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Fünftes Kapitel.
Der dämonische Zahnarzt

Gegen den Frühling hin wurde es Zeit, daß Purzelchen sich nach einer Tätigkeit umsah.

Sie hätte ja immer noch als Verkäuferin in das väterliche Geschäft eintreten können, aber das wären – nach Mamas Ansicht – verschwendete Jahre geworden. Von den Herren, die den Laden betraten, würde für eine aussichtsreiche Verbindung kaum einer zu haben sein, höchstens konnte ein leichtfertiges Anbandeln in Frage kommen, womit ihr und dem Hause Lüdicke nur wenig gedient war.

Ja, hätte sie Mamas menschenkennerische Erfahrung ihr eigen genannt: die wußte mit einem träumerischen Vorsichniederlächeln, mit einem bedeutsamen Zwinkerblick selbst den nüchternsten Familienvater zum Wiederkommen zu zwingen.

Purzelchen aber würde in ihrer nichtverstehenden Unschuld vergebens hinter dem Ladentisch stehen und zwecklos hinaltern, ohne dem Geschäfte ernsthaft von Nutzen zu sein.

Darum sollte sie sich anderswo eine Beschäftigung suchen, die einleuchtendere Aussichten bot.

Mit dieser Beschäftigung aber haperte es. Unentwegt schrieb sie Offerten, doch eine Antwort folgte niemals. Und das war auch kein Wunder. Zeugnisse, die sie beilegen konnte, besaß sie nicht, und ein Bild einzuschicken, wie es hin und wieder verlangt wurde, hielt eine ahnende Scheu sie ab. Ihr war dann immer, als ob über ihre Arbeit hinaus auch ihre Liebeswilligkeit gekauft werden wollte. –

Eines Tages, als sie wieder einmal den »Lokalanzeiger« neben sich liegen hatte und mit ihrer schönsten Kinderhandschrift werbende Briefe schrieb, trat Herbert hinter sie und sah ihr schief schmunzelnd über die Schulter.

»Was rackerst du dich da ab, Kleine?« sagte er. »Auf diese Weise kriegst du ja doch nichts. Ja, wenn du dich persönlich vorstellen dürftest, dann würde die Sache wohl bald gefingert sein, denn du bist wirklich sehr knusprig. Aber mit dieser blöden Briefschreiberei – nee, da ist nischt zu machen … Wolltest du dich nicht gerade auf die Stenotypistin versteifen, dann wüßt' ich wohl was – und zwar in meiner schützenden Nähe.«

Neugierig sprang Purzelchen auf.

»Wer? Was? Was?«

»Nämlich mein Chef hat mal wieder seiner Assistentin gekündigt. Das tut er so ab und zu. Und was Dauerndes wird es wohl auch für dich nicht sein. Ich nehme zu seiner Ehre an, er wird dich in Frieden lassen, und lernen würdest du sicher 'ne Menge. Ganz abgesehen von der fashionablen Kundschaft, in die du hineingerätst. Was sich da ereignen könnte, wenn man ein bißchen gescheit ist, – nicht auszudenken alle die Chancen.«

Ein Gewoge widersprechender Empfindungen erwachte in Purzelchens Brust.

Ihr sagte ein dunkles Gefühl, daß sie sich in eine Gefahr begebe, wie sie sie immer gefürchtet hatte, anderseits aber sah sie so viel Glanz und Lebensfülle vor sich erstehen, daß es eine Feigheit gewesen wäre, sich davor zu verkriechen.

Im übrigen wußte sie, wer sie war. Wegwerfen würde sie sich gewiß nicht, und wenn man sich nett zu ihr zeigte, wem schadete das?

»Du meinst also,« fragte sie den Bruder, »du brauchtest mich nur zu empfehlen?«

Der hob in lächelnder Ohnmacht die Achseln.

»Wer kann wissen?« erwiderte er. »Vielleicht hat er schon längst wen anders auf dem Kieker. Ich würde im Gegenteil raten, daß ich dich gar nicht empfehle. Schreib ihm einen Brief, du habest von mir gehört, daß die Stelle frei werden solle. Dann gib mir ein Bild von dir mit, das ich aus brüderlicher Liebe bei mir trage, falls er mich eines Tages nach dir fragt. Und das übrige macht sich dann vielleicht von alleine.«

Das leidige Bild! Da war es schon wieder. Aber weil es nun einmal ohne das Bild nicht abzugehen schien, so gab sie sich drein und holte eine der Ansichtskarten hervor, die sie sich für ihre drei Freunde hatte anfertigen lassen. Und es war noch ein Glück, daß sie es nicht selbst anbieten mußte.

