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Siebzehntes Kapitel.
Eine wahrhaft große Partie

Am nächsten Morgen sagte Gudrun, die zum Wecken an Purzelchens Bette trat: »Wer hat dir die mächtige Beule geschlagen?«

»Mein Bräutjam,« erwiderte sie kaltschnäuzig und drehte sich noch einmal gegen die Wand.

»Quatsch nich, Krause!« ermahnte Gudrun, sie vollends wachkitzelnd.

Und da mußte sie sich wohl oder übel herbeilassen, die Schlafträgheit von sich zu schütteln und zu erzählen, wie alles gekommen war.

»Was wird bloß dein Freund dazu sagen!« meinte Gudrun nach den üblichen Glückwunschküssen, leuchtend vor hungriger Neugier.

»Welcher Freund?« fragte Purzelchen aus tiefer Ahnungslosigkeit heraus.

»Tu man nich so,« schalt Gudrun. »Dumm machen lass' ich mich nicht.«

»Meinst du Willi oder Kurt oder Hans Joachim?« fragte Purzelchen weiter.

»Du bist in dem letzten Vierteljahr ein so raffiniertes kleines Luder geworden,« fuhr Gudrun zu schelten fort, »daß du dich nächstens mit mir wirst messen können. So was kommt nicht, ohne daß man was zu verheimlichen hat.«

Und in tiefem Sinnen zu ihrem Bette zurückkehrend, murmelte sie wie schon manches Mal: »Wenn ich bloß wüßte, wo ich ihm früher begegnet bin!«

»Gleich nach dem Geburtstag fahren wir schon hinüber,« berichtete Purzelchen, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Er nimmt eine Staatskabine, hat er gesagt. Das ist das Feinste und das Teuerste, hat er gesagt.«

»Werdet ihr korrespondieren?« fragte Gudrun, die sich so leicht von ihrem Thema nicht abbringen ließ.

»Wenn wir zusammen fahren, wieso denn?« parierte Purzelchen.

»Nun mal ganz im Ernst!« forderte Gudrun. »Du verheiratest dich doch, nicht wahr? Du ziehst in ein anderes Land, nicht wahr? Sogar nach Südamerika ziehst du. Was willst du da noch mit ihm? Wenn du eine gute Schwester bist, dann kannst du ihn mir doch hinterlassen.«

Da aber wurde Purzelchen ernstlich böse.

»Weißt du, was du bist? Eine ganz gemeine Erbschleicherin bist du. Jawohl. Und nun sag' ich es dir gerad nich. Von Herrn Gerberding kannst du erfahren, soviel du willst. Aber von sonst wem rein gar nichts.«

Da sah Gudrun wohl ein, daß sie zu happig gewesen war, denn sie schimpfte nicht im mindesten wider, sondern murmelte nur vor sich hin: »Wenn ich bloß wüßte! Wenn ich bloß wüßte!« – –

Und bald darauf kam der Spektakel mit Papa und Mama.

»O du Geliebtes! O du Süßes! Werde glücklich, mein Kind! Liebe deinen Mann! Und leide nicht zu sehr unter dem bitteren Heimweh! Und wenn auch der Ozean uns trennt, überall ist es schön in der Welt, wo liebende Arme einen umfangen!«

Und so dergleichen. Wie es im vorigen Jahrhundert wohl Sitte gewesen war. – –

»Ist dir ein Unglück passiert, my deary?« fragte an dem gleichen Morgen der Doktor, auf die Beule hinweisend.

»Jawohl,« erwiderte Purzelchen patzig. »Ich hab' mich verlobt.«

Zuerst machte er ein sehr verdutztes Gesicht, dann aber ließ er seinen Gefühlen umso freieren Lauf.

»A – o, wie mich das freut! A – o, wie ich dir da Glück wünsche!« So gerührt war er, daß das »o« in seinem amerikanischen Munde wie »au« klang.

Auch im übrigen erwachte er zu sehr verdächtiger Zärtlichkeit, so daß Purzelchen, das sich seit einiger Zeit vor ihm in Sicherheit glaubte, wieder ängstlich zu werden begann.

Aber als sie ihm erzählt hatte, welch ein glänzendes Los ihr bevorstand, und er die Forderung stellte, trotzdem bis zum ersten Oktober bei ihm zu bleiben, zögerte sie nicht, ihm das zu versprechen, denn sie überlegte sich rasch, daß sie auf diese Weise tagsüber wenigstens von Herrn Gerberdings Aufsicht verschont blieb und, ohne Verdacht zu erregen, manche Stunde gewinnen konnte, um mit Fritz zusammen zu sein.

