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»Mein süßes Annemiechen,« sagte Herr Gerberding, »warum trägst du eigentlich die hübsche Armbanduhr nicht, die ich mir erlaubt habe dir als Brautgeschenk zu überreichen? Sie ist ein Gelegenheitskauf und wirklich recht preiswert. Ich dachte, daß ich Ehre einlegen würde damit.«
»Du mußt schon verzeihen, lieber Theodor,« erwiderte Purzelchen, »solange ich nicht verheiratet bin, möchte ich lieber gar keinen Schmuck tragen. Auch die Halskette ist viel zu prachtvoll für mich. Zu solchen schweren goldenen Gliedern gehört der Hals einer reifen Frau. Mama, die könnte sie tragen, aber nicht ich.«
»Diese Halskette ist gleichfalls ein Gelegenheitskauf,« erwiderte Herr Gerberding. »Der Antiquitätenhändler hatte einen ganzen, hundert Jahre alten Schmuck, den er mir zum Goldwerte überließ und den ich dir nach und nach schenken werde. Da ist zum Beispiel ein Diadem, aus lauter goldenen Weizenähren bestehend, das sich wie ein Erntekranz ins Haar flechten läßt. Du wirst herrlich aussehen darin.«
›Jawohl, auf dem Maskenball,‹ dachte Purzelchen, aber um ihn nicht zu betrüben, mußte sie ihm ein freundliches und dankbares Lächeln bezeigen. Das brachte die Sachlage mit sich.
Herr Gerberding hatte die Gewohnheit angenommen, ganze Tage lang in den Trödelläden herumzustöbern, um allerhand Kram, der kostbar aussah und billig angeboten wurde, für sie und den künftigen Haushalt zu ergattern, und da er von allen diesen Dingen nicht das mindeste verstand, so gab es keinerlei Schund, den er sich von den schlauen Verkäufern nicht aufschwatzen ließ.
Verschämt und auf Lobsprüche hoffend, erschien er abends mit irgend einer Probe, der, wenn sie eine günstige Aufnahme gefunden hatte, an den nächsten Abenden die übrigen Stücke folgten, eines immer scheußlicher als das andere.
Er aber freute sich wie ein Kind, und noch ehe alles untergebracht war, ging er bereits nach einem anderen Abfall habgierig auf die Suche.
Auf den Bordbrettern des hinteren Korridors standen aneinandergereiht alte Öllampen, verrostete Fruchtschalen, sporentragende Ritter, spinnende Mägdelein, abgestoßene Kandelaber, japanische Ringkämpfer, versilberte Reiher mit roten Laternen im Schnabel und dergleichen mehr. Alles bestimmt, den Gerberdingschen Salon in Buenos Aires zu zieren.
Mama und Papa falteten längst vor Verzweiflung die Hände, und Gudrun prustete schon los, noch ehe der jüngste der Schätze ausgepackt war.
Heute saß das Brautpaar liebevoll bei Kempinski, ein Ort, den Herr Gerberding in letzter Zeit bevorzugte, weil das Essen gut war und die Rechnung, verglichen mit derjenigen der Hotelrestaurants, eine Ersparnis von vier bis fünf Mark aufwies, was für die Dauer ins Gewicht fallen mußte.
»Höre mir zu, mein geliebtes Bräutchen,« mahnte Herr Gerberding. »Da du nun die abscheuliche Sprechstunde los bist, so möchte ich dich doch mit der geziemenden Rücksichtnahme daran erinnern, daß es Zeit wird, ein wenig an die Aussteuer zu denken. Du siehst, ich mühe mich ab, um unserem künftigen Glücke einen würdigen Hintergrund zu verschaffen, nun mußt du aber auch das Deinige tun, um das persönliche Auftreten so stattlich wie möglich auszugestalten. In unserer künftigen Heimat gibt es ja, wie ich schon sagte, Modemagazine genug, aber in der ersten Klasse der großen Ozeandampfer achtet jede Dame sehr auf die andere. Und als meine jungvermählte Gattin darfst du hinter keiner zurückstehen.«
Purzelchen wurde sehr rot. Denn diese Frage hatte in den Familiengesprächen schon längst eine große Rolle gespielt.
Um es kurz zu sagen: Papa und Mama wollten versuchen, sich um die Aussteuer herumzudrücken. Hätte es sich um eine schlicht-bürgerliche Heirat gehandelt, so würden sie nicht gezögert haben, zu tun, was sich für Brauteltern schickt, den Forderungen aber, die eine »große Partie« an sie stellte, fühlten sie sich durchaus nicht gewachsen. Darum erklärten sie, abwarten zu wollen, bis Herr Gerberding selbst sich über diesen Punkt zu äußern beliebte, um ihm sodann zu eröffnen, daß er als Mann der großen Welt Sorge dafür zu tragen hätte, wie seine Gemahlin in ihrem Äußern hineinpaßte.
Purzelchen hatte sich dann immer so bedrückt und benommen gefühlt, daß es ihr unmöglich gewesen war, ein einziges bittendes Wort in die Wagschale zu werfen, jetzt plötzlich war ihr die Pistole auf die Brust gesetzt, und sie wußte nicht aus und nicht ein.