Der Brief war geschrieben. – Mit Linienblatt wie gemalt. – Und Purzelchen wartete, wartete, zwei, ja drei Tage.

Da endlich kam mittags der Bruder, rieb sich den Wulst, den er auf seiner linken Backe durch die geknäulte Zunge hervorrief, und sprach mit seinem vielsagenden Lächeln: »Na also.«

Nichts weiter. Aber sie wußte sofort: nun war es geglückt.

Dann legte er ein Billett vor sie hin, auf dem mit Blaustift geschrieben stand: Mittwoch halb fünf.

Mittwoch war heute. Das Herz stand ihr still. Gerade daß sie halbwegs auf die Belehrungen zu achten vermochte, die Herbert ihr mit auf den Weg gab.

»Das Eleganteste anziehen, was du nur hast – besonders an Schuhwerk und Strümpfen … Hut tief in das linke Auge, denn das ist gerade das Neueste … Und immer hübsch dreist sein. Das liebt er von seinen amerikanischen Girls her.«

»Muß man Englisch sprechen mit ihm?« fragte Purzelchen. Denn das konnte sie gut. Das hatte sie in der Handelsschule von neuem gelernt.

Herbert lachte hellauf. »Der is genau so Charlottenburger wie du und ich. Aber vor den feineren Kunden oder wenn er sonstwo den Fremden 'rausbeißen will, dann redet er gern Akzent mit ›sch‹ statt ›s‹ und ›u‹ statt ›w‹. Das imponiert und hilft bei den Honoraren. Er ist ein entzückender Gauner! Lebt und läßt leben. Mich armen Deibel läßt er sogar nebenbei sehr gut leben. Und das ist die Hauptsache. Mo'en.«

Damit verschwand er, und Purzelchen blieb mit ihren Nöten allein.

Um drei Uhr fing sie an, sich fein zu machen. Zog zu dem lila Florkleidchen die lilafarbenen Seidenstrümpfe an, die sie sich von den Tanzstunden her ausgespart hatte, und ein paar neue Waschlederne mit schwarzgesteppten Raupen. Unter den Rand des Topfhuts hervor zupfte sie zwei oder drei verlorene Löckchen, die bis über die Augen hingen. Und aus Gudruns Beständen holte sie sich den weißen Angoraziegen-Pelzkragen. Wie sie den mit der Linken unter dem Kinne zusammenhielt – bei feinen Damen hatte sie dies öfters bemerkt –,sah sie geradezu süß aus.

Schade, daß niemand da war, dessen Prüfung sie sich unterwerfen konnte, denn Mama waltete im Geschäft, und Gudrun war mit ihrer Musikmappe schon längst von dannen gegangen.

Übrigens wollte sie auch alles im geheimen abmachen, damit sie sich im Falle des Fehlschlags vor keinem zu schämen brauchte. Herbert würde schon reinen Mund halten. –

 

Dr. Gilbert A. Shadow

 

so stand auf dem Messingschilde zu lesen, das die Marmorwand des prunkvollen Hausflurs leuchtend durchbrach.

»Shadow« hieß Schatten. Das wußte man natürlich. Ein seltsamer Name für einen ehemaligen Deutschen. Wahrscheinlich hatte er ursprünglich Schadow gelautet, wie der des berühmten Bildhauers und vieler späteren Berliner auch, und war dann durch Auslassung des »e« amerikanisch geworden.

Mit angststeifen Fingern zog sie die Klingel.

Und als beim Sichöffnen der Tür ein Mohr – ein leibhaftiger Mohr! – in grasgrünem, goldverschnürtem Schoßrock vor ihr stand, konnte sie kein einziges Wort über die Lippen bringen.

Sie reichte nur eben die Karte hin, auf der geschrieben stand: »Mittwoch halb fünf.«

Und der Mohr – ein listig grinsender Bursch von etlichen Zwanzig – wußte sofort, um was es sich handelte.

Er winkte ihr zutraulich und führte sie in ein hellfenstriges Wohngemach, in dem alles vor echten Persern und goldenen Sesseln brannte und flimmerte.

» Please, take place,« sagte der Mohr mit Beflissenheit.

» Thank you,« erwiderte sie so herablassend, wie es geboten schien.

Und gleichzeitig merkte sie, daß eine kleine ulkige Sicherheit über sie kam. Es war das alles wie auf dem Theater. Und wenn sie ihre Rolle spielte, wie sich's gehörte, dann würde sich die Sache schon machen.

Die Seitentür tat sich auf.

Zuerst sah sie nichts als eine weiße Jacke, ähnlich wie die Kellner sie tragen, dann aber gewahrte sie, daß diese Jacke aus gestepptem Seidenrips war – ein Hausrock von atembeklemmender Feinheit.

