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Neunzehntes Kapitel.
Purzelchen pflegt die Wunden, die eine Reitpeitsche schlug

Als Purzelchen am nächsten Morgen von Gudrun geweckt wurde, erkannte sie erst, daß ihre Lage gar nicht sehr einfach war.

Natürlich wollte sie nicht mehr zum Doktor zurückkehren, aber wie konnte sie ihr plötzliches Daheimbleiben rechtfertigen, nachdem sie so entschieden erklärt hatte, vor dem ersten Oktober die Stelle nicht verlassen zu wollen? Die Eltern wußten ja, daß sie durch ihre Zusage vertraglich gebunden war, und wenn sie die Wahrheit erzählte, konnten Weiterungen entstehen, die sehr zu ihren Ungunsten ausfallen mußten.

Vorerst versuchte sie es mit Kopfweh und machte Miene, im Bette zu bleiben.

Aber Gudrun glaubte nicht daran.

»Da steckt was anderes dahinter,« sagte sie. »Gesteh schon, dann werd' ich dir helfen.«

»Ich hab' mich mit ihm gezankt,« sagte Purzelchen. »Und nun geh' ich nicht mehr.«

»Und die Eltern?« fragte Gudrun. »Die wollen nun doch das Nähere wissen. Hast du dir schon alles zurechtgelegt?«

Nein, sie hatte sich noch gar nichts zurechtgelegt. Sie wußte nicht einmal, wie lange das Kopfweh herhalten konnte.

»Für alle Fälle werd' ich dir eine Kompresse machen,« sagte die Schwester. »Inzwischen kannst du ja nachdenken.«

Noch hatte sie ihr Vorhaben nicht ausgeführt, da läutete es, und Lina erschien auf der Schwelle.

»Ein Mohr ist da,« sagte sie ganz verängstigt. »Ein wirklicher Mohr. Der hat einen Brief gebracht für Fräulein Purzelchen.«

Die Handschrift des Doktors natürlich.

Und sie las:

 

Mein sehr geehrtes Fräulein!

Es drängt mich, Ihnen zu gestehen, daß ich das Mißverständnis, das gestern zwischen uns entstanden war, von ganzem Herzen bedauere. Ich bitte Sie, dem kleinen Vorkommnis keine weitere Bedeutung beizulegen und einfach zu Ihrer Arbeit zurückzukehren. Es wird unsere Aufgabe sein, eine Wiederholung desselben zu vermeiden, solange ich die Freude habe, Sie als Assistentin in meiner Nähe zu sehen.

In vorzüglicher Hochschätzung
Ihr sehr ergebener

Dr. Shadow.

 

Wortlos reichte Purzelchen den Bogen zur Schwester hinüber. Die las ihn aufmerksam durch und sagte dann: »Ganz gut, daß wir die Eltern nicht 'reingezogen haben. So'ne Fragerei ist immer sehr lästig. – Zieh dich gleich an und geh hin. – Wie du auch mit ihm stehen magst, er wird dich von nun an in Ruhe lassen.«

Purzelchen fand, daß dies der klügste Rat war, den man ihr geben konnte, und als sie dreiviertel Stunden später das Sprechzimmer betrat, war Doktor Shadow so eifrig mit seiner ersten Patientin beschäftigt, daß er ihr eben nur zurufen konnte: »Bitte, Gips einrühren, mein Fräulein.«

Und als sie beim Abschied mit ihm allein war, reichte er ihr nicht einmal die Hand, sondern sagte nur als leutseliger Chef: »Auf Wiedersehen morgen.« – –

Damit wäre alles in Ordnung gewesen, hätte man nur nicht vor Fritz so viel Angst haben müssen. Und beinahe wäre sie an seinem Hause vorübergegangen, so wenig durfte sie hoffen, daß alles wieder beim alten sein würde.

Sie fand ihn am Schreibtisch sitzen wie sonst. Aber der Quartbogen, der vor ihm schimmerte, war unbeschrieben geblieben, und die Bücher standen zugeklappt da, als hätte er sie zum Staate da aufgereiht.