»Ach, lieber Theodor,« sagte sie, »vielleicht bist du so freundlich, mit den Eltern darüber zu reden. Ich selbst hab' ja keine anderen Mittel als die hundertachtzig Mark, die der Doktor mir neulich ausgezahlt hat.«
Herr Gerberding drückte gerührt ihre Hand, sie aber dachte: ›Wenn ich auch keinen Rat von ihr annehmen wollte, jetzt muß doch das Auskunftsbüro 'ran, denn anders komm' ich nicht von ihm los.‹ – –
Am nächsten Vormittag machte sie sich kühn auf den Weg.
Zuerst ging sie ins elterliche Geschäft, holte sich den zweiten Band des Adreßbuches unter der Theke hervor und studierte die Abteilung »Auskunfteien« mit Eifer und Umsicht. Die Kriminalkommissare und Detektive ließ sie beiseite, denn daß er wirklich ein Hochstapler war, auf ein solches Glück wagte sie nicht mehr zu hoffen. Aber wie er sich mit seinen Beziehungen zu den Familien Krupp und Jansen und Schmitz aufgespielt hatte, so konnte er auch der Bedeutung seines Geschäfts einen allzu glänzenden Anstrich verliehen haben.
Sollte der Gang noch so schwierig sein, gewagt mußte er werden, und wenn sie mit einem Zettel wiederkam, auf dem geschrieben stand: »Firma minderwertig« oder gar »Firma unbekannt«, dann war eine Waffe gewonnen, mit der sie den Eltern erfolgreich entgegenzutreten vermochte. – – –
Ein weiter Raum, durch ein tischähnliches Gitter in zwei fast gleiche Hälften geteilt.
Hinter dem Gitter Pulte mit schreibenden Herren. Mädchen mit Bubiköpfen und Schonern über den Ärmeln, nach anderen Zimmern schlendernd oder von dorther zurückkehrend … Türengeknall, Schreibmaschinengeklapper, Rascheln von Frühstückspapier und muffelnder Stumpfsinn.
Vor dem Gitter auf Bänken hockend vier oder fünf wartende Männer. Anscheinend Kommis von untergeordneter Gattung, mit Kontordienern gemischt, die man an ihren blanken Knöpfen ohne weiteres erkannte … Unter ihnen Zischeln und Lachen, das sich verstärkte, als Purzelchen, auf dieser Seite die einzige Frauensperson, mit ängstlichem Umblick vor den trennenden Tisch trat, während von drüben ein Fräulein herzukam, um ihre Wünsche kennenzulernen.
Statt einer Frage schob sie das Zettelchen, auf das sie die Worte »Theodor Gerberding, Buenos Aires« im voraus geschrieben hatte, der sie Bedienenden hin.
»Über diesen Herrn wünschen Sie Auskunft?«
»Jawohl.«
»Geschäftlicher oder persönlicher Natur?«
»Geschäftlicher. Und was würde das kosten?«
»Zwanzig Mark,« sagte das Fräulein.
›Gott sei Dank,‹ dachte Purzelchen, denn sie hatte sich das alles viel teurer gedacht.
»Wie lange wird es wohl dauern?« fragte sie.
»Vier Wochen,« sagte das Fräulein. »Vielleicht auch noch länger.«
Um Gottes willen. Sie hatte auf zehn Minuten gerechnet, und nun kam ihr diese Hiobspost in die Quere.
»So lange kann ich nicht warten,« stammelte sie.
»Ist es eine deutsche Firma?« fragte das Fräulein.
»Das sagt ja der Name,« erwiderte sie.
»Der Name würde nicht viel zu bedeuten haben. Aber wenn es eine deutsche Firma ist, wär' es wohl möglich, daß sich eine Auskunft in unserem Archive schon vorfindet. Wollen Sie warten, oder sollen wir Ihnen eine schriftliche Nachricht zusenden?«
Purzelchen überlegte. Der Brief konnte leicht in die Hände der Eltern fallen, und damit war ihr wenig gedient. Darum entschloß sie sich lieber fürs Warten.
Bisher war alles gut gegangen, als sie sich aber umwandte, bemerkte sie zu ihrem Schrecken, daß die Augen sämtlicher Wartenden, mit Hohn und Neugier geladen, sich auf sie richteten.
Ängstlich strich sie an sich hernieder, als hätte an ihrer Erscheinung irgend etwas Anlaß zum Aufsehen geboten, aber da war nichts, was sie beunruhigen konnte, und darum schritt sie tapfer einer der Lücken zu, die sie auf den Bänken gewahrte.
In den ersten Augenblicken herrschte Stille rings um sie her, nur ein anzügliches Räuspern und Schlucken bewies, daß man sich heimlich mit ihr beschäftigte.
Dann aber ging's los. »Ob der Schatz nu 'n kleener Swindler is oder nich, wer kann et wissen?« fragte der eine.