Und in ansehnlicher Höhe empor wuchs daraus ein Kopf, so scharfkantig und so gebieterisch, wie nur die Herren der Welt, die Amerikaner, ihn haben. Für einen Mann, dessen Wiege in Charlottenburg gestanden haben sollte, wahrhaft erstaunlich.

Das Merkwürdigste an ihm aber waren die Augen – aus dunklen Höhlen schauende, traurig schmachtende, von zärtlichen Lichtern durchbrochene Augen, die zwei dicke, halbkreisförmige Brauen wuchtig und drohend umrahmten.

Das waren Augen! O Gott, was waren das für Augen!

Vor ihnen ging jede Lust zum Ulken verloren.

»Sie sind mir empfohlen, mein sehr wertes Fräulein,« sagte der Doktor, ohne daß ein nicht hergehöriges »sch« oder »u« sich vorgedrängt hätte. »Mein Chauffeur hat Sie mir empfohlen. Und da dieser ein Mann von Geburt und Bildung, ein Gentleman ist, so durfte ich annehmen, daß seine Schwester sich als eine kleine Lady darstellen würde. Eine Annahme, die ich übrigens in diesem Augenblick durchaus bestätigt finde.«

Purzelchen nickte so vornehm, wie es sich für die »kleine Lady« geziemte, als welche sie sich nach den Worten des amerikanischen Doktors gewertet sah.

Aber das heitere Aufzucken, das gleichsam als Antwort auf ihre Geste über sein steinernes Antlitz lief, sagte ihr sofort, daß sie vielleicht um eine Schattierung zu vornehm gewesen war.

»Auf alle Fälle, wir könnten's ja probieren,« fuhr er fort. »Im Leben kommt alles auf den Eindruck an, den man hervorruft. Und ich kann mir denken, daß Sie in der Schwesterntracht, die man als meine Assistentin hier trägt, einen ganz – einen ganz – wie sagt man? – ich spreche das Deutsch noch nicht wieder sehr gut – einen ganz handsomnen Eindruck machen würden.«

Zugleich drückte er auf einen Klingelknopf, und der goldverschnürte Mohr erschien auf der Schwelle.

» Johnny, bring in the costume. The smallest size, please.«

Noch nie hatte Purzelchen ein so englisches Englisch gehört. Es knautschte und lallte so überzeugend, daß sie sich der eigenen Aussprache heftig zu schämen begann.

Der Mohr entfernte sich und kam sofort mit einer weitfaltigen, kleiderartigen Schürze und einem Flügelhäubchen zurück. Beides legte er auf eine Sessellehne, worauf er rasch wieder verschwand.

»Entledigen Sie sich Ihres Mantels und Ihres Hutes,« sagte der Doktor in kühlem Befehlston, und Purzelchen gehorchte mit Eifer.

Eine Art hatte er an sich, die das Gehorchen nicht nur zu etwas Notwendigem, nein, man kann sagen, zu einer Seligkeit machte.

Als sie in dem kniefreien Florkleidchen mit dem viereckigen Busenausschnitt und den halblangen Ärmeln mattlächelnd dastand, den abgenommenen Hut hilflos in beiden Händen, da pflanzte der Doktor sich vor ihr auf, gerade so weit entfernt, daß er das Gesamtbild mit seinen Blicken umfassen konnte, kniff die Augen zu einer engen Spalte zusammen und schmatzte ein paarmal bedeutend und wohlgefällig.

»Legen Sie das Gewand an,« sagte er hierauf.

Und als Purzelchen nicht recht wußte, ob sie von vorne oder von hinten in die Ärmel zu schlüpfen hatte, trat er dichter an sie heran, nahm ihr das weiße Ding aus der Hand und sagte: »Ich werde helfen.«

So daß sie eben nur stillzuhalten hatte, und wie beim Zuknöpfen des umschließenden Gürtels ihre Finger die seinen streiften, da brannte die Hand, als hätte sie in eine Streichholzflamme gefaßt.

Zu guter Letzt hob er die Haube hoch, ließ sie eine Sekunde lang über ihr schweben und stülpte sie ihr dann mit weichem Drucke über den Hinterkopf.

Für ihr Leben gern hätte sie einen Blick nach dem Spiegel getan, aber es war keiner da. Und ihre Vorsicht schien auch nicht nötig, denn das lippenziehende Schmunzeln, mit dem er sie maß, bewies, daß sie auch in dieser Verkleidung seinen Beifall gefunden hatte.