»Fritz, lieber Fritz!«

»Ja, mein Kindchen, ja.«

Das war alles. Und als sie sich an ihn schmiegte, zuckte er schmerzhaft zurück, ehe er die Hand – fast zärtlich wieder – um ihre Taille legte.

Sein Gesicht schien verwacht, und auf der Stirne lagen die Falten wie wagrechte Stricke.

»Geht's dir nicht gut, Fritz?«

»Doch. Sehr gut. Sehr gut.«

»Fritz, hast du mich lieb?«

»Wie soll ich dich nicht liebhaben, Kleines?«

»Dann gib mir auch endlich 'nen Kuß.«

Da war nun sein Mund. Aber starr und fest zugekniffen lagen die Lippen auf ihren. Ebensogut hätte man ein Holzscheit küssen können. Da waren Herrn Gerberdings »Küßchen« beinahe noch schöner.

Und dann sank sie neben ihm in die Knie.

»Fritz, lieber Fritz!«

Sie warb um ihn, sie lechzte zu ihm empor, sie rankte sich flehend an seinem Körper entlang.

Und er war auch voll Weichheit und Wärme. Wenn nur sein Blick nicht gewesen wäre, so mitleidsvoll, so forschend und staunend, als wäre sie eine Wasserleiche oder ein dreibeiniges Huhn.

»Steh auf!« sagte er, sie mit seinen Armen hochziehend, »die büßende Magdalena zu spielen hast du nicht nötig.«

Sie hatte gar nicht an die büßende Magdalena gedacht, doch als er das Wort aussprach, wurde ihr klar, daß in ihrem Fühlen und Tun mancherlei Ähnlichkeit lag.

Und dessen schämte sie sich. So altmodisch war sie nicht, sich als eine Sünderin zu betrachten. Nur seine Liebe wollte sie wiederhaben. Oder vielmehr: eine neue, eine ganz andere Liebe wollte sie haben. Alles übrige ging sie nichts an.

Statt dessen wurde die Kluft zwischen ihnen immer noch größer.

Als sie das nächstemal zu ihm kam, hatte die Sprechstunde etwas länger gedauert, und das erzählte sie ihm, während sie sich, durchs Laufen erschöpft, den Schweiß von der Stirne wischte.

Da gewahrte sie, daß seine sorgenden Augen immer größer und größer wurden.

»Du gehst noch dahin?« fragte er voll Entsetzen.

»Ja, weißt du das nicht?« fragte sie verwundert zurück.

Und zugleich fiel ihr ein, daß er es gar nicht wissen konnte. Immer waren sie beide an dem heiklen Geschehnis mit Sorgfalt vorübergeglitten, und ob sie es in ihren Gedanken auch allzeit umkreisten, von dem Doktor und was zu ihm gehörte, war niemals die Rede gewesen.

»Ich habe als selbstverständlich betrachtet,« erwiderte Fritz, »daß du dich durch keine zehn Pferde mehr an jenen Ort wieder zurückschleppen lassen würdest, und nun hör' ich das

Purzelchen kramte in ihrer Tasche und fand glücklicherweise den Brief, den der Doktor ihr damals geschrieben hatte. Den reichte sie ihm statt einer Antwort.

Er faßte ihn mit den Fingerspitzen, wie man ein heißes Eisen anfaßt, und gab ihn auch gleich wieder zurück.

»Mag sein,« sagte er kopfschüttelnd. »Aber bei dem allen: ich verstehe dich nicht.«

Der Trotz stieg heiß in ihr hoch: »Was ist da viel zu verstehen?« sagte sie patzig. »Er hat sich entschuldigt, und nun wüßte ich nicht, wovor ich mich noch zu fürchten hätte.«

Er stützte den Kopf in beide Hände und sprach noch einmal schwer vor sich hin: »Ja, da versteh' ich dich nicht.«

Und diese Stimmung blieb, bis sie fortging.

Was sie auch redeten, was sie auch taten, das häßliche Nichtverstehen lag wie ein Alpdruck auf ihnen. –


Und dann kam ein neues Ereignis, das unheilverkündend und unheilbringend in Purzelchens Leben hereinbrach.

