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Sechstes Kapitel.
Purzelchen ist ein Vollweib geworden

Hinterher ergab sich als Wunderbarstes von allem, daß nichts Wunderbares geschah.

Im Gegenteil: die Welt blieb wie immer.

Als Purzelchen an jenem Nachmittag die Straße wieder betrat, dachte sie, schon der erste der ihr Begegnenden würde es ihr an der Nase ansehen. Aber durchaus nicht. Er schaute ihr mit demselben Blicke heiteren Wohlgefallens ins Gesicht, mit dem die Augen aller auf ihr ruhten, seitdem ihre Formen sich etwas gestreckt hatten und der dumme Kinderzopf zum Knoten geschürzt war.

Und so der folgende. Und die folgende auch.

Als das Abendessen herankam, wollte sie Kopfschmerzen vorschützen, damit sie ihre flammenden Backen nicht zu zeigen brauchte.

Aber Mama sagte: »Hab' dich nicht,« und als sie daraufhin die Backen im Spiegel untersuchte, wollte Gott, daß sie schon wieder ein wenig ausgeblaßt waren.

Nicht die mindesten Spuren also hinterließ diese furchtbare Tat.

Aber so besonders furchtbar war sie auch gar nicht. Sie gehörte unmittelbar zu den Rechten des Weibes, die die »Umwertung aller Werte« – diese Wendung stammte aus Gudruns Sprachschatz – mit sich gebracht hatte. Ja, sie war sogar deren erstes und vornehmstes.

Nur ein wenig zu früh war sie vielleicht ins Leben getreten. Und darum wohl sah sie beim ersten Blicke so furchtbar aus.

Dachte man schärfer nach, dann wußte man: man war jetzt ein Vollweib geworden. Jawohl, ein Vollweib mit noch nicht siebzehn Jahren, trotz Kinderwaden und Backfischfigur.

Ein Vollweib, wie Gudrun es war.

Wenn nur Gudruns untrüglicher Scharfblick nicht gewesen wäre, der ein jedes Geheimnis aus Herzenstiefen herauslas.

Nur eines ahnte sie nicht. Jenes ihrer ersten – ganz großen – Liebe. – Aber um Gottes willen – daran nicht denken! Man brauchte die Erinnerung nur sachte daran vorüberzuführen, dann stach es einen schon wie ein Messer ins Herz.

Aber schließlich warum? Begegnet war man ihm nie und würde es auch niemals. Der war sicherlich längst wieder weg. War Inspektor auf einem Gut hoch oben im Osten, hatte es vielleicht gar gepachtet oder gekauft und ging gerade auf Freiersfüßen, um die schönste der Baronessen ringsum zu seiner Hausfrau zu machen.

An sein Purzelchen dachte der sicher nicht mehr. Der wußte kaum noch, daß es ein Purzelchen gab.

Ob sie die Mätresse des Doktor Shadow war oder nicht, ging ihn den Teufel was an.

»Mätresse«. Ein herrliches Wort.

Die Maintenon war eine Mätresse gewesen. Die Ninon de Lenclos nicht minder. Die sogar noch mit Siebzig. Und sie selbst war erst auf dem Wege zu Sieb zehn.

Weit bringen konnte man's in der Welt, wenn man so früh anfing und tüchtig war und gescheit.

O nein doch! Niemals würde sie tüchtig sein und niemals gescheit. Gudrun ja, aber sie nicht. Wenn dies geschehen konnte, dann würde sie jedem anheimfallen, der sich die Mühe nahm, sie um ihr bißchen Liebe zu bitten.

Und nicht einmal gebeten hatte der Doktor sie. Hatte sie einfach genommen, wie er den Hohlspiegel nahm, der gerade zur Hand lag.

Aber wenigstens lieb gewesen war er dabei. Hatte sie lächelnd nach ihrer Seelenverfassung gefragt und ob's ihr nicht leid tue, ihm ihr Bestes geopfert zu haben.

Da hatte sie all ihren Stolz zusammengerafft und gesagt: »Wenn das mein Bestes gewesen sein soll, dann wäre nicht viel an mir zu verlieren.«

Genau so würde Gudrun geantwortet haben, und sie hatte sich nicht wenig darauf zugute getan, der kühnen Schwester zu gleichen.

Hinterher freilich kamen ihr Zweifel. ›Ob es am Ende nicht doch das Beste gewesen war?‹

Nein und tausendmal nein. Es sollte nicht. Es durfte nicht. Nur ein Ballast durfte es sein, dessen man sich entledigt, um leichter und freier zu den Höhen der Menschheit emporzusteigen.

