien auf der Schwelle, das andere, das eigene Schlüsselpaar in der Hand.
Mit einem einzigen spähenden Blicke überschaute sie die unselige Lage.
»Ach so,« sagte sie lächelnd, »du bist spionieren gegangen.«
Purzelchen war keines Wortes mächtig. Nichts weiter vermochte sie, als ihr die Zeugen ihres Verbrechens in erhobener Hand unter die Nase zu halten, aber als die Schwester rasch danach greifen wollte, zog sie sie ebenso rasch wieder zurück.
»Die Schlüssel sind meine,« stieß sie hervor.
Gudrun verharrte bei ihrem Lächeln. »Ach nein,« sagte sie, »die sind jetzt mir übergeben worden. Und da ich dafür verantwortlich bin, so gib sie mir nur wieder zurück. Außerdem: daß du sie behältst, hat für dich gar keinen Zweck mehr.«
Aus dem Triumph ihres Lächelns mehr noch als aus dem Triumph ihrer Worte erkannte Purzelchen, daß all ihr Hoffen vernichtet war.
»Pfui, du gemeine Person!« sagte sie und warf die Schlüssel auf die Konsole zurück.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, sank quer über ihr Bett und drückte das Gesicht in die Kissen!
Nichts hören, nichts sehen, bloß sterben, nichts weiter als sterben!
Wie lange sie so gelegen hatte, wußte sie nicht, da klappte die Tür, und die Schritte der Schwester näherten sich leis auf dem Teppich.
Dann wurde es still. Sie mußte also hinter ihr stehen und sie betrachten. Und wenn ihr ein Dolch in den Rücken gefahren wäre, sie hätte sich nicht gerührt.
Endlich erklang die verabscheuungswürdige Stimme.
»Mir scheint, wir haben miteinander zu reden,« sagte die Stimme.
Purzelchen rührte sich nicht.
Da fühlte sie eine Hand, die ihre Schulter umgriff. Das schmerzte geradeso wie der Dolch, an dessen Stich sie eben gedacht hatte. Und weil sie die verhaßte Hand nicht anders los werden konnte, darum zuckte sie hoch, und als sie sich umkehrte, sah sie der Schwester von ganz nah her in das grausam lächelnde Angesicht.
Doch nein. Grausam war es nicht mehr. Etwas wie Sorge lag drin und ein verlegenes Bedauern.
Ja, die konnte jetzt gut bedauern – das Opfer bedauern, das sie selber ausgeraubt hatte.
»Verzeih, Purzelchen,« sagte sie, »daß ich vorhin so häßlich gegen dich war. Warum mußtest du auch spionieren gehen? Das tut man doch nicht.«
»Aber die Schwester betrügen und ihr hinterrücks den Freund wegnehmen, das tut man,« rief Purzelchen und schlug mit den Fäusten nach ihr. Wäre Gudrun nicht rasch zur Seite gewichen, so hätte sich sicherlich wie in verflossenen Kinderzeiten eine gediegene Prügelei zwischen ihnen entwickelt.
Zudem wollte das Glück, daß in diesem Augenblick vorne die Flurtüre ging. Die Eltern kamen nach Hause.
»Nimm dich zusammen,« raunte die Schwester ihr zu, »und hernach beim Abendbrot mußt du immer nur denken, daß gar nichts gewesen ist.«
Gar nichts gewesen! Das könnte ihr passen!
Da saß man nun und stopfte wahllos herunter Bratkartoffeln und Würstchen und was es sonst wohl noch gab.
Derweilen rasten tausend Bilder von Tod und Verderben einem durchs Hirn. Lysol trinken, ins Wasser springen oder – besser noch! – den Hahn der Gasheizung öffnen.
Die Gasheizung im Badezimmer hatte die Form eines flachen Tellers und war an die Leitung angeschraubt. Wenn man den Hebel gedreht und ein brennendes Streichholz in seine Nähe gebracht hatte, dann züngelten an die zwanzig blaue Flammen darunter hervor.
Drehte man aber den Hebel und ließ das Streichholz beiseite, so kam das Gas wohl ebenso zischend geströmt, aber entzünden tat es sich nicht.
Und dann brauchte man nur das Bettzeug aus dem Vorderzimmer hierher zu tragen und sich auf dem Erdboden ein Lager zurechtzumachen, um sanft in den Tod hinüberzuschlummern.