Am nächsten Vormittag, als der Doktor gerade einer immer noch jung sein wollenden Dame zwischen vierzig und sechzig – diese Altersgrade unterschied Purzelchen niemals genau – das neue Goldgebiß einpaßte, brachte Johnny eine Karte hereingetragen. Purzelchen las:

 

Ellinor Schmitz
Soest.

 

Und das Herz stand ihr still.

»Empfangen Sie die Dame«, sagte der Doktor, wie immer, wenn eine Fremde unangemeldet hereinschneite, »und sagen Sie ihr, sie müsse warten, bis ich Zeit für sie habe.«

Im halbdunklen Vorraum stand sie. Eine silberne Toque in Stirn und Nacken gedrückt. Ein kostbarer Chinchillapelz um den hochragenden Körper geschlagen, obwohl es beinahe noch Sommer war.

Wie ein Götzenbild stand sie da. Nur fehlte einer, der es entzweischlug.

Und dann fing sie zu flöten an: »Oh, mein liebes kleines Fräulein, da sind Sie ja! Auf Ihre Empfehlung bin ich hergekommen, und nun weiß ich mich in sicherem Hafen. Sie werden gewiß dafür sorgen, daß ich nicht eine Ewigkeit warten muß.«

»Was ich tun kann!« erwiderte Purzelchen und öffnete ihr die Tür des Wartezimmers, in dem zwei andere Damen auf den großen Moment des Gerufenwerdens schon lauerten.

Als sie zurückkehrte, fragte der Doktor, wie immer in solchen Fällen, indem er an ihr vorüberstrich, ganz leise: » What class?«

» First class,« erwiderte sie ebenso leise.

Er nickte zufrieden, und weil der Neuling » first class« war, durfte er, zwischen die Wartenden eingeschoben, schon vor der Zeit in das Allerheiligste treten.

Fräulein Ellinor Schmitz rauschte über die Schwelle – so pompös, daß Purzelchen sich fragte, woher sie damals den Mut aufgebracht hatte, in leidlicher Form bei ihr zu Gaste zu sein.

Selbst der Doktor, der doch an solche Erscheinungen lange gewöhnt war, stand einen Augenblick baff.

Aber dann, als hätte er sich erst neu einölen müssen, dienerte und scharwenzelte er und verfinsterte sich zu höchst dämonischer Inbrunst.

Und die Aohs und die Döbbeljuhs und die lispelnden Esse quollen nur so von den angelsächsischen Lippen.

Uelch ein geschegneter Uind schie zu ihm geführt habe. Und uie er dem Schicksal guätfull sei und dergleichen.

Purzelchen kannte das Spiel seit langem, doch so abscheulich hatte sie es noch niemals gefunden.

Fräulein Ellinor Schmitz aber schien nicht bloß wohltuend dadurch berührt, sie fing auch an, es mit allen Künsten der Weiblichkeit zu erwidern.

Und während sie ihre Gestalt in den Phönixstuhl hingoß, entbrannte alsbald ein Äugeln und Zärteln, ein neckisch verstohlenes Hin und Her, das zwar niemals die Schranken des weltläufig Erlaubten durchbrach, auf Purzelchen aber, das mit Fritzens Augen drauf hinsah, schon als ein künftiger Ehebruch wirkte.

›Der arme Junge! Der arme Junge!‹ schrie es in ihr, und aller Groll schien verwunden.

Von Zeit zu Zeit warf die Daliegende einen zwinkernden Blick zu ihr hinüber, der das heimliche Vertrautsein zu erhärten bestimmt war, aber sich vor dem Doktor zu ihr zu bekennen, verschmähte sie. Es wäre auch zu viel an Gnade gewesen.

Als er eine Weile lang – bei immer gleichem Geplänkel – in ihrem Munde herumhantiert hatte, wurde sie mit einem hoffnungsvollen Hinweis auf morgen entlassen und verabschiedete sich von Purzelchen durch ein huldvolles Senken der Wimpern, das sie mit einem schweigenden Knicks quittierte.

Für ihr Leben gern hätte sie Fritz am selbigen Abend von dem großen Erlebnis berichtet, aber sie wußte, daß er im Laboratorium zu tun hatte, und sie ging ja auch trotz aller Sehnsucht nicht gerne mehr zu ihm hin, so sehr fürchtete sie sich vor seinen mitleidig-staunenden Blicken. – –

Am nächsten Vormittag – um dieselbe Stunde – war Fräulein Ellinor wieder erschienen. Und das Spiel des gestrigen Tages nahm seinen Fortgang.