»Recht hat se,« erwiderte der andere, »klippeklar muß et sind, mit wem man poussiert.«
»Schließlich hat er noch elf andere Brauten,« meinte ein dritter, »und dann gibt's vor's Standesamt 'nen Volksauflauf.«
»Verßeihen Sie, Froilein,« sagte ihr Nachbar zur Linken, »wo haben Se 'n kennengelernt, in'n Omnibus oder bei's Schwofen?«
Und der zur Rechten erwiderte drauf: »Ach wo doch! In'n Kino hat se gesessen. Da hat ihr eener kille-kille jemacht, und dadraus haben sich zärtliche Beziehungen entwickelt. So is doch jewesen, kleines Froilein – nich?«
Bis dahin war das Gerede gediehen, da hielt Purzelchen sich nicht länger. Mit jähem Ruck sprang sie auf und stürzte zur Tür hinaus. Erst unten auf der Straße kamen ihr die Tränen der Scham und der Erbitterung.
Nein, so ging es nicht. Einer solchen Roheit war keine Willensstärke gewachsen.
Aber Gott sei Dank! Sie hatte ja Herbert. Wenn sie ihn bat, würde er statt ihrer tun, was vonnöten war, und ihn würde niemand veräppeln.
Am nächsten Vormittag pochte sie an seine Schlafzimmertür. In seiner brokatnen Morgenjacke, duftend, geölt und gepudert, trat er ihr mit herablassendem Gruße entgegen.
»Was verschafft mir die Ehre, Kleines?«
Stotternd, demütig, doch umso zielbewußter brachte sie ihr Anliegen vor.
»Also so weit sind wir doch schon,« sagte er billigend. »Ich glaube zwar nicht, daß wir auf diesem Wege Erfolg haben werden, aber man kann's ja probieren … Übrigens«, fuhr er fort, »wer hat dir diese gar nicht so dumme Sherlock-Holmes-Idee beigebracht? Du selbst bist doch für so was noch viel zuwenig gewitzt.«
»Ein Freund von mir«, erwiderte sie eifrig, »hat eine Verlobte, die ist sehr reich und sehr vielbegehrt. Die hat es mir selber geraten.«
»Diese reiche Verlobte scheint aber mit allen Hunden gehetzt,« lachte er. »Wer is es denn?«
»Fräulein Schmitz heißt sie,« erwiderte Purzelchen. »Sie ist eine Verwandte von den berühmten Schmitzens aus Soest.«
»So so! Is nich möglich!« sagte Herbert mit seinem niederträchtigsten Schmunzeln. »Den schönen Vornamen Ellinor führt sie – was?«
»Wie? Kennst du sie denn?« fragte Purzelchen in hellem Erstaunen.
»Ach Gott. Wie man sich so kennt,« erwiderte Herbert ganz obenhin. »Die war schon mit manchem verlobt. Mit mir zum Beispiel war se auch schon verlobt … Tableau! Was?«
Fürs erste war Purzelchen wirklich ganz platt, dann ermannte sie sich zu der schüchternen Frage, wie das gekommen sei.
Herbert meckerte vergnüglich in sich hinein.
»Wie das so kommt,« sagte er, »wenn man als Eintänzer angestellt ist und sich nicht gerade wie 'n Damenfriseur oder Zimmerkellner benimmt. Außerdem hat der Fliegerleutnant a. D. noch seine besondere Gloriole … Noble Kiste übrigens is sie. Als Produkt einer Kreuzung zwischen Großkapitalismus und weiblicher Mannsmoral mußte natürlich 'ne wilde Sache draus werden. Na, ich hätt' sie mir schon noch gezähmt, aber, wie sie dir sagte, sie hält's mit den Auskunftsbüros. Und als sie erfahren hatte: Chauffeur und Schokoladenladen und so, da war's bei ihr mit den seriösen Absichten zu Ende. Und gerade da, mein Liebling, beginnt bei mir die Verschwiegenheit. Punktum. Sela … Na, und wie kamst du zu meiner Verfloßnen?«
»Ich – ich – ich,« stammelte Purzelchen, »ich – ich – ich – –«
»Aha,« sagte der Bruder, »ich wittere Kurzschluß und forsche nicht weiter. Statt dessen wollen wir mal sehen, was mit deinem Herrn Gerberding eigentlich los is.« – –
Doch leider behandelte Herbert, wie alles, auch diesen Auftrag als Bagatelle.
»Erst muß ich die Fahrerei hinter mir haben,« sagte er, als Purzelchen ihn tags darauf mahnte. »Dann kann ich schnüffeln gehen wie ein Dackel. Aber solange der Doktor für mich keinen Nachfolger hat, läßt er nicht locker, und ich kann nischt gegen machen, ich müßt' ihm gerade den Schädel einschlagen.«
»Aber du könntest doch mal ein bißchen früher aufstehen,« bat Purzelchen zaghaft.
Auf diesen Gedanken war er noch gar nicht gekommen.
»Ja, ja, könnt' ich,« meinte er gutmütig, und Purzelchen nahm sich vor, ihn nächstens schon vor neune zu wecken, nur fand sie den Mut nicht dazu.
Da – eines Abends, als Herr Gerberding wieder einmal im Hause war, um, wie er sagte, »im trauten Familienkreise zu weilen«, geschah es, daß zwischen ihm und den Eltern ein ernster Zwiespalt entstand.