Man war ein modernes Weib. Derlei Bedenken gehörten vergangenen Geschlechtern an und wurden als staubiges Erbgut immer noch mitgeschleppt, hatten aber Sinn und Wirkung längst schon verloren.

So sinnierte Purzelchen die halbe Nacht hindurch, dann aber sank sie in einen Schlaf, so tief und so selig, wie sie ihn seit Kinderzeiten niemals erlebt hatte. Als Gudrun sie morgens wachrüttelte, träumte sie gerade, sie ritte mit dem Mann ihrer ersten Liebe über sonnenbeschienene Felder. Aber eigentlich ritt sie nicht, nein, sie flog, und die Hufe der Pferde glitten über die Wolken.

Die Uhr schlug schon acht, und beinahe wäre sie zu spät gekommen. Aber das durfte nicht sein. Weniger denn je. Gerade als seine Mätresse hatte sie die Pflicht, pünktlich zu sein.

Als sie die Treppe hinanstieg, klopfte ihr das Herz so sehr wie damals, als sie gekommen war, sich ihm vorzustellen. Schon vor Johnny hatte sie furchtbare Angst. Wenn der eine ihrer falschen Schildpattnadeln auf der Chaiselongue gefunden hatte! Denn eine fehlte, und an ein wirkliches Nachgucken war gestern nicht mehr zu denken gewesen. Fast als ein Glück stand der Gedanke da, daß auch andere Damen solche Haarnadeln trugen.

Aber Johnny riß heute grinsend das Maul, wie er immer tat, und zupfte wie immer an seinem Livreerock, denn er war ja so eitel und wünschte so dringend Eindruck zu machen.

Und der Doktor?

» Good morning, my puppet!« Das war seit jenem Monatsersten sein gewöhnlicher Morgengruß, und dabei blieb es auch heute. Der übliche Kuß auf die Stirn. Dann vorwärts an die Aufräumearbeit. Denn gestern war manches liegen geblieben.

Daß hier ein Herz vor Angst und Trostbedürftigkeit beinahe zerbrach, daß eine ratlos umhergetriebene Seele nach einem Ankerplatz schrie, an dem sie sich bergen konnte, davon ahnte er nichts.

Oder tat wenigstens so. Weil es bequemer war, sich an nichts zu erinnern.

Und als später ein paar schöne und elegante Frauen zur Behandlung kamen, verhielt er sich geradeso schmachtend und zeigte dieselbe überlegene Beflissenheit, als ob es seit gestern kein Augenpaar gab, das voll wehleidiger Ansprüche an jeder seiner Mienen, seiner Bewegungen hing. –

Ein glücklicher Zufall wollte, daß heute keine zur Röntgenbestrahlung geführt werden mußte, der Jammer hätte sie sicherlich aufgefressen.

Erst als die Frühstückspause kam, die sie in letzter Zeit immer einsam über ihrer Stulle verbracht hatte, ließ er sich dazu herab, ihr zu zeigen, daß sie ihm einiges wert war. Er fuhr heute nicht ins »Eden«, sondern ließ durch Johnny für sich und sie ein Frühstück herbeibringen. Von den Sandwiches gab er ihr abzubeißen und setzte ihr selber das Portweinglas an den Mund.

Und da fühlte sie sich schon beinahe wieder versöhnt.

Aber eine Leidenszeit war es doch, die jetzt ihren Anfang nahm. Immerzu wartete sie darauf, daß eine Liebkosung für sie abfallen würde, und wenn keine kam, hielt sie sich für verdrängt und entwürdigt. Die schönen Damen zumal, mit denen er kokettierte, wurden ihr immer mehr zu Steinen des Anstoßes. –

Bei jeder, die durch die Tür des Zimmers hereinglitt, hereinhüpfte, hereinrauschte, fragte sie sich: ›Was wird nun werden?‹

Und meistens wurde es, wie sie's vorausgesehen hatte.

Die Zärtlichkeit, mit der er die Patientin umtändelte, schien geradeso zum Geschäft zu gehören wie das Kratzen und das Klopfen und das Bohren und das Hand-in-den-Mund-Stecken, wenn er den Stiftzahn eintrocknen ließ.

Auch die gemeinsamen Ausflüge zum Röntgenzimmer fanden sich wieder. Und wenn er mit der Glücklichen auf dem Wege zum hinteren Korridor verschwunden war, saß sie oft wie ein Steinbild da und starrte verzweifelt vor sich nieder, bis er in gut gespielter Unschuld wieder erschien und geschäftig lächelnd hinwarf: »Die nächste.«

In der ersten Zeit fürchtete sie, er werde sich der Liebe, die sie ihm geschenkt hatte, überhaupt nicht wieder erinnern. Manchmal, wenn sie ihm recht böse war, wünschte sie es sogar. Aber in dieser Vermutung täuschte sie sich. Auch sie kam gelegentlich an die Reihe.