Plötzlich sagte der Doktor mit geschäftigem Runzeln der Stirne: »Ich fürchte, es wird eine Röntgenaufnahme nötig sein.«

›O Gott,‹ dachte Purzelchen in tiefem Erschrecken. ›Was wird sich da wohl ereignen?‹

»Wollen Sie mir gütigst erlauben, daß ich vorangehe,« fuhr der Doktor fort und öffnete einladend die Tür, die nach dem hinteren Korridor führte.

Und sie folgte ihm mit süß hingebendem Lächeln.

›Heute wird's wohl eine Ewigkeit dauern,‹ dachte Purzelchen und wusch mit Selbstverleugnung die gebrauchten Pinzetten. Dabei überlegte sie sich, daß Fritz von alledem nicht ein Jota erfahren dürfe – von den Geheimnissen des Röntgenzimmers am allerwenigsten, denn dann wäre ihr eigenes Erlebnis mehr als die aller anderen durchleuchtet gewesen.

Aber siehe da! Kaum fünf, kaum drei Minuten dauerte es, da erschien Fräulein Ellinor schon in der Tür. Sie hatte die Lippen strenge zusammengepreßt und blickte mit hochmütig fordernden Blicken nach ihrem Pelz hin, den sie der Wärme wegen über einen Stuhl gelegt hatte.

Dicht hinter ihr kam der Doktor. Seine Backen waren gerötet, und über den Augenbrauen lagerten Falten des Ärgers.

Eigentlich böse schien Fräulein Ellinor nicht, nur eine Wolke von Unnahbarkeit hatte sich plötzlich um sie gebreitet.

Purzelchen sprang eilends herzu, um ihr beim Anlegen des Pelzes behilflich zu sein, und sie, ohne sich zu bedanken, wandte sich an den Doktor: »Wenn das Röntgenbild wirklich notwendig ist,« sagte sie, »so können wir das morgen besser noch einmal versuchen. Um dieselbe Stunde, nicht wahr?«

Der Doktor verneigte sich wortlos, und sie rauschte hinaus.

Einen Augenblick lang blickte er lippenkauend zum Fenster hinaus und murmelte einiges vor sich hin, worin, wenn Purzelchen sich nicht täuschte, das Wort »Canaille« zu hören war, dann rief er, rasch wieder gefaßt: »Die nächste Patientin, bitte!« – – –

An diesem Abend hätte Purzelchen Fritz ganz sicher vorgefunden, ihr Kommen war ja fest abgemacht worden – aber sie brachte es nicht übers Herz, zu ihm hinaufzugehen.

›Ich habe so oft auf ihn gewartet,‹ sagte sie zu sich, ›laß ihn auch einmal auf mich warten.‹ – – –

Und so kam der nächste Vormittag heran.

Da, wie sie die Tür zum Wartezimmer öffnete, um Fräulein Ellinor Schmitz, die Johnny bereits gemeldet hatte, zur Behandlung zu bitten, wer saß da, mit flackrigen Blicken sich an sie heftend?

Ihr Fritz saß da, dicht neben seiner Verlobten, und zuckte hart in die Höhe, als sie, einen kleinen Schrei erstickend, die Worte: »Fräulein Schmitz« ins Leere hinausrief.

Die kam und war heute von Grund aus verwandelt. Gemessen, kühl, gewappnet mit unantastbarer Hoheit, stand sie da.

Aber auch der Doktor wußte der veränderten Sachlage Rechnung zu tragen. In würdiger Sachlichkeit rückte er ihr das Gestelle des Stuhles zurecht, und während Purzelchen die Serviette an ihrem Nacken festband, sagte er: »Ich werde noch einmal untersuchen, ob das Röntgenbild zu umgehen ist. Wenn nicht –«

»Wenn nicht,« fuhr sie statt seiner fort, »habe ich mir eine Begleitung mitgebracht, gegen deren Mitkommen Sie hoffentlich nichts einzuwenden haben werden.«

»O durchaus nicht,« erwiderte er mit beflissener Verbeugung und machte sich daran, die Mundhöhle zu durchspiegeln.

