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Als Purzelchen an demselben Abend mit Herrn Gerberding zusammentraf, hatte sie zuerst die Absicht, ihm das Anerbieten des Fräulein Ellinor Schmitz ganz und gar zu verschweigen. So sehr scheute sie sich vor einem abermaligen Wiederbegegnen.
Dann aber überlegte sie, daß es hart und wenig liebevoll sein würde, Fritz ohne Beistand in den Händen jener Dame zu lassen, die offen eingestand, daß sie bestrebt war, ein Spielzeug aus ihm zu machen. Solange sie im Lande war, hatte sie die Verpflichtung, ihm Rat und Zuspruch zu schenken und ihm so auch für künftige Zeit eine Stütze zu sein.
Darum begann sie alsbald: »Weißt du, Theodor« – ja, jetzt war er ein Theodor, ein lieber, unter Umständen sogar ein »geliebter« Theodor – während sie ihn in ihrem Innern noch immer »Herr Gerberding« nannte – »weißt du, ich habe eine sehr interessante Bekannte, eine reiche und elegante Dame, die mit einem Bekannten von mir verlobt ist und die gerne zu vieren mit uns beiden zusammensein möchte.«
»Aber ja doch,« sagte er noch ganz vergnügt, »das können wir machen.«
»Würde dir zum Beispiel der morgige Abend recht sein?«
»Warum soll mir der morgige Abend nicht recht sein?«
»Und denke dir, sie ist mittelbar auch eine Bekannte von dir. Sie gehört nämlich zu den reichen Schmitzens in Soest, bei denen du ja freundschaftlich verkehrt hast. Und als ich ihr das sagte, freute sie sich sehr, mit dir von ihrer Familie sprechen zu können, mit der sie etwas verkracht ist. Du wirst also gleich Berührungspunkte haben mit ihr.«
»So, so,« sagte Theodor, aber zu freuen schien er sich nicht. Im Gegenteil, nachdem er eine Weile vor sich hingeknurpst hatte, begann er: »Weißt du, Annemiechen, es wird doch wohl nicht gehen morgen abend. Ich erwarte eine ganz wichtige Post, die ich vielleicht auf der Stelle beantworten muß. Und darum kann ich mich im voraus nicht binden.«
»Nun, dann werd' ich ihr für morgen abschreiben,« meinte Purzelchen, »der Sonntag oder der Montag wird ihr gewiß ebenso recht sein.«
»Ja, ja, wie du willst,« erwiderte er, aber recht einverstanden schien er auch hiermit nicht, und nach etlichem Drucksen begann er von neuem: »Übrigens, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, passen tut mir das gar nicht. So'ne Sache zu vieren hat doch immer was Gezwungenes. Wenn das nun nicht zusammenstimmt, was dann? Und überhaupt, ich bin doch viel lieber mit dir allein. Wir nehmen ja auch keinen von deinen Verwandten mit. Also warum eigentlich?«
»Zuerst warst du mit Händen und Füßen dafür,« sagte Purzelchen, »und mit einmal willst du nicht mehr?«
»Man überlegt sich so was,« erwiderte Theodor. »Und wie ich mir das überlegt hab' – na ja!«
Und dabei machte er ein Gesicht wie die Katze, wenn's donnert.
›Hier ist etwas nicht richtig,‹ dachte Purzelchen, aber die Erkenntnis, was es wohl sein mochte, kam ihr erst später.
Als sie im Bette lag und über das heute Erlebte nachsann, wurde es plötzlich helle in ihr: ›Geschwindelt hat er. Von den Krupps auf Hügel und den Jansens in Krefeld und den Schmitzens in Soest – alles hat er geschwindelt.‹
Und wenn dieses Schwindel war, dann konnte auch alles übrige Schwindel sein. Die zwei Autos und die Prokuristen. Und die fabelhaften Gewinste.
Dann wohnte er im »Adlon« nur, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen, und gehörte zu denen, die man »Hochstapler« nannte, dieser verwerflichen Menschengattung, von der in den Zeitungen und in den Romanen so viel geschrieben stand!
