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Am nächsten Morgen brachte Gudrun einen Brief an Purzelchens Bett, der Fritzens Handschrift trug und folgenden Inhalt hatte:
»Meine liebe Annemarie!
Ich wünschte wohl, ich dürfte noch Purzelchen zu Dir sagen. Aber damit ist's aus. Mein Purzelchen existiert nicht mehr. An ihre Stelle ist eine andere getreten, die mir ganz fremd erscheint und in deren Seele kein Platz für mich ist. Auch in meiner Seele darf kein Platz für sie sein. Mein Purzelchen wird in mir weiterleben bis zu meinem letzten Atemzug, aber das junge Mädchen, das gestern so häßliche Worte sprach, muß ich vergessen.
An das Purzelchen von einstmals wende ich mich mit diesen letzten abschiednehmenden Worten. Dank, Dank, Dank für jede Stunde, die sie mir schenkte! Dank für ihr Schalten und Walten in meinem Winkel hier oben, der mir durch sie ein Heiligtum wurde! Dank für jeden Sonnenstrahl, den sie hereintrug!
Leb wohl!
Versuche nicht mehr, mit mir zu sprechen. Du würdest das Leid, das uns beiden beschert ist, nur noch vergrößern. Jeder von uns muß von nun an den ihm vom Schicksal vorgezeichneten Weg gehen, ohne daß der andere ihm beistehen kann. Möge der Deine nicht ganz so schwer sein wie der, den ich vor mir sehe. Leb wohl!
Fritz.
P. S. Die Schlüssel gib, bitte, bei meinem Portier ab, von dem ich sie holen werde.«
Ein Aufschrei aus zerspringender Brust. Ein Schluchzen in die geballten Kissen hinein. Ein Jammer, hinter dem alles sonstige Erdenleid als unerheblich zurücksank.
»Purzelchen, um Gottes willen, was ist?«
»Nichts! Weg, weg! Nichts!«
Mit Armen und Beinen schlug sie um sich. Nur in Ruhe gelassen sein! Nur in Einsamkeit sich das Herz aus dem Leibe weinen.
Aber gar so leicht war Gudrun nicht los zu werden. Sie umschlang sie von rückwärts, ihre Hände krochen zwischen Antlitz und Kissen und hoben und zerrten so lange, bis Purzelchen schließlich, von krampfigen Stößen geschüttelt, an ihrem Halse lag.
Zugleich kam ein Gedanke ihr, der erste, den sie zu fassen vermochte: Wenn's einen gab, der hier helfen konnte, so war es die Schwester, die weltkluge, liebeserfahrene Schwester.
Und darum beschloß sie, zu beichten. Zum ersten Male, seit mit dem Abenteuer am Savignyplatz das große Verschweigen in ihr Leben getreten war.
Und weil es nun beichten hieß, darum mußte gleich alles gesagt werden.
Also begann sie wahrheitsgetreu mit dem einstigen Auftrag der Schwester und der nicht ganz aufrichtigen Art, in der er ausgeführt worden war.
Gudrun schlug sich in plötzlicher Klarheit mit der Hand vor die Stirn.
»Ich dämliche Gans! Natürlich! Nun weiß ich doch endlich, woher ich ihn kenne. – Mir hat doch immer geschwant, daß er irgendwie zu mir gehört.«
»Wieso zu dir?« fragte Purzelchen, argwöhnisch aufhorchend.
»Nu. Er ist doch gar nicht dein Herr! Er ist doch eigentlich mein Herr.«
Purzelchen fühlte sich bereit, mit Nägeln und Zähnen um ihr Besitztum zu kämpfen.
»Wenn du noch einmal so was quasselst,« sagte sie, »dann red' ich überhaupt nicht mit dir.«
Auf diese entschiedene Zurückweisung hin ließ Gudrun ihre Ansprüche wieder fallen.
»Na schön,« erwiderte sie, die nassen Backen der Schwester trockenküssend. »Nu erzähl weiter, du kleines verlogenes Biest.«
Da half nichts! Jetzt mußte der Doktor heran. Alles gab Purzelchen hin – vom ersten Aufleuchten der betörenden weißseidenen Steppjacke bis zum rotflammenden Dämmer des Röntgenzimmers.
Die düster-schmachtende Dämonie des Mannes, der gestern nach empfangenen Prügeln sein ganzes Dämonentum eingebüßt hatte, tauchte noch einmal aus ihrem Grabe empor.