Purzelchen konnte bemerken, wie seine Hände zitterten.

Aber ihr zitterten nicht bloß die Hände. Am ganzen Leibe zitterte sie, denn die Augen Fritzens hatten nichts Gutes geweissagt. – –

Und noch war nicht klar, wofür sich der Doktor zu entscheiden gedachte, da wurde plötzlich die Tür, die zum Wartezimmer führte, aufgerissen und mit einem Knall wieder zugeschlagen.

Fritz stand da und maß den Doktor mit Augen, aus denen die Wut nur so spritzte.

»Also das sind Sie!« schrie er. »Wie kommen Sie dazu, Herr, sich an meiner Braut zu vergreifen? Wie kommen Sie dazu, sie in ein dunkles Zimmer zu locken und dort zu belästigen? Wissen Sie, daß das ein Amtsmißbrauch ist? Wissen Sie, daß ich Sie anzeigen könnte? Aber das fällt mir nicht ein. Ich werde Ihnen – –. Hoho!«

Sich so unterbrechend, sprang er gegen die Wand, denn der Doktor war inzwischen zurückgewichen, um den Klingelknopf zu erreichen, aber Fritz, der sein Vorhaben erkannt hatte, war ihm mit seinem Sprunge zuvorgekommen.

»Sie denken wohl, Sie können mich von Ihrem Mohren hinauswerfen lassen? Nee, lieber Freund, so billig kommen Sie nicht davon.«

Und er pflanzte sich in bedrohlicher Nähe vor dem Doktor auf, der suchende Blicke nach rechts und nach links warf. Aber da war niemand, der ihm zu Hilfe eilte.

Ganz gelähmt vor Entsetzen stand Purzelchen da. Ein dumpfes Gefühl sagte ihr, daß dieser Grund nicht der einzige war, der Fritz in solche Rage versetzt hatte, ja, daß er vielleicht nur als Deckmantel diente, um ihre eigene Person zu verstecken. Was würde werden, wenn er in wachsender Sinnlosigkeit vergaß, ihr Geheimnis zu schonen?

Der Doktor war inzwischen hinter ein rundes goldenes Tischchen geflüchtet und ergriff eine Bronzefigur, die darauf stand, wahrscheinlich, um sie als Waffe zu brauchen.

Mit einem Schrei sprang Purzelchen vor. Das hätte sie nicht tun sollen, denn dadurch, daß sie nun in der Schußlinie stand, mußte sie Fritz herausfordern, sie mit hinein in den Kampf zu ziehen.

»Was wollen Sie überhaupt von mir?« klagte hinter dem Tische der Doktor.

»Das werden Sie gleich erfahren haben,« schrie Fritz. »Was meine Braut betrifft, die weiß mit Ihnen schon fertig zu werden – auch ohne mich! Aber hier – das Kind hier – das hatte keinen Schutz, weder in sich noch bei wem anders. Das haben Sie verführt als eine wehrlose Beute. Das haben Sie auf dem Gewissen, Herr. Dafür sind Sie mir verantwortlich, Herr.«

»Oh, das wird ja aber interessant,« ließ aus dem Hintergrunde eine klirrende Stimme sich hören.

Dort stand Fräulein Ellinor Schmitz, hatte die Kanten ihres Chinchillapelzes mit beiden Händen gefaßt und lachte höhnisch zu ihr hinüber.

Da quoll der Zorn in Purzelchen hoch. Alles, was sie gelitten hatte durch ihn seit dem Tage, da er ihr Mitwisser geworden war, bekam ein neues qualvolles Leben. Dazu noch beschimpft und erniedrigt vor der, die ihr verhaßt war wie keine!

Das mochte wer anders ertragen. Sie nicht.

Und allen ihren Mut zusammennehmend, sagte sie, scheinbar ganz ruhig: »Bitte sehr! Bitte sehr! Für das, was ich tue, bin ich ganz allein verantwortlich. Da braucht sich kein anderer darum zu bemühen. Ich bin ein modernes Mädchen. Ich kann über meinen Körper verfügen geradeso wie ein Mann. Und wenn es mir so paßt, mich jemandem zu verschenken, dann bin ich noch lang nicht verführt. Das ist überhaupt eine sehr altmodische Auffassung. Bitte sehr.«

So! Da hatte er's. Geradeso hätte Gudrun sprechen können. Nun würde er wohl aufhören, sie zu verachten.