Sie aber, das arme Purzelchen, rannte geradeswegs in ihr Unglück.
Da war es schon wirklich das beste, man tat, was Fräulein Ellinor Schmitz heute geraten hatte: man wandte sich an ein Auskunftsbüro, es mochte kosten, soviel es nur wollte.
Aber eine innere Stimme war dagegen. ›Tu's nicht,‹ sagte die Stimme, ›du darfst von der Person nichts annehmen. Nicht einmal einen Rat. Denn dadurch wirst du ihr etwas schuldig. Und Feinden darf man nichts schuldig werden. Frei muß man sein, wenn man ihnen eins auswischen will.‹
Und hierzu war sie entschlossen. Ein Plan wuchs in ihr, teuflisch zu nennen, aber gerade recht als Schlag gegen die Teufelin.
Am nächsten Morgen beim Aufstehen sagte sie zu Gudrun: »Du, hör mal, wie war das doch mit dem großen Philosophen, dem Nietzsche? Der hat doch mal was gesagt von dem Weib und der Peitsche.«
»Gewiß,« erwiderte Gudrun. »Der hat gesagt: ›Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht.‹ So'n Esel! Das meintest du doch, nicht?«
»Ja, ja. Das meint' ich. Ach, bitte, schreib mir das auf!«
»Kannst dir ja selber aufschreiben.«
»Nein, nein. Dann bin ich sicher, daß es auch stimmt.«
Und Gudrun, die sonst so schlau war, fiel richtig darauf 'rein. »Ob es wörtlich stimmt, weiß ich nicht,« sagte sie und schrieb mit ihren großen, steilen Buchstaben auf die leere Hälfte eines Liebesbriefs: »Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht.«
Im Besitz dieses Schatzes rannte Purzelchen in der Mittagspause zum Kaufhaus des Westens und kaufte dort in der Sportabteilung für acht Mark fünfzig eine knirschende, goldgelbe, mit kleinen Knoten versehene Reitpeitsche, als deren Empfänger sie Herrn Fritz von Nadolny angab, dem die Ware zugeschickt werden solle. Auch möchte man so freundlich sein, dieses verschlossene Zettelchen in das Kuvert zu tun und die Adresse selber zu schreiben, da sie sich unglücklicherweise die Hand verknackst habe.
So. Nun war er gewarnt. Sie selbst aber blieb aus dem Spiel und brauchte ihm die Verlobte nicht noch mehr zu vermiesen.
An diesem Tage konnte sie nicht zu ihm, und nur auf dem Wege über Fräulein Ellinor Schmitz bekam er die Nachricht, daß sie ihm fernbleiben mußte.
Aber am nächsten, dem Sonntag, an dem sie arbeitsfrei war, rannte sie spornstreichs hin. Kaum, daß sie die Mittagsstunde zu erwarten vermochte.
Er saß über Papieren und Büchern und schaute müd' und bekümmert darein.
»Ich habe mich gestern so sehr auf dich gefreut,« sagte er, »daß der Abend mir ganz unerträglich war.«
»Glaubst du, der meine nicht?« erwiderte sie und sah sich nach der Reitpeitsche um, aber die war nicht zu entdecken.
Und dann verlangte er natürlich zu wissen, wie die Unterredung verlaufen war und welchen Eindruck sie mit sich genommen hatte.
»Was hat sie dir von mir gesagt?« fragte sie vorsichtig zurück.
»Du seiest ein liebes Ding, hat sie gesagt, und sie würde dich gerne näher zu sich heranziehen. Und so noch einiges weiter. Ich mochte nicht mehr aus ihr herausholen. Mir tat das Herz zu weh.«
»Und so ging's mir auch,« erwiderte sie, »drum weiß ich auch nichts zu sagen, als daß sie sehr nett zu mir war und daß sie – sehr lieb – von dir sprach und daß du gewiß – sehr glücklich – sein wirst mit ihr.«
Dabei dachte sie: ›Jetzt wird er gewiß nicht mehr argwöhnen können, daß ich es war, die ihm die Peitsche geschickt hat.‹
Aber daß er ihr von der Sendung erzählen würde, das glaubte sie fest. Sie wartete und wartete, doch mit keinem Worte kam er darauf zu sprechen. Gewiß schämte er sich, von irgendwem in der Welt an seine demütigende Lage erinnert zu sein.