»Meine teuren zukünftigen Verwandten,« begann er nach längerem Scharren und Räuspern, »erlauben Sie mir, daß ich eine vielleicht nicht ganz überflüssige Frage an Sie richte. Die Hochzeit rückt näher und näher – aber ich bemerke nicht, daß irgend jemand an Annemiechens Aussteuer denkt. Statt an dem Zephirschal für sich könnten Sie, verehrte Frau Mama, ebensogut an einem Hemdensaum für sie häkeln. Und wenn auch nicht viel dabei 'rauskommt, man sieht doch den guten Willen und freut sich.«
›Da hat er eigentlich recht,‹ dachte Purzelchen, wie sehr sie auch ihre künftige Heirat verabscheute, und schämte sich, daß sie im Augenblick nichts weiter tat als Papierkügelchen drehen.
Aber da hättet ihr Mama sehen sollen! Mit einem spitzen Ruck richtete sie sich in die Höhe, ihre schönen Augen funkelten giftig, jedes ihrer blondroten Haare schien Feuer zu sprühen.
»Mein lieber Herr Gerberding,« sagte sie mit verächtlich gekräuselten Lippen, »bisher hat noch niemand gewagt, mir über die Art meiner häuslichen Handarbeiten Vorschriften machen zu wollen. Auch mein Mann, der wohl der erste dazu wäre, hat es niemals getan. Was, lieber Gottfried?«
»Nun, nun,« sagte der gute Papa und legte die Hand beschwichtigend auf ihren Unterarm.
Aber sie ließ sich nicht irre machen.
»Und was die Aussteuer anbelangt, an die Sie mich glauben erinnern zu müssen, so können wir unmöglich den Ehrgeiz haben, mit einem Manne zu wetteifern, der sich rühmt, eine Eroberernatur zu sein, und seine künftige Frau an seinen Eroberungen teilnehmen lassen will. Wir geben ihm unser geliebtes Kind, so wie es ist, wir lassen es mit ihm in ein unbekanntes Land ziehen. Ich glaube nicht, daß dieses Vertrauen durch einen gehäkelten Hemdensaum bedeutend erhöht werden kann. Meinst du nicht auch, lieber Gottfried?«
»Nun, nun,« sagte Papa, »Herr Gerberding hat das gewiß nicht böse gemeint.«
»Ich hab' es im Gegenteil sehr gut gemeint,« erwiderte Herr Gerberding ziemlich kleinlaut, »ich meinte nur – ich meinte nur – –«
Weiter kam er nicht. Mamas Blick hielt ihn im Banne.
Da legte sich Gudrun ins Mittel, die vor dem Klavier saß und seit Beginn des Zwistes mit belustigtem Seitenblick zuhörte.
»Verzeihen Sie, Herr Gerberding,« sagte sie, »wenn Sie im Prinzip vielleicht auch recht haben, so glaube ich doch, daß Sie in der Weltgeschichte ein bißchen zurück sind. Vorbereitungen zur Aussteuer, wie unsere Großmütter sie liebten, gibt es heut überhaupt nicht mehr. Und wozu auch? In den Läden ist ja alles zu haben. Ich mache mich anheischig, den Trousseau einer Prinzessin an einem einzigen Vormittag zusammenzustellen, und brauche dazu noch nicht einmal einen Taxi. Wie ich meine Eltern kenne, wird am Tage der Hochzeit alles dasein, was ihren Verhältnissen entsprechend eine von uns Töchtern verlangen kann. Was darüber hinausgeht, dafür muß natürlich der junge Ehemann sorgen.«
Damit war die Chose erledigt, wie immer, wenn Gudrun das Heft in die Hand nahm.
Und ohne irgend eine Antwort abzuwarten, setzte sie sofort mit ein paar Arpeggien ein, als läge ihr daran, die nun folgende Versöhnung melodramatisch auszugestalten.
Purzelchen aber dachte, die Zähne zusammenbeißend: ›Morgen geh' ich zu ihm 'rein und weck' ihn.‹
Und so geschah's in der Tat.
»Du bist eine süße kleine Schmeißfliege,« schalt der Bruder, aus tiefen Träumen emporschreckend. »Reich mir die Zigaretten ans Bett, damit ich nicht wieder einschlaf'. Dann sollst du deinen Willen haben.«
Und eine halbe Stunde später kam er richtig zum Vorschein. – – –
Am nächsten Vormittag trat er, einen Zettel in der Hand, mit vernichtendem Lächeln vor Purzelchen hin.
»Das war ein kalter Anschlag,« sagte er, »geradeso, wie ich's vorausgesehen hatte. So'n kleener Mann hat viel zuwenig Phantasie, um ein richtiger Gentlemangauner zu werden. Außerdem: was wäre bei dir zu gewinnen? Das einzige, was allenfalls an dir wertvoll ist, nämlich dein Stiefbruder, das versteht so'n Schafskopp gar nicht zu würdigen.«
Die Auskunft, die auf dem Zettel stand, machte wirklich und wahrhaftig jede Hoffnung zunichte.