Und so kam's in der Tat.

Der Augenblick, in dem ihre Tätigkeit endete, war niemals vorauszubestimmen, und wenn Herr Gerberding, wie es am Anfang geschah, sich einfallen ließ, vor dem Hause Posto zu fassen, dann brauchte sie nur aus dem Fenster zu gucken, um sich drüber klar zu sein, daß Pflichten in Menge ihrer noch warteten. – Bald war dieses zu putzen, bald das; oder sie kroch zu einem Schwatz bei dem alten Techniker unter, der als einziger in der Wohnung – denn auch Johnny folgte dem Doktor bald – bis zur Nacht hin über der Arbeit zurückblieb und glücklich war, in dem frischen, ihn umschmeichelnden Kinde eine abendliche Gefährtin zu finden.

So daß Herr Gerberding diese Art von Liebesdrang alsbald aufgab und der Weg zu Fritz wieder frei wurde.

»Fritz. Mein Fritz. Mein lieber – lieber – lieber Fritz!«

Das war ihr A und O im Wachen und Träumen.

Nun blieben noch zwei Monate und acht Tage, dann bald nur zwei Monate und drei Tage. Und so wurde die Galgenfrist immer kürzer.

Eines Nachmittags, als sie sich wieder eine halbe Stunde für ihn abgestohlen hatte und auf dem Greifensofa neben ihm saß, da sagte er: »Weißt du, Liebling, es gibt eine Möglichkeit, daß wir auch abends zusammensein könnten, während wir uns notgedrungen mit Braut und Bräutigam herumamüsieren.«

Purzelchen lachte hellauf, als erzählte er Märchen.

»Nein, nein. Es ist wirklich so. Ellinor hat nämlich in meiner Brieftasche dein Bild entdeckt und wurde zuerst sehr eifersüchtig. Als sie aber hörte, daß ich dich bei Herrn Samuel zufällig getroffen habe und daß du mit einem reichen Manne aus Übersee verlobt seiest, da wurde sie neugierig auf dich und sagte, das mache sich gut, dann könnten wir bisweilen zu vieren auf den Bummel gehen. Zuerst aber wolle sie dich allein kennenlernen, und du möchtest sie an einem der nächsten Nachmittage in ihrer Wohnung besuchen.«

Purzelchen wehrte sich heftig. Erstens habe sie Angst vor ihr, zweitens möchte sie sie am liebsten vergiften, und drittens sei ihr nicht klar, ob sie ihm bei den geplanten Zusammenkünften nicht eines Tages um den Hals fallen würde.

Aber schließlich siegte in ihr das Verlangen, häufiger in seiner Nähe zu sein. Und wiewohl ihr bei dem bloßen Gedanken, der glücklichen Nebenbuhlerin gegenüberzustehen, das Herz noch heftiger schlug, willigte sie ein, deren Wunsche Folge zu geben.

»Aber du mußt mitkommen,« bat sie, »sonst fehlt mir dazu die Courage.«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich dich hinführe, schöpft sie am Ende Verdacht. Ich werd' ihr sagen, ich hätte dir durch Herrn Samuel von ihrer Einladung geschrieben und überließe das übrige dir. Bis sieben ist sie immer zu Hause.«

Schweren Herzens fügte Purzelchen sich und trat zwei Tage später den Gang nach dem vornehmen Pensionat an, in dem Fräulein Ellinor Schmitz drei Zimmer bewohnte.

Ein Portier mit goldenem Zwicker und goldenen Borten empfing sie. Hinter dem Vestibül ein Empfangssalon – ganz in Lila – mit samtnen Klubsesseln und venezianischen Spiegeln.

›O Gott,‹ dachte Purzelchen, ›wenn schon das Wartezimmer so fein ist.‹

Ein Trost war's, daß sie so ganz dazu stimmte. Denn sie hatte das lila Crêpe-Georgette-Kleidchen an, das sie sich zur Verlobung angeschafft hatte, und Schühchen von mattlila Schlangenleder. Wenn sie sich in dem venezianischen Spiegel betrachtete, sah sie aus wie hineingeboren.

Der Portier kam zurück und forderte sie auf, ihm zu folgen.

Ein Fahrstuhl mit lila gepolsterten Wänden. Auch das stimmte noch.

Aber dann tat eine Türe sich auf, dahinter war alles in Weiß. Weiße Möbel, weiße Felle, sogar die Bilder von weißen Rahmen umgeben.