So gingen sie auseinander, und das Geheimnis war wie eine Mauer zwischen den Seelen.
Aber was wollte dies Geheimnis bedeuten gegen das andere – große –, an dem sie anfangs geglaubt hatte achtlos vorüberschauen zu dürfen, das jetzt aber von einem Tage zum andern bedrohlicher gegen sie aufstand?
Das Geheimnis, das sie mit ihrem Brotherrn, dem dämonischen Doktor Shadow verknüpfte!
Seit dem Tage, an dem sie ihm von ihrer Verlobung erzählt hatte, schien es, als habe er ein neues Interesse an ihr gewonnen.
Der flüchtige Kuß auf Stirn und Wange, mit dem er sie morgens empfing und abends entließ, wurde länger und weniger verwischbar, er näherte sich immer mehr ihren Lippen, und ob sie das Gesicht auch zur Seite wandte, er wußte die Stelle zu finden, von der aus ein Grauen ihr durch den Leib rann.
Und manchmal, auch wenn Patientinnen da waren, gewahrte sie, wie sein Blick sie mit wohlgefälligem Lauern umstrich, so daß ihr heiß und kalt wurde vor lauter Angst.
Immer mehr wurde ihr klar, daß sie ein wehrloses Opfer war in seiner Hand, sobald er von neuem ihrer begehrte. Die Hutnadel hatte sie als kindisch und albern schon längst zu Hause gelassen, und wie man sich einer besseren Waffe bedient, davon ahnte sie nichts.
Das beste wäre gewesen, sich krank zu melden und nicht mehr wiederzukommen, aber wie sollte sie das den Ihren erklären, nachdem sie sich bis zum ersten Oktober festgelegt hatte? Auch brauchte sie das Monatsgehalt höchst notwendig. Die Schlangenhautschuhe allein hatten achtundfünfzig Emchen verschlungen. Das mußte eingeholt werden.
Und so kam es, daß sie zwei Tage später von ihrem Schicksal ereilt wurde.
Die Sprechstunde war zu Ende. Die Werkzeuge lagen in Lysoform, und nichts blieb übrig, als sie zu trocknen.
Der Doktor hatte Johnny weggeschickt und war dann selber gegangen.
Da stand er plötzlich in Überzieher und Hut auf der Sprechzimmerschwelle.
»Ich habe mein Zigarettenetui vergessen,« sagte er. »Willst du es mir nicht suchen helfen?«
Dabei lag das Etui ganz offen vor ihm auf dem türkischen Rauchtisch.
Und wie sie es ihm hinreichen wollte, da griff er nach ihr und ließ sie nicht wieder los.
»Um Gottes willen, Herr Doktor,« stammelte sie.
Aber er griff nur noch fester.
Sie bat und sie flehte, und als das nichts half, da schlug sie nach ihm. Sein Kragen löste sich, sein Hut flog zu Boden. Sie rang mit ihm wie eine Verzweifelte.
Aber wo sollte sie die Kräfte hernehmen, die den tollgewordenen Mann zum Einhalten zwangen?
»Fritz,« schrie sie, schon fast ohne Besinnung, »hilf mir doch, Fritz!«
»Dein Fritz kriegt dich noch zeitig genug!« lachte er, offenbar in dem Glauben, daß sie nach ihrem Verlobten gerufen habe.
Da – in höchster Not – fiel Herr Bach ihr ein, der alte Techniker, der dahinten in seiner Werkstatt sicher noch arbeitete, und als des Doktors eiserner Griff sich für einen Augenblick lockerte, riß sie sich los und stürzte nach der Korridortür.