Die Schwester lächelte einsichtsvoll.
»Hab's mir schon lange gedacht!« sagte sie. »Bei so was muß jede dran glauben.«
Und sie streichelte zärtlich Purzelchens Hände, als sähe sie jetzt erst eine vollgültige Schwester in ihr – weit über die Blutsgemeinschaft hinaus.
In diesem Augenblicke wurden die Bekenntnisse durch Mama unterbrochen, die – schon in voller Panzerung – eintrat, um sich zu erkundigen, warum die Töchter nicht am Frühstückstisch erschienen seien.
Als sie Purzelchens dickgeweinte Augen gewahrte, da wußte sie bereits alles.
»Ja, ja, mein Herzlieb,« sagte sie, Gudruns Platz auf der Bettkante einnehmend, »das ist im menschlichen Leben nicht anders. Des Weibes Los bringt es mit sich, das teure Elternhaus zu verlassen und dem fremden Manne zu folgen – selbst bis nach Südamerika hin. Das wird noch manches Tränlein kosten, du armes Kind!«
›Um Gottes willen,‹ dachte Purzelchen, nach ihrem dicken Goldreif hinunterschielend, ›Herr Gerberding ist ja auch noch da.‹
Gestern abend hatte sie ihn glücklicherweise abgewimmelt, aber heute würde er sein Bräutigamsrecht ausnützen, ohne sich die kleinste Viertelstunde abhandeln zu lassen.
Welch ein Malheur dieser Herr Gerberding mit seinen »Küßchen« und seinen Geschenken! Wenn die Hoffnung auf eine ungünstige Auskunft nicht gewesen wäre – dies Gute wenigstens hatte Fräulein Ellinor Schmitz einem gebracht –, man hätte verzweifeln können angesichts aller Schätze, die das künftige Märchenland in seinem Schoße barg.
Mama hatte derweilen nach ihrer Tasche gesucht, um sich die Augen wischen zu können, und da sie sie nicht fand, verschwand sie wieder, stolz auf die verständnisinnige Tröstung, die sie ihrem Kinde hatte zuteil werden lassen.
Gudrun horchte hinter ihr her, bis die Korridortür klappte, als Beweis, daß die Eltern das Feld geräumt hatten.
»So. Nun werd' ich uns den Tee ans Bett bringen lassen,« sagte sie. »Die Zervelatwurst von gestern abend essen wir auch gleich auf, denn Weinen macht hungrig. Dann kannst du hübsch weitererzählen.«
Und so geschah es. –
Von jenem Wiederbegegnen bei Herrn Samuel bis zur gestrigen Katastrophe – nichts blieb der Schwester verborgen.
»Ich gebe zu, die Sache steht faul,« sagte sie. »Wenn man ihn jetzt laufen läßt, findet er nicht mehr zurück.«
»Das ist es ja, was ich fürchte,« jammerte Purzelchen.
»Aber schließlich, wozu auch?« fragte Gudrun kühl lächelnd. »In acht Wochen schwimmst du mit deinem Herrn Gerberding weit weg auf dem Weltmeer. Was willst du dann noch mit ihm?«
»Ach, redst du bloß herzlos!« begehrte Purzelchen auf. »Wenn ich weiß, daß er hier böse zurückbleibt und mich verachtet, fahr' ich mit dem ersten Dampfer wieder zurück, oder ich stürz' mich ins Meer.«
Die Schwester überlegte.
»Man müßte ihn irgendwie am Bändel behalten,« sagte sie leis vor sich hin.
»Das kannst du bloß tun!« rief Purzelchen, sie stürmisch umhalsend. »Du bist ja so klug. Du kennst sie ja in- und auswendig alle. – Bitte, bitte, hilf mir auch diesmal!«
»Na gut,« sagte die Schwester. »Ich will's mal darauf ankommen lassen und ihm die Schlüssel selbst überbringen. Das übrige wird sich dann von alleine entwickeln.«
Neue Hoffnung erblühte in Purzelchens Seele. Was Gudrun in ihre langen Klavierfinger nahm, was sie mit ihrem seraphischen Lächeln betreute, gedieh wie von selber zu einem glücklichen Ende.
Mit strahlendem Eifer beschrieb sie ihr Fritzens Wohnung, nannte die Stunden, in denen er gewöhnlich zu finden war, und fügte listig die Zeiten der Briefbestellung hinzu, um ihn, falls er sich zu verleugnen beabsichtigte, durch den Glockenlärm zum Öffnen der Tür zu verleiten.