Und in all dem Weiß eine weiße Gestalt, die langsam von dem Ruhebett aufstand. Langwallend das Kleid. Königlich jede Bewegung.

Purzelchen stand in der Tür und dachte: ›Hätte ich noch einen Karton in der Hand, dann säh' ich gegen sie aus wie ein Laufmädel.‹

So sehr hatte diese Erscheinung sie aufs neue entmutigt.

Eine blitzend beringte Hand streckte sich ihr entgegen.

»So jung sind Sie noch,« sagte eine klirrende Stimme, »und wollen schon heiraten? … Aber kommen Sie und setzen Sie sich. Trinken Sie einen Likör? Ich habe davon die verschiedensten Sorten. Sehen Sie da. Sie können sich aussuchen.«

Damit wies sie nach einem Tischchen auf Rädern, das mit lauter blitzenden Flaschen besetzt war. Dieses Tischchen sah aus wie einer der Wagen bei »Adlon«.

So befangen war Purzelchen, daß sie nicht Nein zu sagen wagte, und gleich darauf stand eine Art Blumenkelch neben ihr, der zu zwei Dritteln mit einer goldgrünen Flüssigkeit angefüllt war.

»Stoßen wir an auf künftige Freundschaft,« sagte Fräulein Ellinor Schmitz, streckte, ihr Glas hebend, den kleinen Finger nach Purzelchens Hand aus und ließ dazu einen saugenden Pfiff ertönen, wie ihn Purzelchen sonst nur von Männerlippen gehört hatte.

»Sie wollen verzeihen, daß ich mich wieder hinlege,« fuhr sie in klagendem Tonfall fort, nachdem sie das Glas geleert hatte. »Ich bin nicht ganz wohl. Ich habe immer so Kreuzschmerzen.«

»Aber bitte,« sagte Purzelchen beflissen, ja, sie sprang sogar auf und legte ihr das Eisbärfell über die Füße. So sehr fühlte sie sich als die Dienende fremder Herrschgewalt gegenüber.

Während Fräulein Ellinor sich halb wohlig, halb schmerzhaft in all ihren Kissen dehnte, konnte Purzelchen sie in Ruhe betrachten.

Den aufgeworfenen Mund hatte der Lippenstift zu einem zweizipfligen Blutfleck gemacht. Das aschenfarbige Blondhaar, das den Kopf wie eine Wolkenhaube umgab, sprühte hie und da Funken. Wahrscheinlich saß Goldpuder darin. Wangen und Kinn leuchteten milchweiß, kaum daß ein rosiger Anhauch das sparsam verwendete Rouge erraten ließ. Alles war üppig und lieblich zugleich. Nur die Augen: kühle, strenge, fordernde Augen, Augen, die Purzelchen schon im Bilde Angst gemacht hatten. Augen, in denen das Gönnertum selbst noch einschüchternd wirkte.

Nachdem sie sich eine Zigarette zwischen die lächelnden Beißzähne gesteckt hatte – Purzelchen dankte bescheiden –, begann sie mit ihrer metallisch klirrenden Stimme: »Und nun erzählen Sie mir von Ihrer Verlobung, wie ich Ihnen dann auch von meiner erzählen werde. Obwohl ich nicht einsehe, warum wir Frauen eigentlich heiraten. Wenigstens, solang wir noch jung sind und das Leben leben können, je nachdem es uns passend erscheint.«

Während sie die Worte »Leben leben können« aussprach, machte sie mit dem rechten Arm eine S-förmige Bewegung, die in der gen Himmel erhobenen Hand ihren Abschluß fand.

Und als sie sich wieder zurechtgelegt hatte, fuhr sie fort:

»Man hat uns neuerdings eingeredet, daß wir einen Beruf haben müßten, ohne zu bedenken, daß der jahrtausendalte Frauen- und Mutterberuf damit automatisch ins Hintertreffen gerät. Einen eigentlichen Beruf habe ich nun freilich nicht, das heißt, ich habe deren mehrere. Ich chauffiere, ich photographiere, ich zeichne für meine Kleider selbst die Modelle, ich habe mich auch auf Tennisturnieren nicht ganz unvorteilhaft hervorgetan, obwohl die mit dem Training verbundenen Anstrengungen mir immer etwas Kreuzschmerzen machen. Darum habe ich dies auch wieder aufgegeben … Und welchen Beruf haben Sie, liebes Fräulein?«

»Ich bin Assistentin bei einem Zahnarzt,« erwiderte Purzelchen.

