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Zehntes Kapitel.
Purzelchen wird immer mondäner

Am nächsten Sonntag sollte im »Hotel Adlon« das Frühstück stattfinden, zu dem Herr Gerberding die Familie freundlich geladen hatte.

Da gab's eine große Aufregung und Vorbereitungen ohne Ende.

Mama wollte der Vornehmheit des Ortes halber durchaus das Ausgeschnittene anziehen, das sie im vorigen Winter auf dem Ball des Konditorenverbandes getragen hatte, und war sehr gekränkt, als Gudrun ihr erklärte, dann würde sie selber vorziehen, zu Hause zu bleiben. Auch Papa erschien sich nicht fein genug und wollte es Herbert nicht glauben, daß die dunkle Jacke, die er im Laden stets trug, gerade das Richtige sei.

Herbert war übrigens nicht zu bewegen, sich den Seinigen anzuschließen.

»Vier von der Mischpoke sind gerade genug,« behauptete er. Auch wolle er heute lieber nicht Urlaub nehmen, denn am Sonntag mache der Doktor diskrete Gegenbesuche.

Dabei sah er Purzelchen schräg von der Seite an, als habe er etwas besonders Anzügliches von sich gegeben.

Aber sie achtete gar nicht darauf, denn heute galt all ihr Denken und Hoffen dem großen Ereignis, das sie in höhere Sphären emporheben sollte.

Um zwölf Uhr rüstete die Familie sich zu dem festlichen Wege. Bis zum Friedrichstraßenbahnhof mit der Stadtbahn, von dort aus zu Fuß bis zu jenem vergoldeten Tor, an dem Purzelchen unter dem schirmenden Zeltdach schon oft mit scheuem Seitenblick vorübergegangen war.

Die drehbare Glaswand schob sie ins Innere. Da lag die weite, dämmrige Halle – Marmor und Bronze und Polster und Ebenholzwände, wohin das staunende Auge sich wandte. Ein Festsaal, ja mehr noch: ein Kirchenraum von unausdenkbarer Pracht. Menschen wandelten geräuschlos daher, schweigend und lächelnd und kühl und erhaben wie die seligen Götter. Und alle so fabelhaft gut angezogen, so ganz von dem Nimbus unnahbaren Vornehmseins umhüllt, daß man niemals gewagt hätte, zu ihnen Beziehung zu suchen.

Das war die Welt, in der Herr Gerberding lebte!

Das war die Welt, in die auch sie einst gehören sollte, wenn alles zum glücklichen Ziele kam.

Gar nicht zu fassen dieser Gedanke!

Inzwischen schienen die Eltern geradeso ratlos wie sie. Sie standen neben ihr in der Mitte des Prunkraumes und warfen hilfesuchende Blicke nach rechts und nach links, aber niemand beachtete die kleine Gruppe, an der männiglich in lässiger Geschäftigkeit leise vorüberging.

Gudrun war die erste, die sich zu fassen schien. Sie trat kühnlich an einen der ebenhölzernen Verschläge heran, hinter dem bei ihrer Anrede höfliche junge Herren zu beflissenem Horchen erstarrten.

Und dann gab es ein Flüstern und Sichverneigen – geheimnisvoll und gewichtig.

Sie nickte gefällig, doch von oben herab, und da war sie schon wieder.

»Wir möchten warten,« sagte sie, »man wird uns melden gehen.«

Damit übernahm sie die Führung nach einem der üppigen Diwane hin, auf dem freiwillig sich niederzulassen Purzelchen niemals gewagt hätte.

Und sie tat es auch nicht – denn plötzlich stand Herr Gerberding da.

Man möchte tausendmal entschuldigen – es sei noch etwas früh – und er habe die Zeit nur benützen wollen, nach einem gut gelegenen Platze zu sehen. Es sei schade, daß man jetzt zur Sommerzeit nicht lieber im Freien äße – damit wies er nach einem Blumenhof hin, der ganz mit Palmen bepflanzt war und in dessen Mitte sich ein chinesischer Tempel erhob –, aber das sei nicht Sitte hier, überdies drohe es ein wenig zu tröpfeln, und so habe er einen Tisch im Saale gewählt; wenn man also die Güte haben wolle, ihm dorthin zu folgen – –

Damit setzte er sich mit Mama an die Spitze, Papa und Gudrun schlossen sich an, und Purzelchen zottelte hinterher, von beklommener Freude erfüllt, daß sie mitkommen durfte.