Was aber tat er?

Totenblaß, ganz versteinert vor Schrecken, stand er da, nur seine Augen irrten wie Wahnsinnsaugen zwischen ihr und dem Doktor hin und her.

Und dann plötzlich kam Leben in ihn. Er schlug auf der rechten Seite die Weste hoch, griff in den Hosengurt, und zwischen seinen Fingern erschien eine knirschende, goldgelb geflochtene, mit Knötchen versehene Peitsche, dieselbe Reitpeitsche, die Purzelchen für acht Mark fünfzig im Kaufhaus des Westens vor kurzem erworben hatte.

»Das hast du aus ihr gemacht, du Schurke!« schrie er, und schon pfiff dem Doktor ein zischender Strahl rechts und links um die Ohren.

Für einen Augenblick kroch er schmerzgekrümmt in sich zusammen. Dann hob er die Bronze hoch, aber die war zu schwer, um als Wurfgeschoß verwertet zu werden, und sank auf die splitternde Glasplatte nieder.

»Wir wollen gehen!« hörte Purzelchen Fritzens Stimme. Von Gram überwältigt, schlug sie die Hände vors Gesicht, und als sie wieder aufschaute, war sie mit dem Doktor allein. –

Was nun?

Er hatte beide Hände gegen Hals und Ohren gedrückt; dort brannten gewiß die Striemen, die die Peitsche geschlagen hatte.

»Sieh mal nach, ob die Doppeltür zu ist,« sagte er. Und sie wunderte sich nicht einmal, daß er sie wieder duzte. Das war seit jenem leidigen Auftritt nicht mehr geschehen.

»Fräulein Schmitz ist die letzte gewesen vor der Mittagspause,« erwiderte sie. Nur zur Sicherheit ging sie sich überzeugen und fand das Wartezimmer richtig ganz leer.

Der Vorraum, in dem Johnny hauste, lag so weit ab, daß selbst Fritzens zornige Stimme unhörbar verhallen mußte. Klatsch und Skandal waren also nicht zu befürchten.

»Gott sei Dank!« seufzte erleichtert der Doktor, »aber nun sieh mal zu, ob ich mit den Spuren mich unter Menschen werd' sehen lassen können.«

»Spuren« war offenbar nicht das richtige Wort, denn zwei breit klaffende, geschwollene Risse – dort, wo die Knötchen ihr Werk getan hatten, von blutigen Wunden durchsetzt – zogen sich dicht unter den Ohren schräg über den Hals nach dem Hinterkopf zu, wo sie in den Haaren verschwanden.

»Das wird kaum angehen,« sagte Purzelchen traurig.

Er stellte sich vor den Spiegel, besah sich rechts, besah sich links und fragte sie dann mit wehleidiger Stimme: »Was macht man da bloß?«

›Jetzt ist er gar kein dämonischer Mann mehr,‹ dachte Purzelchen mit einem Anflug von Mütterlichkeit.

Gleichzeitig kam ihr ein glücklicher Rat. »Ich habe mal Ziegenpeter gehabt,« sagte sie, »da hat man mir den Hals bis oben verbunden. Das mach' ich Ihnen dann auch. Aber zuerst, solange die Pause dauert, müssen wir kühlen. Mit essigsaurer Tonerde. Die ist ja da.«

Und schon rannte sie nach dem Medikamentenschrank.

Als sie ihm den Umschlag angelegt hatte, sagte er dankbar und zärtlich: »Erst stellst du dich ritterlich vor mich hin« – ritterlich, jawohl, sie hatte sich nicht verhört – »und dann pflegst du mich wie eine barmherzige Schwester. Was werd' ich bloß machen ohne dich nach dem ersten Oktober?«

Da faßte sie sich ein Herz und sagte entschlossen: »Daß ich nach allem, was geschehen ist, auch nur einen Tag noch bei Ihnen bleibe, das werden Sie wohl nicht von mir verlangen können, Herr Doktor.«

Da sank er vollends in sich zusammen. »Ja, ja,« sprach er jammernd in sich hinein, »das werd' ich wirklich von dir nicht verlangen können.«

Purzelchens Hilfsbereitschaft war trotzdem noch immer im Wachsen.