Fräulein Ellinor stutzte.

»Wie – immer noch? Obwohl Sie, wie ich hörte, dicht vor einer reichen Heirat stehen?«

»Ich bin bis Oktober gebunden,« erwiderte Purzelchen.

»So, so. Oh, das ist sehr interessant. Und für mich umso interessanter, als ich – apropos: Lieben Sie Süßigkeiten?«

Damit griff sie nach einer ovalen Büchse aus Gold und Kristall, aus der ein schwarzscholliger Hügel von Schokolade emporstieg.

Purzelchen versteckte den Schauder, der sie stets überkam, wenn die Möglichkeit, ein Pralinee in den Mund stecken zu müssen, an sie herantrat, und verneinte bescheiden.

Fräulein Ellinor bediente sich umso reichlicher und erwiderte kauend: »Ich, sehen Sie, liebe sie sehr. Und was sagen Sie dazu? Ich habe das Glück, daß meine Linie dadurch nicht beeinflußt wird. Ja, was wollte ich doch? Ja – ich leide daher immer etwas an den Zähnen. Vielleicht ist es auch schon ererbt … Glauben Sie – ganz unparteiisch, nicht wahr – ich denke, ich kann mich auf Sie verlassen –, daß ich bei Ihrem Chef gut aufgehoben wäre?«

»Das will ich meinen,« erwiderte Purzelchen mit unwillkürlichem Stolze. »Unser Atelier gilt allgemein als das eleganteste im ganzen Berliner Westen.«

»Famos,« erwiderte Fräulein Ellinor und notierte sich Adresse und Telephonnummer, wie Purzelchen sie ihr angab.

»So, und nun erzählen Sie mir von Ihrer Heirat!«

Purzelchen hatte ein dumpfes Gefühl, daß gegenüber dieser Großstiligkeit mit Herrn Gerberding nicht viel Staat zu machen sein würde. Von dem Umfang seines Vermögens wußte sie nichts, und daß er im »Adlon« wohnte und daß er drüben zwei Autos besaß, würde ohne besonderen Eindruck geblieben sein.

Darum sagte sie nur: »Er hat in Buenos Aires ein großes Importgeschäft und ist ein sehr netter Mann. Ein sehr liebenswürdiger Mann ist er. Ja.«

»So, so. So, so.« Und dann sich halb aufrichtend, mit gerunzelten Brauen: »Haben Ihre Eltern Erkundigungen eingezogen?«

»Erkundigungen – worüber?« stammelte Purzelchen.

»Nun, über seine flüssigen Gelder – über den Kredit seiner Firma, über alles, was man so wissen muß. Dazu sind die Auskunftsbüros ja da. Die haben ihr Netz über die ganze Erde gespannt und wissen da drüben genau so Bescheid wie etwa in Soest oder Essen.«

›Soest? Soest? Schmitzens in Soest?‹ fuhr es Purzelchen durch den Kopf. ›Wo hab' ich diese beiden Namen doch schon zusammen gehört?‹

Aber zu fragen wagte sie nicht.

»Wenn Sie eine Empfehlung an den ›Argus‹ oder an Schimmelpfeng haben wollen,« fuhr Fräulein Ellinor fort, »die kann ich Ihnen gleich geben. Sehen Sie, da bin ich besser daran. ›Von Nadolny‹ – nicht wahr? Gute alte Familie. Geadelt schon unter Friedrich dem Großen – zum Unterschiede von den bürgerlichen Nadolnys, die Sie im Adreßbuch zu Dutzenden finden. Verarmt ganz und gar. Aber anständig verarmt. Und darum muß ich auch mit meinem Verlobten Geduld haben, wenn er in Aussehen und Wesen nicht auf der Höhe der Zeit ist.«

Purzelchen fühlte, wie eine Schamröte für Fritz sie heiß überflutete. Wenn auch die graugelben Wollstrümpfe ausgedient hatten, wie ein richtiger Gent sah er noch lange nicht aus. Und rasch bedachte sie: ›Er muß eins von den Silberstücken verkaufen, und dann fahr' ich mit ihm zu Herberts Schneider, damit er ihn ausstaffiert.‹

Und Fräulein Ellinor fuhr fort: »Wäre er nicht so eigenartig in Geldsachen, dann hätt' ich es leichter mit ihm. Anderseits aber gefällt mir das. Alte Adelstradition, nicht wahr? Man lächelt ja drüber, aber schließlich, es ist Ästhetik darin. Und wenn man nichts weiter wie Schmitz heißt und aus Soest stammt – oh, die Geschäftswelt weiß das zu schätzen –«

›Schmitzens aus Soest?‹ fragte sich Purzelchen wieder.