»Geschäft als aufblühend erachtet. Durchaus kreditwürdig. Unter den jüngeren deutschen Firmen eine der angesehensten.« Und so dergleichen.
Einfach zerschmetternd.
»Was fang' ich nun bloß an?« stammelte Purzelchen ratlos.
»Nimm ein schönes rosa Kuvert, parfümier es mit Chypre und schreib ihm einen gediegenen Absagebrief. Es wird doch nichts Rechtes mit ihm. Unser Purzelchen is klein, aber der Mann is noch viel kleiner, selbst wenn er das größte Geschäft hat in ganz Argentinien. Und bist du ihn los, dann werden wir beide probieren, ob unsere Zweisamkeit Glück hat.«
»Wie meinst du das?« fragte Purzelchen in ahnendem Erschrecken ob des Rätsels, das der Bruder ihr wieder mal aufgab.
Aber der lachte nur und ging seiner Wege.
Und nun – dalli!
Drei Stunden, vier Stunden, dann lag der Brief an Herrn Gerberding da.
Linienblatt, Radiergummi und mehrfache Umschrift.
Je näher der Zeitpunkt rücke, an dem sie die Heimat würde verlassen müssen, desto mehr sehe sie ein, daß sie die Trennung nicht würde ertragen können. Gewiß und wahrhaftig liebe sie ihn sehr, und das Leben an seiner Seite würde ohne Zweifel ein Glück für sie sein, aber das fremde Land und die weite Seereise, wo sie doch ohnehin das Wasserfahren gar nicht vertragen könne, und daß dort Sommer wäre, wenn hier Winter sei, das alles mache ihr furchtbare Angst. Und sie sei auch noch viel zu jung. Und überhaupt.
Schließlich hatte sie sich so sehr in Rührung hineingeschrieben, daß es auf dem Briefpapier fast noch mehr Tränen gab als Tintenflecke. Immerhin: Tränenspuren machten sich gut und konnten nur dazu beitragen, die Echtheit ihrer Gefühle außer Zweifel zu stellen.
Als der Brief zum Kasten getragen war, kam erst das Schwerste heran: den Eltern von ihrem Schritte Mitteilung zu machen. Denn bisher hatte sie alles beschlossen und getan, ohne irgend einem ein Wörtchen anzuvertrauen. Selbst die Schwester ahnte noch nichts. Doch gerade deren Beistand war unentbehrlich, sollte der Kampf mit den Eltern zu einem siegreichen Ende geführt werden.
Also Gudrun mußte heran.
Aber mit Gudrun war es seit einiger Zeit rein zum Verzweifeln.
Ihr ganzes Wesen schien ein großes Geheimnis. Sie erzählte nichts, sie wich jeder Frage aus, und wenn man weinte und bat, dann sagte sie nur schieflächelnd: »Glaubst du, ich kann ihm immerzu auf den Leib rücken? Ich muß hübsch warten, bis er mich einlädt. Außerdem hab' ich mit meinen Stunden zu tun.«
Und sie arbeitete in der Tat, wie es seit Menschengedenken nicht mehr geschehen war. Sie übte bis weit über die Grenze des Erlaubten hinaus, und wenn sie die Stimme schlechterdings nicht mehr anstrengen durfte, dann summte sie die zu erlernenden Stellen bei geschlossenen Lippen durch die Nase vor sich hin, so daß sie am nächsten Morgen schon festsaßen, als hätte sie tagelang an ihnen probiert.
Ihre Klavierstunden gab sie gewissenhaft, sowohl vormittags daheim als auch nachmittags im Hause der Schüler. Dies ließ sich am Telephon mit Leichtigkeit feststellen, aber wohin sie dann ging, wußten die Götter.
›Vielleicht ist sie jetzt bei Ihm,‹ dachte Purzelchen, und vor Angst schnürte sich ihr die Kehle zusammen.
Erschien die Schwester zum Abendessen, dann war sie erregt und zerstreut, maß mit den Augen die Winkel aus und tat, als sähe sie nicht, wie Purzelchens Blick in heißem Verlangen sich an sie klammerte.
Ans abendliche Ausgehen dachte sie kaum mehr. So solide war sie noch niemals gewesen. Daß sich neue und wichtige Dinge in ihrem Leben abspielten und daß Fritz daran nicht unbeteiligt war, darauf hätte man Gift nehmen können.
Trotzdem – ohne Gudrun ging nichts. – –
»Also, weißt du, Gudrun, ich hab' mich doch anders besonnen. Ich werd' lieber nicht heiraten. So weit weg von Fritz, das halt' ich nicht aus. Und wenn ich ihn auch nicht mehr zu sehen krieg', dieselbe Luft zu atmen mit ihm, das ist schon genug. Mehr Glück braucht man gar nicht auf Erden.«
Hatte Purzelchen etwa geglaubt, daß die Schwester ihr nach dieser Eröffnung beseligt um den Hals fallen würde, so war sie mächtig im Irrtum gewesen.
Im Gegenteil. Sie sah in ein erschrocken starrendes Augenpaar und sah einen geöffneten Mund, der vergebens nach Worten rang.