»Ziehen Sie sich um,« befahl er. »Sie sind engagiert.«

Dann, als sie ein paar dankbare Worte herstammeln wollte, winkte er mit einer Bewegung des Unwillens ab und meinte: »Das ist ja alles bloß vorläufig. Erst müssen wir sehen, wie Sie sich bewähren. Meistens nimmt man ja Damen, die ihren Kursus im Zahnärztehaus hinter sich haben. Ich hingegen liebe es, die nötigen Anweisungen selber zu geben. Morgen um halb neun werden Sie hier sein, um vor Beginn die erste Lehrstunde zu erhalten. Guten Tag.«

Damit war sie entlassen.

Wie sie hinauskam, wie sie an dem grinsenden Mohren vorbei ins Freie stürmte, wußte sie selber nicht. Spornstreichs lief sie nach dem Laden, um den Eltern die erfreuliche Kunde zu bringen, aber als sie auf die Klinke drücken wollte, fand sie den Mut nicht dazu. Wie ein Geheimnis erschien ihr dies Glück, das in nichts zerrinnen konnte, wenn man es voreilig preisgab.

Sie rannte zum Tiergarten hin, wischte sich dauernd über die glühenden Backen und dachte dabei: ›Welch ein interessanter Mann! Welch ein dämonischer Mann!‹

Ja, ein dämonischer Mann! Das war das richtige Wort. Ein Mann, wie man ihn sonst nur in den Romanen findet. Und im Theater vielleicht. Aber im Theater war sie der Teuerkeit wegen kaum jemals gewesen. Im Deutschen Opernhause fast nur – mit Gudrun, die von ihrer Lehrerin her manchmal Freikarten hatte.

Beim Abendessen mußte sie wohl oder übel mit dem Geschehenen herausrücken. Da gab es natürlich große Augen und wißbegierige Fragen. Papa pries die Gnade des Schicksals, Mama sprach von den sich hieraus ergebenden Aussichten, und Gudrun lächelte wie immer bedeutungsvoll vor sich nieder.

Als Purzelchen sie fragte: »Freust du dich gar nicht?«, da machte sie ihre übliche süßkomische Schnauze und meinte nur: »Ein tüchtiger Junge, der Herbert.«

Aber herzlos war Gudrun trotzdem nicht.

Heute abend blieb sie zu Hause, und als die Schwestern sich in ihre Schlafkammer zurückgezogen hatten, setzte sie sich im Hemde an Purzelchens Bett, legte die Arme um der Liegenden Hals und sagte: »Weißt du auch. Kleines? Morgen gehst du ins Leben. Es ist gefährlich und tückisch, dies Leben. Wie ein tiefes Wasser ist es, in das man geworfen wird, ohne schwimmen zu können … Manche geht unter, manche aber, wenn sie die Arme und Beine richtig bewegt, paddelt bald so froh drin herum wie am Sommerabend in einem laulichen Bade. Ich sage nicht zu dir: ›Sei klug‹, denn manchmal ist eine Dummheit das Schönste. Aber wenn du mal nicht aus, nicht ein weißt, dann komm zu mir und vertrau dich mir an. Ich werd' dir schon helfen.«

›Ach, könnt' ich's doch!‹ dachte Purzelchen seufzend. Aber weil sie die Schwester einmal so schmählich betrogen hatte, war ihr der Mund wie versiegelt.

Sie küßte sie und dachte: ›Verzeih mir!‹ – – –

Am nächsten Morgen, schon lange vor halb, stand Purzelchen in ihrer Schwesterntracht da und war der kommenden Dinge gewärtig.

Sie fühlte sich jetzt ganz ruhig, denn der Flurspiegel, in den sie nach dem Umkleiden geguckt hatte, weissagte nichts Schlimmes.

Und der Mohr, der ihr behilflich gewesen war, grinste breitschnäuzig zu ihr hernieder und murmelte prustend: »Knorke.«

»Was?« fragte sie ganz erschrocken, denn sie nahm an, sich verhört zu haben.

»Knorke« sagte er triumphierend noch einmal, doch dann beim Öffnen der Tür ging er ins Englische über: » Please! Enter! He will be very thrilled with you.« –

Der Doktor trat ein. Heute im schlichten Chirurgenkittel. Und auch im übrigen einfach und sachlich.

»Ich werde Ihnen jetzt die ersten Hilfeleistungen erklären,« sagte er, »die schon heute notwendig sein werden.«

Und dann zeigte er ihr, wie man dem Patienten die Serviette umbindet und das lauwarme Mundspülwasser mit der hineingeträufelten Essenz links neben ihn hinstellt. Auch die verschiedenen Instrumente zeigte er ihr, die Sonden, die Pinzetten, die Schleifsteine, die Flach- und die Hohlspiegel sowie die Exkavatoren, die alle nach dem Gebrauch in Lysoform gelegt oder später ausgekocht werden mußten.