»Wissen Sie was?« sagte sie, »nach der Sprechstunde geh' ich ins Zahnärztehaus oder ins Lettehaus. Da werd' ich wohl auch Photographien finden und suche die Richtige gleich für Sie aus.«

Hoffnung auf neues künftiges Hoffen erhellte sein Angesicht.

»Wenn du das wolltest,« klagte er.

»Aber jetzt müssen Sie vor allem was essen,« erklärte sie. »Johnny soll Herbert sagen, daß er nach Hause fährt, und Ihnen zugleich ein schönes Kotelett mitbringen.«

»Für dich auch!« rief er voll Innigkeit.

Sie nickte gewährend und ging hinaus, um Johnny die nötigen Orders zu geben.

Dann erneute sie ihm den kühlenden Umschlag und freute sich, die blutrünstigen Stellen bereits im Erblassen zu finden.

Mit vertrauendem Augenaufschlag sah er zu ihr empor und war überhaupt so fromm wie ein Lamm.

Als dann die Koteletts vor ihnen standen, ließ er sich sogar von ihr füttern, weil die Kiefer etwas geschwollen waren. Er hätte immerhin die eigenen Hände dazu verwenden können, denn die waren ja unversehrt, aber als er sah, daß sie sich des Helfens nicht genugtun konnte, nahm er rasch noch mit, was ihm an Gutem geschah.

Um zwei begann die Sprechstunde von neuem.

Da die essigsaure Tonerde einen scharfen Geruch ausströmte, mußte sie gründlich abgewaschen werden. An ihre Stelle kamen zwei trockene Leinwandlappen und darüber Wattebäusche, die Purzelchen in einem schwarzseidenen Halstuch sorgsam versteckte.

Wie der große polnische Dichter Puschke sah er jetzt aus, von dessen dämonischem Leben und tragischem Tode sie in dem Programmheft gelesen hatte, als ihr von Gudrun ein Billett für seine Oper – »Eugen« hieß sie mit Vornamen – geschenkt worden war.

Doppelt so interessant als sonst sah er aus, und sein leidender Aufblick bezauberte alle, die kamen.

Aber heute kümmerte er sich um nichts, was an holden Verheißungen rings um ihn blühte, sondern tat seine Arbeit schlecht und recht, als gäb' es nichts Weibliches mehr auf der Welt.

Wenn diese oder jene aufstand, ihre Enttäuschung in eisiger Würde versteckend, hätte Purzelchen ihm gern einen heimlichen Wink zukommen lassen, er möge beim Abschied noch rasch ein wenig lieblicher sein, sonst säh' er sie niemals mehr wieder. Aber das ging nun wirklich nicht an. Und außerdem hatte sie ja kein Interesse mehr am Geschäft.

So! Nun war auch die letzte fort.

»Ich will zuerst nach dem Lettehaus hin,« sagte Purzelchen, denn dort war sie seit langem bekannt.

Aber er konnte sich nicht von ihr trennen.

»Dort kommst du heut doch nicht mehr 'rein,« sagte er, »drum sitz noch ein Weilchen. Vielleicht sehen wir uns nie mehr im Leben.«

Auch Purzelchen spürte etwas wie Trennungsweh. Das brachte die Stimmung so mit sich.

» My deary, my sweetheart, my cutie,« sagte er, ihr die Hände streichelnd, die zur Erneuerung des Umschlags an seinem Halse herumfuhrwerkten.

Sie nahm sich nicht einmal die Mühe, ihm zu wehren, so wenig fürchtete sie ihn noch. Und als sie auf den Goldstühlchen einander gegenübersaßen, duldete sie es ruhig, daß er ihre Finger spielend zwischen die seinen legte.

»Halt! Ich bin dir ja noch dein Monatsgehalt schuldig,« unterbrach er sich plötzlich, holte seine Brieftasche hervor und zählte einen Hundertmarkschein und fünf Zwanzigmarkscheine daraus ab.