Natürlich hatten die Eltern wissen wollen, wie bei der Bewerbung alles verlaufen war, und Purzelchen gab willige Auskunft, nur die Hauptsache, den Nackttanz, verschwieg sie auch jetzt und nahm sich gleichzeitig vor, dafür zu sorgen, daß keiner der Ihrigen – die Schwester schon gar nicht – von dem Termin der ersten Vorstellung etwas erfahre.
Vorausgesetzt, daß diese erste Vorstellung jemals vonstatten gehen würde.
Und immer weiter quirlte es in ihr von Tod- und von Rachegedanken.
Ganz beiläufig bat sie Mama, sich vorne auf der Chaiselongue für die Nacht ein Lager zurechtmachen zu dürfen. Sie schlafe jetzt immer so schlecht, und wenn sie wachliege, habe sie das Bedürfnis, gewisse Tanzschritte, deren sie nicht vollständig sicher sei, auf dem Teppich auszuprobieren. Damit aber fürchte sie Gudrun zu stören und so.
Die horchte hoch auf, sagte aber kein Wort, denn natürlich hatte sie auf der Stelle verstanden, daß nach dem Vorgefallenen die Schwester nicht mehr übers Herz bringen konnte, das Zimmer mit ihr zu teilen.
Die Folge dieses neuen Alleinseins war, daß, als alle zur Ruhe gegangen waren – bloß Herbert fehlte wie immer –, Purzelchen leise aufstand, sich anzog und auf die Straße hinunterstieg.
Planlos, sinnlos. Weil sie zwischen den engen vier Wänden einfach erstickte.
Die Uhr ging auf eins, und alles war dunkel und leer.
Nur auf dem Kurfürstendamm sah man von weitem Lichter aufblitzen und Wagenreihen vorüberziehen.
Ab und zu versuchte ein Begegnender ihr zu folgen, aber sie lief zu rasch, als daß er sie einholen konnte.
So kam sie auch nach dem Savignyplatz, wo sie Ihn einst zum ersten Male gesehen hatte. Sie blieb vor der Haltestelle stehen, wo sie damals unzählige Male an ihm vorübergeschritten war, ehe er sie anzureden gewagt hatte, und tat genau so, als ob sie drauf wartete, daß er plötzlich neben ihr auftauchte.
Doch dann entschloß sie sich kurz und ging vor sein Haus.
Und wenn er tausendmal wünschte, daß sie ihm niemals auflauern möchte, und wenn er sie tausendmal stehen ließ, schlimmer als das, was war, konnte es im Leben nicht werden.
Wenn er mit Ellinor tanzen gewesen war und um diese Stunde zurückkam –
Aber er kam nicht. Es schlug eins und halb zwei, aber er kam nicht.
›Hätte ich die Schlüssel nicht auf die Konsole geworfen,‹ dachte sie, ›weiß Gott, ich ginge heut zu ihm 'rauf.‹ Doch als ihr einfiel, daß vielleicht die Schwester jetzt tat, wozu sie selber das Recht niemals gehabt hatte – nur ein einziges Mal hatte sie es sich in ihrer Freude genommen –, als ihr das einfiel, da wich sie schaudernd vor dem Gedanken zurück.
Und dann litt es sie auch nicht mehr an dieser Stelle.
Ohne zu wissen, wohin, rannte sie weiter – straßauf, straßab, immer weiter. Daß dieser und jener sie anrief oder neben ihr herging, darauf achtete sie nicht im geringsten.
Und wenn er keine Antwort erhielt, gab er sie auch bald wieder frei.
Mit einem Male stand sie vor dem Kanal. Eine Nebelschicht lag über dem Wasser, aber die war nicht dicht genug, daß man nicht hätte erkennen können, wie schwarz, wie grausam, wie unappetitlich der Abgrund war, in den man sich so gerne gestürzt hätte.
Nein, das nicht! Noch nicht! Noch hatte man auf Erden zu tun. Noch mußte ihm klargemacht werden, was er an ihr verbrochen hatte und wohin sie geraten war, seit er sie nicht mehr beschützte.
Nicht nackt tanzen wollen? Warum nicht? Gerade! So nackt, wie es nur irgend erlaubt war. So schamlos nackt, daß die erwachsenen Leute kopfschüttelnd sagten: »Schad' um das arme Kind! So jung noch und bereits so verderbt!«
Das sollte er hören, das mußte er hören. Dann würde ihm das Gewissen schon schlagen.