Er ihr nach. Durch den langen Gang raste die wilde Jagd. Da endlich hielt sie die rettende Klinke in ihrer Hand.
»Herr Bach, lieber Herr Bach!«
»Kindchen, Kindchen! Mein armes Kindchen,« hörte sie seine Stimme. Kein Engelgesang konnte lieblicher tonen als diese quäkige Stimme.
Und dann: »Ich hab's ja kommen sehen, oder vielmehr, ich hab' gedacht, es wär' schon längst gekommen. Wie bei all den anderen auch. Bleiben Sie hier. Ich hol' Ihnen von vorn Ihre Sachen, und dann gehen Sie gleich durch die Hintertür.«
So verängstigt war sie, daß sie bis zur Rückkunft des alten Mannes an allen Gliedern zitternd in einer Ecke kauerte, und selbst auf der Straße noch glaubte sie, bei jeglichem Schritt von dem Doktor angefallen zu werden.
Fritz erwartete sie, das war abgemacht. Denn eine Stunde blieb ihr frei, ehe Herr Gerberding sie abholen kam.
›Laß ihn warten,‹ mahnte die Vorsicht in ihr, aber so groß war ihre Sehnsucht, in seinem Anblick Trost und Reinheit zu finden, daß sie nichts anderes vermochte, als zu ihm zu eilen.
Schon als sie eintrat, fragte er gleich: »Was ist los mit dir?«
Dabei hatte sie sich vor einem Schaufensterspiegel vorher in Ordnung gebracht.
»Was soll los sein?« fragte sie und probierte ein neckisches Lächeln.
Aber er ließ sich nicht dumm machen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie bis an sein Bett.
»Hier leg dich hin,« sagte er, »und such zur Ruhe zu kommen. Ich werd' mich dir zu Fußenden setzen und kein Wort zu dir reden, bis du wieder zum Menschen geworden bist.«
So ganz fühlte sie sich in seiner segnenden Macht, daß sie nicht den mindesten Widerstand wagte.
Als sie sich lang ausgestreckt hatte, die Knie und die Fußballen dicht beieinander, da war ihr zumute, als läge sie schon tief unten im Sarge und er säße oben an ihrem Grabhügel und schaute quer durch Erdreich und Deckel zu ihr herab.
Und sie schloß auch die Augen und tat, als schliefe sie ein.
Aber in ihr tobte der Aufruhr der Seele, der Sinne ärger denn je.
›Dies ist der Augenblick,‹ schrie es in ihr, ›daß er erfährt, wer ich eigentlich bin … damit er endlich die blöde Ehrfurcht vor mir fahren läßt. Wenn er weiß, daß doch nichts mehr an mir zu verlieren ist, dann wird er mich an sein Herz nehmen und wir werden ganz glücklich sein, bis ich als Frau Gerberding nach Amerika gehe.‹
Wenn sie nur gewußt hätte, wie sie's ihm beibringen sollte!
Aber das Bekennen war doch recht schwer. Man brauchte nur durch die gesenkten Wimpern heimlich nach seinen sorgenden Augen zu schielen, um zu wissen, daß es unmöglich war.
Und doch mußte es sein. Heute und gleich. Denn sonst kam der Mut ihr nie wieder.
Und so lag sie und fühlte, wie in der Angst um das, was nun vor sich gehen würde, ihr Atemholen immer schneller und keuchender wurde.
Bis er sich schließlich über sie neigte und von ganz nah her zu ihr herabsprach: »Ich sehe ein, mein Mittel war falsch. Statt daß du dich beruhigst, wird deine Erregung nur stärker. Darum wird's besser sein, du sprichst dich aus. Es muß etwas Wichtiges und Schlimmes sein, was dich bewegt.«
»Ja, das ist es,« sagte sie leis vor sich hin.
»Also hab Vertrauen zu mir,« fuhr er fort, »du weißt, ich bin der erste auf Erden, zu dem du es haben kannst.«
»Nein,« erwiderte sie zwischen den Zähnen hindurch, »der letzte bist du.«
Da fuhr er hoch: »Was heißt das?«
»Das heißt, daß – ich – daß du –«
Und da stockte sie schon. O Gott, wie war es doch schwer!