»Wie? – Du? – Du?«
»Ja. Was ist denn dabei? Ich hab' ihm schon abgeschrieben. Ich pfeif' auf seine zwei Autos. Ich fahr' lieber Elektrische.«
»Und die Eltern?«
»Die Eltern wissen noch nichts. – Aber ich sag' ihnen einfach, daß, wenn der Standesbeamte mich zwingt, ich soll unterzeichnen, dann spuck' ich ihm ins Gesicht.«
»Wann hast du Herrn Gerberding geschrieben?«
»Er kann den Brief jetzt bald haben.«
»Dann lauf zu ihm und bitt ihn, er möchte ihn dir uneröffnet zurückgeben, und sollte er ihn schon gelesen haben, dann sag, es wär' alles Unsinn und du hättest es dir wieder anders überlegt und – und – und –. Oder soll ich gehen für dich?«
Da wurde Purzelchen ernsthaft böse.
»Sieh mal an,« sagte sie, »ich dachte, du würdest mir helfen, daß ich nicht weg muß. Statt dessen ziehst du an Herrn Gerberdings Strang. Wenn dir das Glück so groß erscheint, dann heirat du ihn doch. Meinen Segen hast du.«
Gudrun, die vor dem Klavier saß, bohrte die Ellenbogen in die Tasten hinein. Es klang ganz abscheulich. Geradeso ratlos sah sie aus, wie Purzelchen früher gewesen war, ehe der große Entschluß sie mit fröhlichem Trotze erfüllt hatte.
Dabei fiel ihr ein, was Gudrun einstmals zu ihr gesagt hatte.
»Was willst du in Südamerika mit ihm?« hatte sie gesagt. »Wenn du eine gute Schwester bist, dann kannst du ihn mir doch hinterlassen.«
Und dabei hatte sie noch gar nicht einmal richtig gewußt, daß es Fritz war, mit dem sie heimlich verkehrte.
Das fiel ihr jetzt ein, und zugleich stieg der Verdacht in ihr hoch, daß sie sie mit Absicht weg haben wollte, um Fritz für sich allein zu besitzen.
Ein Haß gegen die Schwester fiel über sie her, wie sie ihn ähnlich im Leben noch niemals gekannt hatte.
Und aus diesem Haß rief eine Stimme ihr zu: ›Laß dir um Gottes willen nichts merken, dann hast du sie zur Feindin, und dann wird es immer noch schlimmer mit dir.‹
Alle ihre Heuchelkünste zusammennehmend, schmiegte sie sich ihr an und bettelte in kindlichem Tone: »Ach, bitte, bitte, liebe Gudrun! Hilf mir doch! Hilf mir doch, daß ich hierbleiben kann! Bitte, bitte, hilf mir doch!«
Schon in demselben Augenblicke erkannte sie, wie richtig sie gehandelt hatte, denn als sie sich hierbei vornüberneigte, geschah es, daß Gudrun ihren Kopf zwischen die Hände nahm, ihn auf ihren Schoß herabzog und streichelnd mit selbstvergessenden Augen auf sie herniedersah.
Dabei fühlte sie, daß der Haß, so rasch wie er gekommen war, auch wieder dahinschwand. Nicht ganz und gar. Aber beinahe.
Denn wenn die Schwester dies tat, dann war sie gar nicht so schlecht, und dann würde sie ihr auch Fritz nicht wegnehmen wollen.
Und aus dieser Empfindung heraus reckte sie die Arme nach ihr hoch und liebkoste sie nur umso zärtlicher.
»Wenn es dein heiliger Ernst ist – –« sprach die Schwester zu ihr hernieder.
»Ja, ja – o Gott, ja!« rief Purzelchen, die Hände inbrünstig faltend.
»– dann will ich dir helfen, gleichviel ob es – richtig ist – oder nicht.«
Damit sprang sie auf, und die Arme an die Hüften pressend, gab sie sich einen Ruck, während ein Rieseln ihr durch die Glieder lief. – –
An diesem Abend entwickelte sich im Lüdickeschen Hause das trauliche Familienleben ganz wie gewöhnlich.
Unter der perlenbehängten Lampe häkelte Mama ihr Zephirwollentuch für die demnächst einsetzende Kälte, Papa brütete auch heute über Rechnungen und Kuchenrezepten, und Gudrun phantasierte auf den Tasten herum.
»Wird Herr Gerberding mit dir ausgehen?« fragte Mama.
»Ich glaub' nicht,« sagte Purzelchen und warf einen hilfesuchenden Blick zur Schwester hinüber, aber die tat, als habe sie die Frage gar nicht gehört.
»Nun, dann wird er wohl den Abend mit uns zubringen wollen,« sagte Mama.
Gudrun seufzte sehr hörbar.
»Was hast du?« fragte Mama, sich nach ihr umwendend.
»Ach nur so,« meinte sie. »Sehr amüsant ist er nicht.«
»Du brauchst ihn ja auch nicht zu heiraten,« erwiderte Mama.
Dagegen ließ sich nichts erwidern, und Gudruns erste Attacke schien abgeschlagen, aber sie dachte nicht daran, sich einschüchtern zu lassen.