Und zu den eigentlichen Zureichungen übergehend, unterwies er sie im Anrühren des Amalgams, das dann auf das Füllinstrument aufgespießt wurde, und so noch in etlichem anderen, das auch nicht schwer zu begreifen war.

Das alles tat und sagte er mit Strenge und Sorgfalt. Er sah sie kaum einmal an, und nur wenn seine Finger die ihrigen streiften, dann brannte das höllische Feuer ihr bis in die Seele hinein.

So kam der Augenblick, in dem Johnny die erste Patientin anmeldete.

Eine ältere Dame war's mit ergrauendem Wellenhaar und perlendurchsetzter Lorgnonkette.

Purzelchen wollte ihr helfen, den kostbaren Breitschwanzpelz von den Schultern zu streifen, doch der Doktor wies sie kurzweg zurück und tat dienstfertig selber, was eigentlich schon des Dieners Sache gewesen wäre.

Und als er nun auf die Dame einsprach, erklangen plötzlich die »Sch's« und die Döbbeljuhs, auf die Purzelchen bisher vergebens gewartet hatte. Auch glimmten in seinen Augen die zärtlichen Lichter auf, die gestern ihr selber gegolten hatten.

Zögernd und ungewiß tat sie, worin sie vorhin belehrt worden war, und siehe da, es ging besser, als sie selber geahnt hatte.

Eine Dame folgte der anderen, und immer war es das gleiche: die gleiche überlegene Beflissenheit, das gleiche vornehme Fremdländertum, das gleiche zärtliche Blickspiel, und über allem eine Vertrautheit, die des Respekts nicht entbehrte und darum nur noch vertraulicher wirkte.

Und wie sie lächelten, wie sie sich wanden unter dem Einfluß seiner Berührungen! Manche kam steif und erhaben herein, aber wenn sie von dannen ging, war sie zerschmolzen in zutunlicher Gnade. Manche hingegen tauschte schon beim Eintritt einen verstehenden Blick, der mehr zu bedeuten schien als ein Liebeswort oder ein Kuß.

Purzelchen gewahrte das alles. Mit dem Herzen weit mehr noch als mit Augen und Ohren. Sie fühlte es schauernd auf ihrer Haut und in den kribbelnden Fingerspitzen.

Und in ihr erwachte ein mutloser Neid, als sei sie allein ausgeschlossen von dem Geheimbund, der sie alle vereinte und in dem sie sich bevorzugt und glücklich fühlten.

Über sie selbst sah eine jede hinweg. Doch nein, ganz so war's nicht. Im Anfang traf sie häufig ein stutzender, kalt ablehnender Blick, doch wenn sie leise mit der Serviette kam, wenn sie bescheiden-behutsam dieses reichte und jenes, dann wandelte er sich in herablassende Gunst, in die zuweilen eine gewisse Rührung sich mischte.

Auch Herren kamen, aber sie waren weit in der Minderzahl. Und dann freilich ergab sich ein Bild, das von dem gewöhnlichen gründlich verschieden war. Stammgäste schienen sie fast alle zu sein, denn eine hocherhobene Hand empfing sie schon an der Tür und ein Zuruf jovialer Kameradschaftlichkeit, wie Spießgesellen ihn wechseln.

Und dann trat sie selbst in den Vordergrund. Ein Stutzen auch hier. Aber das barg keinerlei Ablehnung in sich. Im Gegenteil. Fast schien es, als sei sie jetzt die Hauptperson. Bei jedem Wort, das an den Doktor gerichtet war, traf ein Seitenblick auch sie, als sollte dargetan werden, daß sie mit dazugehörte und daß sie um Gottes willen nicht unbemerkt bleiben dürfe. Und wenn der Patient in dem großen Phönixstuhl lag und sie sich ihm mit der Serviette näherte, dann neigte sein Oberkörper sich unwillkürlich ihr zu, als wolle er sie immer noch näher haben.

Der Doktor schien nichts davon zu bemerken, aber einmal, als sie zufällig zu ihm emporschaute, gewahrte sie, daß er verzwickt, aber, wie es schien, nicht unzufrieden an ihr herabschielte.