»Mach mal die Augen auf, Liebling,« sagte er, »wenn du mich ansiehst, wird es schon gehen.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Dann erst recht nicht,« murmelte sie. Aber dann plötzlich kam die Kraft ihr zurück. Oder vielmehr: der ganz große, alles zerbrechende Wille kam, aus dem heraus man sich in den Kanal stürzt oder Fräulein Ellinor Schmitz Vitriol ins Gesicht gießt.
Und jetzt schlug sie die Augen rund und grell zu ihm auf.
»Die Sache ist die,« sagte sie und wunderte sich, wie ruhig sie mit einmal war, »wenn du denkst, daß ich noch dieselbe bin, die ich war, als du mich vor anderthalb Jahren auf dem Savignyplatz trafst, dann bist du sehr auf dem Holzweg. Ich bin gar nicht mehr die Unschuld von damals. Gar nicht mehr. Gar nicht mehr … So, nun ist es heraus.«
In dem Entsetzen über das, was er argwöhnte und doch nicht zu argwöhnen wagte, wurde sein Gesicht ganz lang und ganz weiß.
»Soll das – heißen –?« stammelte er nach vorne gebeugt.
»Ja, gerade das soll es heißen,« erwiderte sie.
Mit beiden Händen griff er nach ihr. Wie zwei Tatzen bohrten sie sich in ihr Schulterfleisch.
›Jetzt wird er mich schlagen,‹ dachte sie.
Aber er schlug sie nicht. Und das tat ihr fast leid. Denn hätte er sie geschlagen, dann wäre sie vollends die Seine gewesen.
»Steh auf und erzähle,« sagte er, die Hände wieder zurückziehend.
Sie machte sich krumm, um an seinem Körper vorüberzugleiten, und schwang die Beine zur Erde.
»Was ist da viel zu erzählen?« rief sie mit einem Ansatz zum Lachen.
»Wer ist es?«
»Wer wird's gewesen sein? Der Doktor natürlich.«
»Dein Chef?«
»Wer denn sonst?«
»Und warum kamst du so wild heute an?«
»Weil er dachte, er könnte es wieder probieren. Aber jetzt bist du ja mein Schutz, Fritz! – Lieber, lieber, geliebter Fritz! Hab doch Erbarmen mit mir. Stoß mich nicht von dir! Gut oder schlecht, nimm mich doch, wie ich bin … Was schad't denn das viel, was damals passiert ist? Du warst doch nicht da, und überhaupt – –! Ich hab' dich doch lieb! Ich hab' dich doch lieb! Ich hab' dich doch lieb!«
Dies stieß sie schreiend heraus, dann warf sie den Kopf in seinen Schoß und umklammerte seine Hüften.
So lag sie lange und schluchzte.
»Der Schurke!« hörte sie seine knirschende Stimme dicht über sich.
Und dann plötzlich fühlte sie seine Hand leise streichelnd auf ihrem Haar. Erst glaubte sie, sie täusche sich, denn es war viel zu schön, um Wahrheit zu sein, aber das Streicheln kam wieder und wieder und hielt nur an, wenn die Hand sich auf ihrem Kopf einen Ruheplatz suchte.
›Nun hab' ich's überstanden,‹ dachte sie innerlich jubelnd, ›und er ist wieder gut.‹
Und weil er wieder gut war, so durfte sie ein übriges wagen: sie hob die Arme zu seinen Schultern empor, und indem sie sich hochzog, suchte sie mit ihren Lippen durstig nach seinem Munde.
Aber dieser Mund war nirgends zu finden, und als sie die Augen aufschlug, gewahrte sie, daß er den Kopf zur Seite gewandt hatte, geradeso wie sie selber es tat, wenn sie dem Kusse des Doktors ausweichen wollte.
Da fühlte sie: er war nicht wieder gut, oder wenn er gut war, so doch in einer anderen, fremdartigen Weise.