O Gott! An was für seltsamen Dingen man da nicht vorbeikam!

Da war ein großer Aufbau mit lauter Schaugerichten. Eines schien immer köstlicher als das andere, doch konnte man in der Eile nur wenig erkennen, was sie recht eigentlich waren. Früchte prangten darunter, so groß und so herrlich, wie man sie sonst nur in Seife oder in Marzipan sah. Und silberne Wagen standen davor, mit glockenförmigem Dache der eine, die anderen Träger von buntfarbigen Flaschen und kristallenem Wirrwarr.

Wie ein Altar schien das alles zusammen, dem Gott erlauchten Genießens geweiht.

Und eine Nische war da, trotz dem Sommermittag von blaßroten Seidenschirmen erleuchtet. Darin saß ein Paar, über das goldene Tischchen hinweg flüsternd zueinander geneigt – ein Paar, so schön und so elegant und so fremdartig ausschauend, daß man sich drumherum sofort einen ganzen Roman ausdenken konnte, so wie man ihn jetzt in den Zeitungen las – von amerikanischen Milliardären und ihren auf eigener schneeweißer Jacht durch die Meere stürmenden Töchtern, denen das Leben von einem jungen Heizer oder Matrosen gerettet wird, der sich dann schließlich als ein verarmter deutscher Fürstensohn zu erkennen gibt, worauf und so weiter.

Und dann kam der Speisesaal.

Purpurrot alles, wohin das Auge sich wandte. Rotschwellende Teppiche, rotleuchtende Sessel, rote Wandschirme und rote Gardinen.

Wie seltsam, daß die Decke von Glas war! Wenn sie durchscheinend gewesen wäre, so hätte man glauben können, auf dem Meeresgrunde zu liegen, begraben in seliger Ruhe.

Diese selige Ruhe umspülte wie eine lauliche Flut jeden Gegenstand und jedes Geschehen. Lautlos glitten würdevoll milde Herren über die Teppiche hin, anzuschauen wie Botschafter oder Minister bei einem Staatsempfang. Die flüsterten mit den Gästen oder notierten Befehle oder winkten gemessen andere herbei, die silberne Platten trugen, von denen sie mit beschwörenden Gesten – gleich opfernden Priestern – einem jeglichen spendeten, was sein Wunsch und sein Wille war.

Und dieser Vorgang vollzog sich auch an dem Tische, an dem Purzelchen neben Herrn Gerberding und den Ihrigen thronte.

»Thronte«, so darf man wohl sagen. Denn hier war sie gar nicht überflüssig und des Beachtens unwert. Ähnlich wie in der ersten Tanzstunde saß sie gleich einer kleinen Königin da, der ihr Umkreis huldigt und die dabei nur von einer Frage beherrscht wird: ›Werde ich auch gute Figur machen?‹

Besonders die milden, würdigen Herren schienen es auf sie abgesehen zu haben. Deren Antlitz verklärte sich in fürsorgender Demut, wenn sie sich zu ihr herniederneigten, und immer wieder wandten sie sich lächelnd und flehend ihr zu, als ob sie ihnen durch Annahme des Dargebotenen eine ganz besondere Gnade erwiese.

Aber sie wußte kaum, was sie aß; so sehr nahm das Glück des Schauens, die Wonne des Hierseins ihre Seele in Anspruch.

Und ganz fremdartige, niemals gesehene Gerichte waren es, deren Namen schon zittern machte vor Lust, aber zugleich auch vor Angst, richtig auszusprechen, was der Bedienende vorsprach.

Schließlich sagte sie, wenn sie gefragt wurde, auf Mama hinweisend, nur immer: »Mir auch.« Und damit ging alles vortrefflich.

Von Unterhaltung war heute nicht viel die Rede. Mama und Papa schienen nicht weniger beklommen als sie, und Herr Gerberding suchte vergebens nach einem belebenden Thema. Immer wieder kam er auf das drohende Tröpfeln zu sprechen, und daß man hier mindestens ebensogut sitze wie draußen im Garten, zumal die Glaswand geöffnet sei, und dergleichen.