Hatte die Sprechstunde ihr Ende erreicht und war Johnny zufällig fortgeschickt, so daß sie sich in der Vorderwohnung allein wußten, dann konnte es vorkommen, daß er sich über sie stürzte und sein Herrenrecht geltend machte, ohne daß sie einen Laut ausstieß oder sich rührte.

Nur den einen Gedanken hatte sie dann: ›Es muß so sein. Und wenn es nicht so wäre, dann wär' es noch schlimmer.‹

Einmal, als sie sich wieder den ganzen Tag über in Kummer über seine Hofmachereien verzehrt hatte und er sie zum Schlusse, als wolle er sie für das Erlittene entschädigen, in Herablassung lächelnd an sich zog, konnte sie ihre Empfindungen nicht länger beherrschen und ließ dicke Tropfen über die Backen kullern. Er griff nach dem Stapel der unbenutzten Vorlegeservietten, der ihm gerade zur Hand lag, und wischte ihr trocknend darüber hinweg.

»Nun, nun, my puppet,« sagte er, »sind wir gar eifersüchtig? Oder was sonst? Ja?«

Sie barg statt der Antwort das Antlitz klagend an seiner Schulter.

»Ich will dir was sagen, my darling,« fuhr er fort, »jene Weiber kommen und gehen, als wären sie nie gewesen. Du aber bleibst, und wenn du heiter bist und gefällig und dir keine Sorgen machst um das, was du siehst oder zu sehen glaubst, dann hab' ich dich lieb und du überdauerst sie alle.«

Diese Mahnung schlug Wurzel in ihrem Herzen. Sie sah ein, daß sie eifersüchtig gar nicht sein durfte und daß sie, wenn dieses Gefühl sich nicht überwinden ließ, am besten täte, die Stelle so bald als möglich fallen zu lassen.

Dazu aber war sie nicht stark genug. Sie hing an ihm als an ihrem König und Herrn. Mit Leib und Seele untertan war sie ihm. Gar nicht weiterleben hätte sie mögen ohne ihn.

Wahrscheinlich war er doch ein dämonischer Mann.

Aber von nun an wurde es besser mit ihr. Sie fühlte sogar, wie ihr natürlicher Frohsinn wieder zurückkehrte. Und wenn er mit den schönen Damen weiter sein Spiel trieb, dann dachte sie nur: ›Laß er doch! Sie gehen, und ich bleibe.‹

Aus diesem Grunde vielleicht und aus manchem anderen geschah es, daß um diese Zeit ihr Äußeres sich noch mehr zu wandeln begann.

Sie merkte es daran, daß die Blicke der ihr Begegnenden länger und dringender auf ihr ruhten und daß vor allem die Herren, die den Doktor besuchten, sich immer heftiger um sie bewarben. Es konnte vorkommen, daß sie die Augen gar nicht mehr von ihr wandten, ja sogar, daß sie bei ihren Handreichungen mit kleinen, heimlichen Liebeszeichen sich bemerkbar zu machen versuchten. Stand sie dicht neben ihnen, um eine Schale vorzuhalten oder den Hammer niederfallen zu lassen, dann geschah es nicht selten, daß unversehens eine fremde Hand ihren kleinen Finger streichelte oder leise über ihren Rücken dahinlief. Und mußte der Doktor mit irgend einem Ersatzstück zum Techniker hinüber, dann kamen wie aus der Pistole geschossen unfehlbar die Fragen: »Welches ist Ihre Adresse, mein liebes Fräulein?« Oder: »Könnten wir nicht einmal abends zusammen sein?« Und andere mehr.

Sie hatte nur immer lächelnd den Kopf zu schütteln und, wenn man durchaus nicht Ruhe gab, auch noch energischer abzuwinken. Denn zu derlei Mulmigkeiten spürte sie nicht die mindeste Lust.

Selbst zu Hause fing man an, ihrem Aussehen Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Mama sagte ein Mal über das andere zu dem lieben Papa: »Was ist bloß mit dem Kinde geschehen? Das fängt mit einmal an, sich mächtig herauszumachen.«

Und der liebe Papa strich ihr mit seiner nachtmüden Hand über das lichte Gekräusel und meinte zerstreut: »Ja, ja, das ist so. Ja, ja.«

Gudrun aber sah sie forschend von unten auf an und schwieg wie gewöhnlich.


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