»Und kommt er auch dann nicht, dann benutzt du einfach den Flurschlüssel, gehst durch den langen Korridor zu ihm 'rein, und dann – ja dann – –«
So weit langte ihr Mut. Nun wußte sie einfach nicht weiter. Aber Gudrun, die wußte. Das sah man dem verstohlenen Lächeln an, mit dem sie rechnend ins Leere sah. –
Der Vormittag verging über Hausarbeit und Stundengeben wie immer. Gudrun tat, als ob nicht der Schimmer einer welterlösenden Tat ihrer harrte, aber Purzelchen wurde von Ungeduld fast aufgefressen. Sie rannte ziellos zwischen Küche und Vorderwohnung hin und her, blieb vor den Uhren stehen und verwünschte das Schleichen der Zeiger.
Gegen zwölf, während Gudrun übte, erschien Herbert vor seiner Schlafzimmertür und war baß verwundert, die kleine Schwester heute daheim zu finden.
»Hat er dir nichts gesagt?« fragte Purzelchen.
»Nee. Er muß Zahnschmerzen gehabt haben, denn er war ganz verbunden. Für den Heiland der zahnleidenden Menschheit nicht überaus passend. Ließ sich bis zu seiner Wohnung fahren und dann bestellen, er brauche mich nicht. Also, was soll er mir gesagt haben?«
»Daß ich ausgetreten bin.«
»Aus Gram darüber siehst du wohl so verheult aus – was?«
»Ach, geh, mit dir ist doch kein vernünftiges Wort zu reden.«
»Erst gib deinem kleinen Mann den Laufpaß, dann sollst du mal sehen, wie vernünftig ich sein kann.«
Diese Worte rieselten in wohligem Schauer an Purzelchens Nacken hernieder, denn abgesehen davon, daß sie ein Loskommen von Herrn Gerberding in das Bereich lockender Möglichkeit rückten, ließen sie die geheimnisvollen Aussichten, mit denen Herbert seit langem spielte, von neuem aufleuchten.
»Übrigens: da du vom Doktor weg bist,« so schloß er die Unterhaltung, »hab' ich auch keine Lust mehr, ihn 'rumzukutschieren. Ich brauch' sowieso einen Posten mit modern fühlenden Töchtern. Morjn, mein Liebling.«
Und er ließ sie in ihrem Erwartungsfieber allein. – –
Das Mittagessen kam, in dessen Verlaufe die Eltern mit geziemender Vorsicht von Purzelchens Austritt in Kenntnis gesetzt wurden, aber als sie wieder verschwunden waren, dachte Gudrun noch längst nicht ans Fortgehen. Im Gegenteil, sie putzte und spiegelte sich, als hätte sie irgend ein Fest vor. Sogar sich die Haare waschen zu lassen, schien ihre Absicht, denn sie beklagte sich über die aufgegangenen Wellen.
So daß Purzelchen schließlich ganz böse wurde und sagte, wenn sie nicht Ernst mache, dann könne man die Schlüssel immer noch beim Portier abgeben, wie er's bestimmt habe.
Und da hatte sie's plötzlich wunder wie eilig.
»Ja richtig, die Schlüssel! Gib her. Gib bloß her!«
Und sie ruhte nicht eher, als bis sie Purzelchens höchsten Schatz in ihrer Tasche versenkt hatte. – – –
Die nächsten Stunden verflossen in qualvollem Harren.
Um drei war sie gegangen, um vier konnte sie allenfalls schon wieder dasein.
Aber es wurde fünf, es wurde sechs, und noch immer ließ sich nichts von ihr hören.
Um sieben würde Herr Gerberding zum Abholen kommen. Wenn sie bis dahin nicht wieder zurück war – nicht auszudenken der Jammer des heutigen Abends!
Da endlich, endlich drehte sich der Drücker im Schlosse.
Hochrot vor Anstrengung, ein großes Paket unter dem Arme, erschien die Schwester im Hausflur.
»Uf!« sagte sie und warf ihre Last auf die Erde. Das klirrte und klapperte von tausend geheimnisvollen Dingen, und zu zerbrechen schien auch was.
»Was hast du da?« fragte Purzelchen, aus dem dumpfen Gefühl heraus, daß zwischen der Mission der Schwester und diesem Paket ein Zusammenhang war.