»– in gewissen Kreisen heißt das nicht viel weniger als früher Stinnes aus Mülheim, aber in anderen heißt es rein gar nichts – und darum ist der Wohlklang, der in dem Namen ›von Nadolny‹ liegt, eine Empfehlung, die einem ein Krönchen ins Haar setzt. – Kennen Sie ihn übrigens näher, meinen Verlobten?«

»Ach nein!« erwiderte Purzelchen und dachte bei sich: ›Röter, als ich schon war, kann ich gar nicht mehr werden.‹

»Wie ist er eigentlich zu Ihrem Bilde gekommen?«

Das war nun eine Gewissensfrage, aber Purzelchen, die sie erwartete, hatte die Antwort längst schon in petto: »Ich trug die Karte zufällig bei mir, als wir bei Herrn Samuel zusammentrafen. Sie gefiel den drei Herren, darum baten sie mich, sie ihnen zu schenken, und dann rieten sie aus, wer sie behalten durfte.«

Mit dieser Erklärung war Fräulein Ellinor augenscheinlich zufrieden, denn sie ging sofort auf ein anderes Thema über: »Ja, dieser Herr Samuel. Da sitzt nun wieder ein Rätsel bei meinem Verlobten. – Ich will das Nadolnien, das ist nämlich das verlorengegangene Erbgut –«

»Ach, so, so,« sagte Purzelchen, als ob sie ganz was Neues erführe.

»– recht gerne zurückkaufen. Schließlich, warum nicht? Es kommt mir nicht darauf an, und wenn man auch höchstens drei Wochen im Jahre dort aushält, profitieren tut man ja doch dabei. ›Frau von Nadolny auf Nadolnien‹, klingt das nicht wirklich ganz hübsch?«

»O ja,« sagte Purzelchen mit einem Seufzer, in dem alle die Male, da sie sich diesen Namen vorgesagt hatte, einen Widerhall fanden.

»Aber nun denken Sie: Er will nicht. Will einfach nicht. Und warum will er nicht? ›Weil Herr Samuel dich überteuert‹, wie er großmütig sagt. Nun frag' ich Sie: Wenn ich mir keine Schmerzen mache, was macht er sich welche? – Man kann das Noblesse nennen – man kann es auch anders nennen.«

Purzelchen richtete sich steil auf.

»Ach nein,« sagte sie leise, doch sehr bestimmt, »ich glaube, anders kann man das gar nicht nennen.«

Fräulein Ellinor maß sie verwundert und fragte: »Was machen Sie mit einmal für große Augen, Fräulein Lüdicke?«

»Ach wo doch!« entschuldigte Purzelchen ihr Benehmen und sank dann wieder in sich zusammen.

»Übrigens – Lüdicke – Lüdicke!« sann Fräulein Ellinor nach, »wo ist mir der Name doch schon begegnet?«

»Genau so geht es mir mit Ihrem Namen, Fräulein Schmitz,« rief Purzelchen lebhaft.

»Nun, das mag schon sein,« erwiderte jene mit einem Lächeln nachsichtigen Hohnes. »Dort ist der Name so allgemein wie hier etwa Schulz oder Müller. Nur gerade in Soest – da verbindet man noch etwas andere Vorstellungen damit.«

›Krupps auf Hügel – Schmitzens in Soest‹ und so weiter.

Purzelchen fuhr hoch auf.

»Oh, jetzt weiß ich,« rief sie voll Freude. »Herr Gerberding – ich wollte sagen, mein Verlobter – steht nämlich in Geschäftsverbindung mit Ihrem Hause – und ist auch in der Familie eingeladen gewesen; das hat er mir selber erzählt.«

»Soo?« sagte Fräulein Ellinor Schmitz mit stark betontem Respekte. »Dann muß das eine sehr bedeutende Geschäftsverbindung gewesen sein. Und umso mehr würde es mich freuen, mit Ihrem Herrn Verlobten zusammenzukommen, damit wir unsere Eindrücke über die Schmitzsche Sippschaft austauschen können. Ich bin ihr nämlich fremder als er. Ich stehe nur in Geschäftsverbindung mit ihr.«