Und das war noch gar nichts. Der Haupttrumpf, der kam erst.
Der kam erst, wenn der ganze Zauber vorbei war.
Kehrte Herbert zu später Nachtstunde heim, dann nahm er oft noch ein Bad, um den Schlaf zu beschleunigen. Wachte man auf und gab acht, dann konnte man ihn durch drei Türen hindurch plätschern und sich abbrausen hören.
Solch ein spätes Bad konnte man auch einmal nehmen – zumal wenn es galt, die Erregung der ersten Tanznacht zu überwinden. Herbert würde sicherlich gerne verzichten, wenn man ihn bat.
Und was dann? Ja, was dann?
Die Antwort auf diese Frage gaben die zwanzig blauzüngelnden Flammen, die, unter dem Heizungsteller hervorgekrochen, wie ein Kreisel in ihrem Hirn sich drehten.
Zwar, wenn das Rachewerk wirklich geschah, dann würden diese Flammen gar nicht erscheinen, im Gegenteil, dann mußte, war der Hahn erst geöffnet, mit Sorgfalt verhütet werden, daß ein Licht oder ein Streichholz ihm in die Nähe kam, denn nur so konnte das schädliche Gas den Raum bis in den letzten Winkel erfüllen.
Aber was ließ sich dagegen tun? Die Flammen waren nun einmal da. Sie durchkreisten das Hirn, und schossen empor, wohin immer das Auge sich wandte, so daß schließlich der ganze Himmel nichts weiter war als ein Kranz von blauzüngelnden Flammen.
In diesem wirbelnden Kranze verschwand der Abgrund schmutzigen Wassers, der so wenig Verlockendes hatte, und die Lysolflasche, mit deren Inhalt Lina Sonnabends die Türklinken putzte, verschwand erst recht. Für Veronal brauchte man ein Rezept, und keine sonst noch mögliche Todesart konnte mit jener sich messen.
Beruhigt, gesänftigt durch die getroffne Entscheidung lief sie nach Hause zurück. Und als sie sich in die Betten legte, war ihr zumute, als hätte man ihr etwas Schönes geschenkt. – –
Aber das Aufstehen am nächsten Morgen war umso schwerer. Lina stand vor ihr und erklärte, sie müsse heraus, die Eltern würden gleich nebenan zum Frühstück erscheinen.
Im Schlafzimmer würde sie sich einfach auf die andere Seite gedreht haben, aber hier gab es womöglich noch Schelte. Auch das Anziehen hatte seine mißlichen Seiten, und als sie das Badezimmer betrat, um sich der Morgenwäsche zu widmen, und die blauen Flammen der Heizung, die Lina vorher angesteckt hatte, ihr wirklich entgegenzüngelten, da kroch ein ekliges Gefühl in ihr hoch, als stünde der Tod schon hinter der Tür und präsentierte die Rechnung.
Schließlich mußte sie doch noch zu der Schwester hinein, denn, hing auch ein Spiegel hier, Bürsten und Kämme lagen an dem bisherigen Platze. Am liebsten wäre sie ohne Gruß an Gudrun vorübergegangen, aber als die sie freundlich befragte, wie sie in der neuen Umgebung geruht habe, konnte sie nicht anders, als ihr Rede und Antwort stehen. Warum auch nicht? Die Rache würde schon kommen.
Noch war sie nicht fertig, da klopfte Herbert bereits an die Tür.
Sie möchte sich freundlichst beeilen, Herr Schischkin wolle die Änderungen durchnehmen, und nachmittags sei Probe angesagt für Kostüm und Orchester.
Ein schadenfroher Triumph erwachte in ihr: ›Nur immer los,‹ dachte sie, ›ihr werdet ja sehen.‹ – – –
Herr Schischkin rang die Hände in Gram und Empörung. Seine schönste Arbeit zunichte gemacht, das zarte Engelsgedicht verzerrt und verstümmelt.
Doch daß es notwendig sei, dem Publikum Nacktheit zu bringen, dem stimmte auch er bei.