Die klopfte sie auf die Backe und sagte scherzend: » La gazza ladra!«
Diese Worte – das wußte Purzelchen wohl, denn sie hatte das Notenheft für die Schwester selber geholt – waren der Titel einer Oper von dem italienischen Komponisten Rossini und hießen auf Deutsch: »Die diebische Elster«.
Die diebische Elster war niemand sonst als sie selber, und in dem Pakete befanden sich alle die Sachen und Sächelchen, die sie im Laufe der Monate der Wirtschaft heimlich entnommen hatte, um Fritzens Haushalt damit zu bereichern.
Anfangs war er böse gewesen, dann aber hatte er's lachend geschehen lassen, da es ja nur eine Anleihe war, die mit Purzelchens Wegfahrt von selber zur Rückgabe kommen mußte.
Nun hatte er nicht einmal bis dahin gewartet, sondern alles zusammengesucht, um durch die Wiedererstattung auch dieses Band zu zerreißen.
»Erzähl, erzähl!« rief Purzelchen, aufbrennend in Angst und Begierde.
Aber die Schwester war noch nicht willens, ihr Rede zu stehen.
»Erst muß dies eingeräumt werden,« sagte sie, »sonst sind mit einmal die Alten zurück und finden die ganze Bescherung.«
Damit löste sie den Bindfaden, der die Umhüllung zusammenhielt.
O Gott, was da alles zum Vorschein kam!
Außer Großmamas Longshawl, der seine Kleider vor der Verstaubung bewahrt hatte, waren da: eine Bratpfanne für Rührei, eine Kasserolle für Griessuppe, Reis und Kartoffeln – soweit hatte Purzelchens Kochkunst gereicht –, eine Pfeffermühle, eine Käseglocke, ein Brotmesser und zwei frisch zerschlagene Teller, selbst etliche Staublappen waren da, mit roten Kreuzstichen umsäumt, wie sie abends am Familientische hergestellt wurden.
Allinsgesamt Zeugnisse mancher glückseligen Stunde, wenn sie vorm Gaskocher gestanden und ihm das Abendbrot bereitet hatte!
Ach, war das traurig! Rein zum Herzbrechen war's!
Mit ein paar raschen Griffen hatte Gudrun den Krimskrams auseinander getan und so geschickt in Eßzimmer und Küche verteilt, daß das Wiedererscheinen niemandem auffallen konnte.
Und als schließlich der Bruch in den Müllkasten gewandert war, durfte die Berichterstattung beginnen.
Doch Gudrun schien auch jetzt noch die Schweigsame spielen zu wollen.
»Das beste wäre, du fragtest mich gar nicht,« sagte sie. »Er behauptet, du habest ihn gestern zu schwer enttäuscht, als daß er noch jemals – und so dergleichen … Gib dich zufrieden, mein Herzlieb. Er ist aus einer anderen Welt – oder vielmehr aus einem anderen Jahrhundert, und was er sagt und tut, läßt sich nur daraus erklären, daß er dich sehr, sehr liebgehabt hat.«
»Ja, das hat er!« klagte Purzelchen in sich hinein.
»Bei uns hier gibt es das gar nicht mehr,« fuhr die Schwester nachdenklich fort, »denn wir haben uns allzufrüh an das Wechseln gewöhnt. Wie in einem Zauberreich bist du da oben gewesen, Kleines. Man könnte dich wirklich beneiden.«
»Und ist nun alles, alles aus?« fragte Purzelchen, gefaßt, ihr Todesurteil zu hören.
Die Schwester zuckte die Achseln.
»Er sagt Ja,« erwiderte sie, »aber ich sag' Nein … Sonst würd' er nicht einverstanden gewesen sein, wieder mit mir zusammenzukommen.«
»Wie? Ihr werdet – – –?« Neue Hoffnung leuchtete auf, in die ein Gefühl bitteren Neides sich mischte.
»Ja, wir werden,« entgegnete Gudrun mit einem befriedigten Lächeln, »und dann wird's sich ja zeigen, was ich für mein Purzelchen tun kann.«
»O du Liebe, du Süße!« jubelte sie, die Schwester umhalsend.
Aber, als sie sich von ihr gelöst hatte, gewahrte sie, daß sie, wie immer, wenn sie einen Hintergedanken hatte, mit einem schiefen Blinzeln an ihr vorbei ein Loch ins Leere bohrte.
Und wäre die Schwester nicht gar so hilfreich gewesen, dies hätte ihr nicht sehr gefallen.