»Wir werden wohl nächstens den großen Einkauf beginnen müssen,« sagte sie und schlug einen kurzen, kräftigen Durakkord an.
»Welchen großen Einkauf?« fragte Mama mit einem argwöhnischen Kehrt zum Klavier hin, und auch Papa horchte auf.
»Wir haben ja seine Mahnung unlängst gehört,« erwiderte Gudrun. »Er scheint große Ausgaben von uns zu erwarten, denn er beruhigte sich erst, als ich von dem Trousseau einer Prinzessin zu reden anfing, den ich an einem einzigen Vormittag einzukaufen imstande wäre.«
»Das bedeutet noch nicht, daß du ihn auch wirklich einkaufen wirst,« sagte Mama in heftiger werdendem Tone.
»Sicherlich nicht,« erwiderte Gudrun, »aber es zeigt doch an, worauf er sich heimlich gefaßt macht.«
»Da kann er lang warten,« sagte Papa, sich durch den ergrauenden Haarbusch fahrend, »ich werde froh sein, wenn ich die Anzahlung für die Weihnachtsvorräte auftreiben kann.«
»Aber peinlich wird es schon sein,« beharrte Gudrun. »Es ist immer peinlich, seine Armut eingestehen zu müssen.«
»Von Armut kann bei uns nicht die Rede sein,« verwies sie Mama. »Wir gehören dem wohlsituierten Bürgerstande an. Das hat auch er längst begriffen.«
»Oh, dann wird es aber noch schlimmer,« erwiderte Gudrun. »Knickrigkeit will sich niemand gern vorwerfen lassen.«
»Ich weiß überhaupt nicht,« schalt Mama, immer mehr in Erregung geratend, »worauf der Mann seine Ansprüche gründet. Er erzählt zwar Wunderdinge von seinem fabelhaften Geschäft und seiner großartigen Lebensführung, aber wie sich's in Wahrheit verhält – –«
Gudrun spitzte ein wenig die Lippen, als wollte sie sagen: ›Da hab' ich dich nun mit Gottes Hilfe,‹ und den gleichen Faden weiterspinnend, fuhr sie fort: »Die Sachen, die er hier für die künftige Wirtschaft eingekauft hat, beweisen im Gegenteil, daß er auf einem sehr mäßigen Niveau zu leben gewohnt ist. Was da draußen im Korridor 'rumsteht, würden wir uns doch schämen, unseren Gästen vor Augen zu führen.«
»Armes Kind!« sagte Mama, einen klagenden Blick zu Purzelchen hinüberschickend.
»Und so wird's wahrscheinlich mit allem übrigen auch sein,« setzte Gudrun ihren Feldzug fort. »Ja, ich bin überzeugt, wenn wir Erkundigungen einziehen wollten, würden wir zu dem Resultate kommen, daß wir uns hüten müßten, unser Kind mit einem so unzuverlässigen Burschen in die Welt ziehen zu lassen.«
Bisher hatte Purzelchen, Männerchen malend, dem immer heftiger werdenden Gespräche zugehört, jetzt aber, da Gudrun Herrn Gerberdings geschäftliche Ehre in Zweifel zu ziehen begann, zwang sie ihr Gerechtigkeitsgefühl, für ihn Partei zu ergreifen. Wenn er wirklich mit den Krupps auf Hügel und den Schmitzens in Soest und den anderen reichen Leuten ein bißchen geschwindelt hatte, so war das nur ihr zu Liebe geschehen und er blieb immer noch ein ordentlicher Mensch.
»Verzeiht,« sagte sie schüchtern. »Solche Erkundigungen habe ich eingezogen.«
»Du?«, rief, in die Höhe fahrend, Papa, dem sein Gewissen zuraunen mochte, daß dieses seine Aufgabe gewesen wäre.
»Oder vielmehr Herbert hat es auf meine Bitte für mich getan.«
»Na, und?« riefen Papa und Mama. Derweilen warf Gudrun ihr einen ärgerlich zwinkernden Blick zu, der ihr bewies, wie sehr sie die Pläne der Schwester gestört hatte.
Aber sie ließ sich nicht irre machen. Sie wollte von Herrn Gerberding los – sicherlich wollte sie das –, aber schlecht gemacht durfte er darum nicht werden.
Statt einer Antwort holte sie das Blatt aus der Tasche, das Herbert ihr heimgebracht hatte, und legte es vor die Eltern hin.
Und – es ist kaum zu glauben, aber es war in der Tat so – die Wirkung zeigte mit der Enttäuschung, die diese Zeilen auf sie selber ausgeübt hatten, eine unverkennbare Ähnlichkeit.
So weit war Gudruns umstimmende Arbeit bereits gediehen.
Die hatte ihren Klavierstuhl verlassen und guckte den Eltern über die Schulter.
Wieder traf Purzelchen ihr ärgerlicher und Schweigen gebietender Blick. Dann sagte sie mit umso überlegenerer Ruhe: »Daß du ihn in Schutz nimmst, mein Kleines, ist nur natürlich. Auf dich kommt es aber hierbei nicht an. Wenn er einen Kommis engagiert oder für irgendwas eine von seinen berühmten Optionen haben will, dann mag so ein Wisch von Bedeutung sein, aber nicht, wenn –«
»Sehr richtig,« sagte Mama, und auch Papa nickte verständnisvoll.