»Sie redden immer von Verlanggen nach Schennheit, aber iest bloß Geschlechtstrieb, und Kuhnst, was nicht dient dem Geschlechtstrieb, hat heite auf derr Welt nichts zu suchenn.«
Der vermagerte Konservatorist, der vor dem Klavier saß und sich abmühte, die Geleitmusik, deren Noten man ihm einfach weggenommen hatte, aus dem Kopfe zu wiederholen, lächelte bitter in sich hinein, denn auch er nahm teil an dieser heißhungrigen Sorge. Ihn hatte Herr Schischkin ebenso wie sich selbst auf die künftige Ernte vertröstet, und Purzelchen fiel es schwer auf die Seele, daß sie beide durch ihre Schuld betrogen sein sollten.
Aber die Szene gedieh im Handumdrehen zu neuer Gestalt, geradeso, als hätte es nie eine andere gegeben, und alle durften das Beste erhoffen.
Und dann kam die Probe: die erste und letzte.
Der Kapellmeister hatte richtig in vierundzwanzig Stunden das Orchester zurechtgedrillt und für die zweite Nummer noch ein Gewitter dumpfer Paukenschläge hinzugedichtet, um ihrer exotischen Natur einigermaßen gerecht zu werden.
Purzelchen erhielt die Erlaubnis, ihre Kleider anzubehalten, denn das Ding von Schnupftuchgröße, das ihr die Garderobiere um die Hüften gelegt hatte, erwies sich als noch viel zu lang und zu weit und mußte bis morgen eingenäht werden.
So blieb ihr wenigstens heute die Qual des Nacktseins erspart.
»Siamesischer Tempeltanz« wurde die Szene endgültig getauft und sollte unter diesem Namen bekanntgemacht werden. Obwohl, wie von den Musikern lachend festgestellt wurde, dortzulande, wo jede Tänzerin sich in zackig brokatne Steifheit hüllt, paradiesische Nacktheit ein Unding war.
Für morgen hatte man das Auftreten der beiden, wie der vorsichtige Direktor es wünschte, noch als Überraschung geplant, für später aber sollten sie als Geschwister Debucourt – weiß Gott, woher der Name plötzlich gekommen war! – auf den Plakaten und im Programmheft festgelegt werden.
Herbert machte Purzelchen heimlich darauf aufmerksam, daß ihr Name mit Bleistift schon jetzt an eine der letzten – bevorzugten – Stellen gesetzt worden war.
Mehrere solcher Programmhefte lagen da, und Purzelchen bat sich von dem Rendanten, der sie dauernd umstrich, zwei davon aus, was ihr liebreich gewährt wurde.
Gegen fünf Uhr war alles vorüber.
Alsdann begann die Nachmittagsveranstaltung, ihrer anspruchslosen Besucher und des geringen Verzehrs wegen »Hier können Familien Kaffee kochen« genannt.
Man hätte annehmen können, daß sie beide bei dieser Gelegenheit zum erstenmal herausgestellt werden würden, aber um sie von vornherein dem strengeren Urteil der Abendgäste preiszugeben, war ihr erstes Auftreten in die zweite, die wichtigere Serie gelegt worden.
Wenn sie vor diesen Zuschauern nicht bestanden, dann wehe ihnen!
Als Purzelchen zu Hause ankam und sich daselbst ganz allein fand, setzte sie sich sofort an den Schreibtisch, holte die beiden Programme hervor und schrieb zwischen die Ankündigung des weiblichen Musikclowns, Mlle. Olala, und der beiden andalusischen Zigeunerinnen denselben Vermerk, der für den Druck heute abgefaßt worden war:
»Geschwister Debucourt. Tänzerische Phantasien.
a)
La crûche cassée.
b) Siamesischer Tempeltanz.«
Und auf das Titelblatt einen zweiten Vermerk, wie sie ihn ähnlich in einer den Eltern gesandten Konzertreklame gelesen hatte:
»Herr von Nadolny wird gebeten, dem morgen, am 16. November, stattfindenden ersten Debüt der Geschwister Debucourt seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.«
Wenn er ihre Handschrift erkannte – und wie sollte er nicht! –, dann mußte er kommen, von allen Furien der Neugier gehetzt.
Und mit ihm Fräulein Ellinor Schmitz, für die das zweite Programm mit dem entsprechenden Wortlaut versehen wurde.
Es war sechs Uhr, als beide Briefe in den Postkasten flogen.
Um sein Blau herum hing ein Kranz von zwanzig blauzüngelnden Flammen.