»Ich bekomm' aber nur hundertachtzig,« sagte sie, als er ihr das Bündelchen in die Hand drückte.

»Nimm nur, nimm nur!« befahl er mit der Noblesse des großen Herrn, dem es in solchen Fällen auf ein kleines Vermögen nicht ankommt.

Aber auch Purzelchen hatte ihr Ehrgefühl.

»Nein, nein,« sagte sie, ihm den überzähligen Schein zurückreichend, »es ist schon genug, daß ich das Honorar für den ganzen Monat annehme. Schenken lass' ich mir nichts.«

Eine kleine Weile wogte der edle Streit hin und her, dann – mit einem Seufzer der Ohnmacht – steckte er die zwanzig Mark wieder zu sich.

Sie wollte sich erheben, aber noch einmal drückte er sie auf den Sitz zurück.

Der frühe Abend war herabgesunken, Schatten umlagerten seine Gestalt, die, dem Lichte abgewandt, sich in Dunkel hüllte, so daß sie kaum mehr als seine Stimme von ihm gewahrte.

»Ja, ja,« fuhr er zu klagen fort, »Geschäft ist Geschäft, daran läßt sich nichts ändern. Aber ein Narr war ich doch, daß ich mich von den Weibern so kleinkriegen ließ. Überhaupt, diese Weiber. Du bist ja selber eins, my darling, und mit deinen Sechzehn schon ein sehr zu beachtendes, aber gerade darum hätt' ich mit dir vorliebnehmen müssen. ›Vorlieb nehmen‹ ist gar nicht das richtige Wort … Reich geworden wär' ich mit dir, ein Glückspilz wär' ich geworden mit dir, wenn ich mir Mühe gegeben hätte, dich liebzuhaben, so daß auch du mich liebhaben mußtest, denn du bist das Poetischste und das Praktischste und das Weiblichste, das man sich denken kann. Eine liebe, liebe kleine Freundin hätt' ich an dir gehabt, wie sie so bald nicht wieder zu finden ist. Statt dessen ließ ich dich bloß so nebenher laufen und bandelte mit jeder an, die mir vor die Flinte kam … Was du dabei ausgehalten haben mußt, das überleg' ich noch nicht einmal, obgleich ich dir eigentlich auf den Knien abbitten müßte. Hübsch wär' es mit dir gewesen; wie sehr, das kann man sich gar nicht vorstellen – und nu is alles vermasselt.«

Purzelchen glaubte, ihn in seiner Zerknirschung trösten zu müssen.

»Ach Gott, Herr Doktor,« sagte sie, » wenn auch! Als mein Freund wieder auftauchte, da wär' es doch zu Ende gewesen.«

»Welcher Freund?« fragte er aufhorchend. »Derselbe, der nun der Verlobte ist – oder – oder – der – von heute?«

Sie beachtete die Frage nicht mehr, denn als er die letzten Worte aussprach, da ging's ihr wie ein Messerstich quer durch die Brust.

Bisher war sie bei dem Gedanken an Fritz von einem Gefühl der Genugtuung besessen gewesen, das fast einem Triumphe gleichkam. Jetzt – mit einem Male – überfiel sie eine tödliche Angst. – Wovor? Sie hätte es nicht zu sagen gewußt, denn das Schlimmste, das Grausamste kam ihr noch gar nicht zu Sinn. Nur ein Ahnen war da, das ihr zurief: ›Die Sache kann schief gehen.‹

Mit einem Ruck fuhr sie hoch.

»Ich muß fort, Herr Doktor,« stammelte sie.

»Willst du mir wenigstens nicht noch 'n Umschlag machen?« wehklagte er.

Das konnte sie ihm unmöglich verweigern, aber sie nahm sich kaum die Zeit, die warmgewordenen Läppchen auskühlen zu lassen.

Und jetzt war sie fertig. ›Dem Techniker kann ich schreiben,‹ dachte sie. Und sonst band sie nichts mehr an diesen Ort.

»Leben Sie wohl, recht wohl, Herr Doktor,« sagte sie mit einem richtigen Kinderknicks. »Und – und – ich – bedank' mich auch schön.«

Damit war sie draußen.


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