Erst als Gudrun sich zum Mittelpunkt des Tischgesprächs machte und mit tiefgründiger Kenntnis von den abendlichen Festen der großen Gaststätten zu reden begann, war der Bann gebrochen, und Herr Gerberding erklärte sogar, er würde es sich zu besonderer Ehre anrechnen, mit den beiden Schwestern gemeinsam zum Tanze zu gehen.

Aber da machte Gudrun plötzlich ihr strengstes Gesicht und eröffnete ihm, ihre Studien würden ihr derlei Extravaganzen schwerlich erlauben, und er möchte sich nur an Annemarie halten, die die Eltern ihm sicherlich gerne mitgeben würden, denn hier habe ein jeder volles Vertrauen in ihn.

Herr Gerberding verneigte sich voll geschmeichelter Würde, und sofort wurde der nächste Ausgang festgelegt, zu dem er die jüngere Schwester abholen durfte.

Hiermit war das Schicksal der kommenden Wochen beschlossen, und Purzelchens Abende wurden ein leuchtender Ring von Genuß und Verzauberung.

Zum ersten Male in ihrem Leben erhielt sie den Hausschlüssel zu freier Verfügung, und von dieser Gunst machte sie so ausgiebigen Gebrauch, daß sie Gudrun schon meistens im Bette fand, wenn sie spät nachts in das Schlafzimmer trat.

Man kann zwar nicht sagen, daß Herr Gerberding einen besonders vergnüglichen Ritter darstellte. Seine Umständlichkeiten verlor er nie, und nicht ein einziges Mal geschah es, daß er einen Kuß oder dergleichen von ihr verlangt hätte. Wer den beiden nachgegangen wäre, würde sie für zwei Fremde gehalten haben, die ein nicht gerade sehr liebenswürdiger Zufall zu gemeinsamer Langweilerei zusammengefegt hat.

Aber diese Mißlichkeit wurde tausendfach aufgewogen durch all die glänzenden Eindrücke, die Purzelchen fortan in sich aufnehmen durfte.

Wie in einem Reigen ewiger Feste glitt sie dahin. Die Sommertheater, die Kabarette, die Ausflüge zu Land und zu Wasser beherrschten fast jeglichen Abend. In allen möglichen Gasthäusern wurde sie heimisch, ja, etliche Male durfte sie sogar in einem richtiggehenden Schiffe soupieren, das mit Ankerketten inmitten des Wannsees festgelegt war, und konnte sich ausmalen, wie sie demnächst auf einem der großen Ozeandampfer ihrer künftigen Heimat zueilen würde.

Die höchste von allen Wonnen aber wurde die Tanzbar. Und wenn das Theater mit seinem dummen Gesinge abgemacht war, konnte sie den Augenblick kaum erwarten, in dem der tangodurchschauerte Saal in seinem purpurnen Lichte sich vor ihr auftat.

Ein guter Tänzer war Herr Gerberding nicht, und oft blickte sie mit klopfendem Herzen hinter anderen Paaren her, die nach dem Klange der Jazz zu seliger Einheit verschmolzen und losgelöst von Erdenangst und Erdenschwere durch das Wolkenmeer der Klänge dahinschwebten.

Wie ein Traum von Fliegenwollen und Fliegenkönnen überkam es sie jedesmal, wenn sie an Herrn Gerberdings Seite ins Tanzparkett hinunterschritt. Dann war sie nicht mehr das kleine, pumplige Purzelchen, das mit seinen kurzen Beinchen backfischhaft in den Boden hineinwuchs, dann war sie ein in Höhen sich wiegender Blumenstengel, ein Lichtfalter war sie, der leider umsonst seine Fittiche breitete, denn das Ungeschick des schwerfälligen Tänzers hielt sie am Boden zurück, wo sie gar nichts zu suchen hatte.

Und auch andere schienen dieses zu finden. Denn nicht selten geschah es, daß sie beim Umschauen die Blicke der Sitzenden mit einer Art von liebendem Wohlgefallen auf sich gerichtet sah. Diese Blicke wurden ihr allgemach zum Bedürfnis, und wenn sie ausblieben, dann fühlte sie sich von neuem bedrückt und gedemütigt.

Und dann kam das große Begebnis, das sie bis in Herzenstiefen hinein aufwühlte und über sich selber hinaushob.


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