Und als nachmittags die Sprechstunde zu Ende war und sie ans Aufräumen und Auskochen gehen wollte, trat er auf sie zu, gab ihr einen kleinen Klaps gegen die linke Backe – er brannte später noch stundenlang, dieser Klaps – und sagte mit seinem unergründlichen Lächeln: »Die Sache macht sich, mein Kind. Ich glaube, wir werden zusammenbleiben.« –

Am nächsten Morgen nahm der Unterricht seinen Fortgang. Sie lernte, wie man den Fletscher für die provisorischen Füllungen anrührt und den Gipsbrei für die Abdrücke, dessen Erstarren an einer Probekugel beobachtet wird. Und wenn die einzelnen Gipsstücke aus dem Munde entfernt wurden, um später zu einem genauen Abbild des Gebisses vereinigt zu werden, dann hatte sie die Schale unterzuhalten und dafür zu sorgen, daß nicht der kleinste Brocken sich im Umkreis verlor.

Und so ging es noch etliche Tage lang.

Purzelchen gab fein acht, und alles blieb haften.

»Wozu Sie im Zahnärztehaus ein Jahr gebraucht haben würden,« sagte der Doktor, »das lernen Sie hier in zwei Wochen.«

Und dabei erschienen zum ersten Male wieder die zärtlichen Lichter in seinem Auge, deren er sie nie mehr für würdig erachtet hatte.

Ihr wurde ganz wohl und weh dabei und ein wenig ängstlich obendrein, obgleich sie die Angst vor ihm sonst beinahe schon abgestreift hatte.

Eines Morgens sagte er: »Jetzt werde ich Sie in die Geheimnisse der Hinterräume einführen, von denen Sie bisher keine Ahnung gehabt haben.«

Oh, eine Ahnung hatte sie wohl. Eine sehr unruhvolle sogar, denn manchmal geschah es, daß der Doktor zu einer Dame sagte: »Ich glaube, wir werden von Ihrem Kiefer ein Röntgenbild machen müssen.«

Zu einem der Herren sagte er dies wohl auch, aber es kam seltener vor, und niemals war das Lächeln dabei, das bedeutungsvolle – man hätte sagen können – besitzergreifende Lächeln, mit dem er die Leidende musterte. Und die Leidende lächelte oftmals wider. Leise und willig lächelte sie. Und dann verschwanden beide nach den hinteren Räumen, in denen Purzelchen noch niemals gewesen war.

Wie lange sie manchmal ausblieben – das war wahrhaftig ein Jammer.

Zwanzig Minuten, ja eine halbe Stunde lang. Im Wartezimmer saßen die Patienten in Haufen, und Purzelchen sah nach der Armbanduhr fast jede Sekunde, als könne sie den säumigen Chef dadurch umso rascher zurückrufen.

Gewiß vergaßen die beiden über dem Plaudern die Zeit, vielleicht auch – nicht auszudenken war all das Schreckliche, das sich dort hinten ereignen mochte.

Kam der Doktor endlich zurück, dann war er meistens allein. Die Dame hatte über den Korridor hin die Wohnung verlassen, und wenn sie nach etlichen Tagen wieder erschien, dann hatten sie beide das verstehende Lächeln, das Purzelchen schon zum Beginn hie und da mit Argwohn gewahrt hatte.

Heute also führte der Doktor sie selber zu jener Stätte, die ihr, ohne daß sie sie kannte, so viel ungeduldigen Kummer bereitet hatte.

Bei dem bloßen Gedanken war sie erschrocken gewesen, und als die Tür des Raumes sich öffnete, erschrak sie noch mehr.

Denn ganz finster war es darin. Vor den Fenstern hingen schwarze, festgenagelte Friesvorhänge, die bewiesen, daß diese Finsternis nie unterbrochen wurde. Und als der Doktor ein unheimlich rotes Licht andrehte, erschien neben einer furchtbaren Maschine, die aussah wie ein Schafott, ein teppichbedecktes Ruhebett, das an die Wand gelehnt dastand und zu gleicher Zeit zu locken und zu warnen schien.

»Hier drin werden Sie niemals zu tun haben,« sagte der Doktor, »denn dies ist nur für die Wissenden da,« und dann, als besänne er sich eines Besseren: »Das heißt, vielleicht werd' ich Sie später zulassen, um Ordnung zu machen, zu lüften und so.«

›O Gott,‹ dachte Purzelchen voll Bestürzung, aber geschmeichelt fühlte sie sich doch, in diesem Allerheiligsten schalten und walten zu dürfen.

»Und nun zum Schluß kommt der Techniker an die Reihe,« sagte der Doktor, den Korridor weiter abschreitend, »der haust hier wie ein Alchimist in seiner Zauberküche und will nicht gerne gestört sein.«

Von dem Techniker war tagtäglich mehrmals die Rede gewesen, aber der Doktor hatte sie noch niemals zu ihm geschickt, sondern war immer selber gegangen.