Purzelchen mußte wohl angesichts ihrer Erklärung ein ziemlich verdutztes Gesicht gemacht haben, denn beruhigend fuhr sie fort: »Ach, wissen Sie, das ist gar nicht so schlimm. Man kann diese G. m. b. H.-Beziehungen auch ohne besonderen Aufwand an Gemüt betreiben. Besonders, wenn einem ein brauchbarer Rechtsanwalt hilfreich zur Seite steht. Betrogen wird man natürlich doch. Aber interessieren würd' es mich immerhin, zu erfahren, wie es zurzeit im Busen meiner werten Familie wohl aussieht. Vielleicht können wir eine Zusammenkunft gleich heute verabreden. Immer zu zweien, das ist sowieso etwas ermüdend. Haben Sie diese Bemerkung nicht auch schon gemacht?«

Herrn Gerberding betreffend stimmte es ja. Aber – o Gott! ›Wenn ich mit Fritz zusammensein könnte, ich würde niemals ermüden.‹

So dachte Purzelchen, während sie schweigend vor sich niedernickte.

»Ja, ja,« fuhr Fräulein Ellinor seufzend fort. »Jedes Gebundensein hat seine fatale Seite. Man will eben das Leben – leben« – und wieder machte sie die S-förmige Kurve, die Purzelchen bei gleichem Anlaß schon einmal an ihr bemerkt hatte –, »doch wo man es auch zu fassen vermeint, da ist es nur mangelhaft da. Die Fülle, wissen Sie, fehlt. Der Farbenglanz fehlt … Trinken Sie noch einen Likör? Aber Sie haben ja Ihren noch kaum einmal angerührt. Trinken Sie, mein kleines Fräulein. Ich habe Sie lieb, mein kleines Fräulein. Wenn Sie willig wären, wir könnten uns manche trübe Stunde erheitern. Darauf wollen wir anstoßen – ja?«

»Ich geh' nun ja – bald – außer Landes,« stammelte Purzelchen, der bei diesen Worten – sie wußte selbst nicht warum – das Herz sich zusammenzog.

»Das ist allerdings schade,« erwiderte Fräulein Ellinor, »aber bis dahin haben wir immer noch etwas Zeit, uns liebzugewinnen. Oder vielmehr, daß Sie mich liebgewinnen. Denn, wie gesagt, ich hab' Sie schon lieb.«

Purzelchen war aufgestanden und rüstete sich zum Fortgehen.

Aber Fräulein Ellinor Schmitz war hiermit durchaus nicht einverstanden.

»Nein, nein, Sie müssen noch bleiben!« rief sie, nach ihrer Hand hin greifend. »Mindestens wollen wir den demnächstigen Quartettabend gleich festlegen. Wäre Ihnen zum Beispiel der morgige recht?«

»Da müßte ich noch Herrn Ger –, ich meinte, meinen Verlobten fragen,« stammelte Purzelchen.

Fräulein Ellinor Schmitz hob mit bedeutsamem Lächeln den Kopf aus den Kissen.

»Mein geliebtes Kind,« sagte sie, »nehmen Sie von einer älteren Freundin eine Lehre an: Man muß niemals fragen. Bestimmen muß man. Damit ist der andere Teil in die Defensive gedrängt. Und wenn er nicht will, dann hat man einen Grund, ihm böse zu sein. Nicht auf das Gutsein – auf das rechtzeitige Bösesein kommt es an. Das ist ein wichtiges Erziehungsmittel, das man nicht aus der Hand geben darf. Innerlich muß man natürlich über der Sache stehen, man kann sogar den Wunsch haben, ihn beim Schopfe zu nehmen und zu sagen: ›Du dummer Kerl!‹ Aber ich würde es nicht ratsam finden, dieser Regung nachzugeben. In solchen Augenblicken gewiß nicht … Wann also wären Sie morgen frei? Um sieben – ja?«

Purzelchen nickte ergeben.

»Gut. Holt mich dann ab. Herr von Nadolny wird auch dasein, dafür werd' ich heute schon sorgen. Und dann ziehen wir los – unsere verehrten Bräutigämmer im Schlepptau.«

Damit erhob sie sich von dem Ruhebett, nahm Purzelchens Kopf zwischen ihre Hände und küßte sie auf Wangen und Mund.

Purzelchen hatte dasselbe Gefühl des Schauderns, nur heftiger noch als zuvor, da von den Süßigkeiten die Rede gewesen war.

Wie gehetzt rannte sie auf die Straße hinunter.

Und immerzu murmelte sie vor sich hin: ›Der arme Junge! Der arme Junge!‹


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