»Fritz!« flehte sie. »Lieber, lieber, lieber Fritz!«
Da sagte er: »Komm hier fort, mein Geliebtes. Hier auf meinem Bette können wir beide nicht bleiben.«
»Aber du hast mich doch selber hierher geführt,« sagte sie.
»Da war – alles – noch anders,« stammelte er.
Und weil sie sich nicht traute zu fragen »Warum?«, ließ sie sich schweigend von ihm ins Wohnzimmer führen und nahm gehorsam den Sofaplatz ein, auf den er sie setzte.
Und wie er sie immer ansah! Mit so mitleidig traurigen Augen, daß ihr die Scham heiß ins Gesicht stieg.
»Höre mich an, Liebling,« begann er. »Es ist fürchterlich an dir gesündigt worden, und ich muß mich hüten, diese Sünde noch zu vergrößern. Du bist auf dem Weg in den Abgrund. Da darf ich dich nicht noch weiter hineinstoßen. Sonst wär' ich nicht mehr wert als jener.«
»Wieso denn?« fragte sie. »In zwei Monaten werd' ich doch Frau Gerberding sein.«
»Aber du sollst mit reinem Gewissen Frau Gerberding sein.«
»Ach Gott, was das anbelangt,« erwiderte sie, »das ist doch schon kaputt. Und dann hätt' ich überhaupt nicht zu dir kommen dürfen.«
»Da hast du leider ganz recht,« sagte er, »und ich hätte mir das wohl überlegen müssen. Aber weil ich dich liebhabe und alles harmlos blieb zwischen uns, so dacht' ich, ich dürfe es doch.«
»Wozu sagst du das alles?« jammerte sie. »Willst du mich wegschicken? Willst du mich 'rausschmeißen aus deinem Leben, weil ich dir nicht mehr gut genug bin?«
»Dich im Stich zu lassen,« erwiderte er, »und gerade jetzt, das wäre ja – pfui, wäre das – – –. Davon, daß ich dich brauche noch diese paar Wochen lang – brauche für mein ganzes künftiges Leben – davon red' ich nicht erst, aber mir scheint, du brauchst mich auch. Mehr vielleicht brauchst du mich als jemals vorher.«
»Es ist mir alles egal,« sagte sie. »Wenn ich bloß bei dir sein kann.« Und dann aufschreiend: »Ja, ich brauch' dich. Ich brauch' dich. So sehr, daß ich – daß ich –. Aber du bist so anders zu mir. Ich hab' solche Furcht.«
»Purzelchen, vor mir hast du Furcht?« fragte er und streichelte ihren Arm. »Mir ist, ich lieb' dich mehr noch als früher. Aber meine Verantwortung ist größer geworden.«
Sie dachte: ›Ach, das ist ja alles Unsinn!‹ Am liebsten wäre sie auf seinen Schoß gesprungen und hätte ihn mit ihren Küssen erstickt. Aber sie war zu feige dazu. Vielleicht hätte er sie dann verachtet. Hätte sie für eine Dirne gehalten. Und dann wäre sie ganz verloren gewesen.
Darum blieb sie still auf ihrem Platze und versuchte nicht einmal über die Tischecke hin nach seinen Händen zu greifen.
Längst schon war es dunkel geworden. Und plötzlich fiel ihr Herr Gerberding ein, der sicherlich schon seit einer Stunde in der leeren Wohnung saß und auf sie lauerte.
»Ich muß heimgehen,« sagte sie mutlos.
Er stand auf, um sie durchzulassen.
»Fritz!« bettelte sie.
Und er, der sie, seinem Schwure getreu, sooft sie auch zu ihm heraufkam, noch niemals geküßt hatte, neigte den Kopf zu ihr nieder und drückte die Lippen auf ihre Stirn.
So küßt das Mitleid. So mag der arme Sünder geküßt werden, ehe man ihn hinrichten läßt.
Weit schlimmer als gar keiner war dieser Kuß.
Mit beiden Händen stieß sie ihn von sich, rannte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.