Ein aschenfarbiger, arg verschmutzter Raum tat sich auf, aus dem brauende Dünste Purzelchen giftig entgegenquollen. Eine gelbviolette Flamme, die gleich einer Schlangenzunge zischend einen goldenen Halbkreis beleckte, verbreitete ein fahles Unterweltslicht. Und hinter der Flamme saß ein alter Mann mit dunklen, runden Brillengläsern auf hagerer Spitzmausnase und weißen Stoppeln rings um ein verschrumpeltes Kinn.

Als er die Eintretenden gewahrte, ließ er die Flamme einschrumpfen, wobei zugleich das Zischen aufhörte, und als er darauf die Schutzbrille abnahm, kam ein gutmütiges, müde blinzelndes Augenpaar zum Vorschein, das verlegen an Purzelchen hinauf- und hinunterglitt.

»Dies ist Fräulein Lüdicke,« sagte der Doktor, »unsere neue Assistentin, mit der ich Sie endlich bekannt machen muß, mein wackerer Herr Bach.« Und sich dann zu Purzelchen wendend: »Das ist der Schutzgeist unseres Hauses. Ich habe ihn von meinem Vorgänger übernommen, und der hat ihn von seinem Vorgänger übernommen. Kurzum, er überdauert uns alle.«

Herr Bach wischte sich die schwarzrissige Hand an seinem Drillichkittel ab und streckte sie nach Purzelchen aus. Sie fühlte eine Inbrunst in sich emporsteigen, die sie sich nicht zu erklären vermocht hätte, und ergriff das Ungetüm mit festumklammernden Fingern.

»So,« sagte der Doktor, »jetzt wäre der Rundgang vollbracht, und wenn Sie mit Herrn Bach zu tun haben, dann wissen Sie künftig den Weg.«

Purzelchen sagte artig: »Adieu«, aber der alte Mann schien nicht mehr auf sie zu achten. Nur, als sie hinter dem Doktor daher aus dem Zimmer schritt, war's ihr, als höre sie hinter sich die leise gemurmelten Worte: »Armes Kind!«

Da aber in demselben Augenblick das Zischen der Flamme neu einsetzte, so konnte sie sich vielleicht auch getäuscht haben. – –

Von nun an ging alles seinen berufsmäßigen Weg.

Purzelchen bedurfte der Lehrstunden immer weniger. Auch die feineren Kunststücke wurden ihr allmählich vertraut. Sie lernte die richtigen Farben der Zementfüllungen mischen, und wenn sie die Reihen der Porzellanzähne vor sich sah, erkannte sie beim ersten Blick, welche Schattierung für den Patienten wohl in Betracht kam. Auch mit der Novokainspritze wußte sie umzugehen und reichte sie stets so ganz ohne Luftblasen hin, daß der Doktor kaum nachzusehen brauchte.

Der Höhepunkt ihrer Tätigkeit aber wurde die Hilfeleistung bei jeglicher Goldfüllung. Schon allein, weil es Gold war, mit dem sie alsdann hantierte. Und wenn das Holzhämmerchen, das sie führte, auf den vom Doktor gehaltenen Keil herniedersank, hatte sie stets das Gefühl, einer heiligen Handlung teilhaftig zu sein. – –

Die Art, in welcher der Doktor mit ihr verkehrte, schien fast die gleiche zu bleiben. Abgesehen davon natürlich, daß er bei wachsendem Eingewöhnen vertraulicher wurde. Wie von selber geschah es, daß er den Arm um ihre Schulter legte und sie immer enger an sich heranzog. Auch daß er, wenn sie ihm sehr gefiel – und das tat sie, wie sie zu ihrer Freude bemerkte, jetzt öfter und öfter –, ihren Kopf zwischen seine Hände nahm und ihr einen leisen, gönnerhaften Kuß auf Haar oder Stirn drückte, erregte kaum noch ihre Verwunderung. Das war alles so selbstverständlich, so ganz der Stimmung des Augenblicks entwachsen, daß es beinahe befremdlich gewesen wäre, hätte er sich ihr ferner gehalten.

Nein, ein »dämonischer« Mann war er nicht. Gewiß nicht. Eher hätte man von Väterlichkeit sprechen können. Und einem edlen Gönnertum, das in Anbetracht ihrer Jugend und Unschuld die Zärtlichkeit seiner Blicke verklärte.