»Übrigens, bei dem Wort Option fällt mir ein,« fuhr die Schwester unbarmherzig fort, »daß er sich schon am Beginn unserer Freundschaft um eine Option auf deine wundervollen Sahne-Mandel-Orange-Platten beworben hatte, lieber Papa. Das sind nun Monate her. Ich hab' nichts davon gehört, daß er bisher irgend etwas dafür getan hätte. Wenn er inzwischen auch hier war, wozu hat er bei sich zu Hause zwei Prokuristen sitzen? Entweder der Mann ist unfähig, oder das Ganze geschah nur, um dir zu Munde zu reden. Eins ist so schlimm wie das andere, und wenn man bedenkt, wie viel falsche Hoffnungen er in dir zu erwecken wußte –«
Papa war aufgesprungen und ging krachenden Schrittes im Zimmer auf und nieder. Man konnte recht sehen, wie wichtige Entschlüsse in ihm arbeiteten. So war er oft, der gute Papa. Er, der sonst nie zu einem Entschlusse kommen konnte, überraschte dann durch wahrhafte Revolutionen.
Mama dagegen saß regungslos da und schaute mit böse eingekniffenen Lippen vor sich nieder.
In dieses unheilschwangere Stillschweigen gellte plötzlich der Ton der Hausflurklingel hinein.
»Das ist er,« rief Purzelchen aufschreckend. Gewiß kam er, sie ihrer Wetterwendigkeit wegen bei den Eltern zu verklagen und eine Zurücknahme ihrer kindischen Absage zu verlangen. Und weil sie ihm nie mehr begegnen wollte, machte sie Miene, eilends aus dem Zimmer zu flüchten.
»Halt, halt, Purzelchen,« hörte sie die Stimme Mamas, »wenn du es dir noch einmal überlegen willst! – – Es ist, Gott sei Dank, immer noch Zeit.«
»Ich hab' ihm schon abgeschrieben!« schrie sie auf, jauchzend und schluchzend zugleich, und im nächsten Augenblick fand sie sich vor ihrem Bette kniend in dem finsteren Schlafzimmer wieder, wie sie das Gesicht gegen die Kissen preßte und immerzu weinend in sie hineinrief: »Fritz! Lieber Fritz! Lieber, lieber, lieber Fritz.«
Aber allgemach beruhigte sie sich. Sie war imstande aufzustehen und von dem hinteren Korridor aus nach dem Zimmer hinzulauschen, in welchem gerade um ihr Schicksal gewürfelt wurde.
Denn wie wenig sie dies Schicksal in eigenen Händen hielt, das wurde ihr in dieser Stunde fürchterlich klar. Ein armes, kleines Purzelchen war sie, das froh sein mußte, wenn man ihm gnädig erlaubte, ohne eine große Partie durchs Leben zu gehen.
Sie legte das Ohr ans Schlüsselloch, aber sie konnte nichts weiter hören als ein Durcheinander verschiedener Stimmen, aus dem bisweilen der Name »Annemarie« sich in Fremdheit heraushob. Denn daß sie eigentlich »Purzelchen« hieß, das hatte Herr Gerberding niemals erfahren.
Drum kehrte sie auch wieder ins Schlafzimmer zurück, und um nicht mehr nach vorn gerufen werden zu können, zog sie sich aus und kroch in ihr Bett.
Zwei-, dreimal war sie schon eingeschlafen und wieder in die Höhe gefahren, da endlich klappte die Klinke, und Gudrun erschien auf der Schwelle.
»Mama und Papa lassen schön grüßen,« sagte sie, »sie werden nicht mehr zu dir hereinkommen, denn der arme Papa ist so aufgeregt – Mama muß ihm Herzumschläge machen, damit er einschlafen kann.«
»Und? Und?« schrie Purzelchen, ihr aus dem Bette entgegenkletternd.
»Was – und?« fragte die Schwester und tat überhaupt, als sei sie ganz ahnungslos.
»Nun – Herr Gerberding!«
»Ach so, der! – Der wird sein Schmücke-dein-Heim morgen abholen lassen. Gibst du dann auch gleich Ring und Geschenke mit, dann ist die Chose erledigt.«
Purzelchen hing ihr jubelnd am Halse.
»O Gott, Gudrun! Wie kann ich dir danken!«
Statt der Antwort nahm die Schwester ihren Kopf zwischen die Hände und sah ihr mit eingekniffenem Blick in die Augen.
»Danken?« stieß sie abweisend hervor, »danken?«
Sodann wandte sie sich ihrem Waschtisch zu und begann sich sacht zu entkleiden.
Und so verschüchtert fühlte Purzelchen sich durch dieses Benehmen, daß sie, wie neugierig sie auch war, nichts weiter zu wissen begehrte, sondern sich schweigend zu Bette legte und die Nachttischlampe ausdrehte.
Aber an Schlafen war nicht zu denken.