Jetzt war sie auch nicht mehr so eifersüchtig auf das Lächeln, womit er die schönen und vornehmen Damen empfing, denn er entschädigte sie ja vollauf, wenn er später mit ihr allein war. Und verschwand er mit dieser und jener nach dem Röntgenzimmer hin, dann dauerte die Zeit nicht mehr gar so lang. Sie wußte ja nun – er selber hatte es ihr erklärt –, daß, während er die Platte entwickelte, oft ein Ausruhen der Patientin notwendig war, besonders, wenn die erregende Novokainspritze vorher ihres Amtes gewaltet hatte.

Oder vielleicht war er doch ein dämonischer Mann! Aber nur den fremden, den eleganten und vornehmen Damen gegenüber, die Perlenketten trugen – schon unterschied sie ahnend die echten und die falschen Perlenketten und die ein Nimbus von Chypre und Poudre d'or neiderregend umgab, wenn man ihnen die Serviette anlegte.

Denen erging es ganz recht, wenn sie sich sterblich in ihn verliebten. Und selbst wenn er sie hinnahm und wegwarf, empfingen sie nur, was sie verdienten. Sie warfen sich selber ja weg, da sie ihm würdelos zeigten, wie sehr sie nach ihm verlangten.

Sie selber würde so etwas niemals tun. Selbst wenn die Versuchung noch so heiß über sie herfallen sollte.

Das Schlimmste, das ihr geschehen konnte, hatte sie längst ins Auge gefaßt. Nicht umsonst war sie ein »modernes« Mädchen. Blauen Dunst machte sie sich nicht vor.

Fürchten? Nun ja. Natürlich fürchtet man sich. Aber diese Furcht war ja zum großen Teile eigentlich Neugier. – Und sollte das Schicksal es wollen, daß es niemals geschah, dieses Schlimmste, so würde sie sich sogar ein wenig enttäuscht gefühlt haben. – –

Am Monatsersten erhielt sie ihr erstes Gehalt.

»Dieses ist nur für den Anfang, die Lernzeit,« sagte er gütig. »Später gibt's mehr.«

Und es war doch schon so reichlich bemessen, daß man es kaum annehmen konnte.

Als dies geschah, saß er gerade vor seinem Schreibtisch und schrieb die Honorarziffern aus, die dann später von Purzelchen in die Liquidation übertragen wurden, denn seine eigene Handschrift dabei in die Erscheinung treten zu lassen, wäre sehr wenig vornehm gewesen. Und wie sie nun vor ihm stehend etwas von »viel zuviel sein« und »nicht verdient haben« zu stammeln anfing, da griff er statt einer Antwort um ihre Hüfte und setzte sie sich auf sein Knie.

Da wußte sie: Nun war es so weit. Und aus dem Übermaß der Spannung und der Erregung heraus fing sie ganz kläglich zu weinen an.

Er löste sogleich die Hände von ihrer Taille, aber obwohl sie nun frei war, blieb sie gehorsam auf seinem Schoße sitzen, ja, sie neigte sogar den Kopf nach seiner Brust hin und weinte dort weiter.

Und wenn er sie jetzt noch enger in seine Arme nahm und sie auf Stirn und Hals und Lippen küßte – ja, auch auf die Lippen! –, dann war er kein Verführer, gewiß nicht, sondern tat nur, was ihr Gewähren wohl nach sich zog. Hätte er's nicht getan, dann wäre sie ja eine Verschmähte gewesen.

Und als sie an diesem Tage nach Hause ging, war sie durchaus nicht ängstlich oder niedergeschlagen, sondern steckte vielmehr so voll von triumphierendem Übermut, daß es selbst Gudrun auffiel.

Sie versuchte, sich mit dem unverhofft großen Honorar herauszureden, aber damit hatte sie bei der Schwester kein Glück. Die lächelte nur vielwissend zu ihr herab, streichelte sie und sagte mit einer Art von tändelnder Wehmut: » Mein Purzelchen.«


Von nun an hielten sich die Beziehungen zwischen ihr und dem Doktor für eine Weile auf dem Punkte, bis zu dem sie an jenem Ersten gediehen waren.

Er küßte sie beim Kommen und Gehen, tätschelte sie auch wohl ein wenig, aber sonst wollte er nichts von ihr. Und sie dachte schon: ›Ach, so ist es schön, und so muß es bleiben.‹

Aber da kam ein Nachmittag, an dem er sagte: »Johnny hat Ausgang. Wir wollen statt seiner das Röntgenzimmer aufräumen.«

Da stieg ihr der Herzschlag so stark zum Halse empor, daß sie glaubte, daran ersticken zu müssen.

Und als sie mit ihm den hinteren Korridor betrat und die Tür zur Werkstatt des Technikers offen sah, was nur bedeuten konnte, daß auch er abwesend war, da hegte sie keinen Zweifel mehr an dem Schicksal, das diese Stunde ihr brachte. – – – –


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