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Nun begann eine glückselige Zeit.
Purzelchen war unangefochtene Besitzerin des zweiten Schlüsselpaares und konnte, mit ihm bewaffnet, zu allen Zeiten bei Fritz aus und ein gehen.
Und das tat sie fortan so ausgiebig, daß sie dort oben fast mehr noch zu Hause war als bei den Eltern.
Ob sie ihn vorfand oder nicht, blieb sich egal. War das Nest leer, dann hatte sie Zeit, Ordnung zu machen und für ihn tätig zu sein.
Kleider und Wäsche befanden sich in greulichem Zustand. Das Ärmelfutter hing in Lappen herab, Knöpfe fehlten an allen Ecken, und die graugelben Wollstrümpfe, die an sich schon ein Unglück waren, zeigten Stellen, die nach der Stopfnadel dringend verlangten. –
Um den Garderobenschrank zu ersetzen, machte sie im Baderaum eine Hakenreihe zurecht, in der seine paar Anzüge, auf Bügel gehängt, reichlichen Platz fanden. Die Bügel wurden Herbert entliehen, und als Schutzdecke gegen den Staub mußte ein Longshawl herhalten, den Mama von ihrer Mama geerbt hatte und der als Familienstolz in der Kommode verwahrt wurde. Sollte sein Verlust eines Tages bemerkt werden, so konnte er sich wenige Tage später an irgend einer unmöglichen Stelle leicht wieder vorfinden, was einem schließlich noch Dankbarkeit eintragen mußte.
Überhaupt wanderte manches mehr oder weniger entbehrliche Stück zu Fritzens Wohnung hinüber. Mama konnte suchen, soviel sie nur wollte.
Fast das Schönste von allem waren dort oben die einsamen Abende. Zum Essen blieb sie aus Vorsicht meistens daheim, für die folgenden Stunden aber hatte sie einen Ferienkursus entdeckt, in dem ein monetenloser Studienrat die Schwermut des Daheimbleibens auf nutzbringende Weise ertränkte.
Was Purzelchen da nicht alles gelernt hätte! Die Stellung der modernen chinesischen Frau, das Wesen der Majakultur, die Schriftarten der alten Ägypter und manches andere unentbehrliche Wissen wäre ihr kein Geheimnis geblieben, wenn sie es nicht vorgezogen hätte, die Zeit, die sie auf der Schulbank hätte sitzen müssen, auf jenem Sofa zu vertrödeln, das zwei goldene Greifenköpfe leuchtend begrenzten. Ein paarmal war sie auch dabei gewesen, schon um zu Hause etwas erzählen zu können, dann aber hätten sie keine zehn Pferde mehr hingeschleppt.
Ihr sehnlichstes Verlangen blieb, die Heimkunft des Freundes abwarten zu können, doch er hatte es nun einmal verboten, und seinen Wünschen zuwiderzuhandeln, fand sie niemals den Mut.
Aber jedesmal ließ sie ein Zeugnis ihres Dagewesenseins für ihn zurück.
Mit der Bildpostkarte begann's, die sie einst für Willi und Kurt und Hans Joachim hatte anfertigen lassen, und als sie beim nächsten Mal Fritzens überströmende Freude gewahrte, beschloß sie, es künftig nie mehr anders zu machen.
Aber Bilder der eigenen Person kann man nicht immer verschenken, besonders wenn man – den einjährigen Nackedei mitgerechnet – deren nur zwei oder drei zur Verfügung hat.
Statt ihrer waren natürlich Blumen das Beste. Doch Blumen sind teuer, selbst in der Rosenzeit.
Beim Doktor hingegen standen die schönsten Sträuße herum an allen Ecken und Enden. Die einen brachten Patientinnen schämig lächelnd mit – und sie selber mußte sie gar noch in Wasser tun! –, die andern wurden später als Erinnerung gelungener Röntgenaufnahmen im Vorraum geheimnisvoll abgegeben und geheimnisvoll von dem grinsenden Johnny hereingebracht.
Und an jedem Tag kamen frische.
Es wäre wahrhaftig ein Frevel gewesen, hätte man seine paar elenden Pfennige dem Gärtner geopfert, während diese Schätze unbeachtet verwelkten.
Darum zupfte sie, wenn der Doktor gegangen war, das Schönste für sich heraus. Nicht viel – das wäre Fritz allzusehr aufgefallen –, aber immer genug, um ihm eine Freude zu machen.
Und dann ging sie, ohne das Blumenbündelchen im mindesten zu verbergen, stolz an Johnny vorüber.
Und er nickte verständnisvoll, denn er klaute ja selber. –
Ein Glück war es jedesmal, den Strauß so wirkungsvoll zu verbergen, daß Fritz beim Heimkommen irgend eine kleine Überraschung erlebte.
Bald stellte sie ihn zwischen die Säulen, dort, wo die Photographien eines Schmuckes bedurften, bald pflanzte sie die einzelnen Stengel zwischen die Getreidehalme in das lockere Erdreich, bald band sie sie hinter den eisernen Stäben des Feldbettes fest, so daß er erst durch den Duft auf sie aufmerksam wurde.
Immer fand sie neue Verstecke und neue Spitzfindigkeiten, um ihn mit einer zärtlichen Neckerei wissen zu lassen, daß sie sein Leben auch ohne sein Zutun mit ihm gelebt hatte. Und wenn er sie nach dem Ursprung der Blumen fragte, dann erklärte sie ihm treuherzig, daß sie zur Dekoration des Ladens gehört hätten, um bei dessen Schluß allabendlich weggeworfen zu werden.
Das Höchste von allem, was sie ihm schenken konnte, waren natürlich die seidenen Strümpfe.
Schon mehrfach hatte sie ihm über die graugelben Scheusäler ihr Mißfallen kundgetan.
»Du wirst dir schließlich noch die ganze Heirat verderben,« so hatte sie gescholten. »Denn eine elegante Frau läßt sich für die Dauer das nicht gefallen.«
Aber er war schwerhörig in diesem Punkte. Seine Mutter hatte sie nach alter Sitte selber gestrickt, und darum fühlte er sich verpflichtet, sie auch zu tragen.
Ein halbes Dutzend von der Sorte war da, und oft schon hatte sie sich versucht gefühlt, sie ins Feuer zu werfen. Statt dessen mußte sie sie selber noch stopfen.
Aber endlich war der Tag gekommen, an dem die bordeauxfarbenen Kunstwerke zur Übergabe bereit lagen. So dunkel waren sie, daß das Rot nur wie der Widerschein einer verborgenen Sonne daraus hervorbrach, und wenn man sie anfaßte, knirschten sie leise. Alle Bembergware erschien als ein Plunder dagegen.
»Also, lieber Fritz,« – sie schluckte und schluckte – es war doch recht schwer – »da ich nicht schuld sein will, daß dein Lebensglück durch diese abscheulichen Strümpfe am Ende noch scheitert –«
»Wie solltest du daran schuld sein?« unterbrach er sie.
»– oder da ich diese Gefahr wenigstens nicht länger mit ansehen kann, so habe ich – habe ich selber – und weil ich sie selber gestrickt habe, so darfst du sie auch nicht zurückweisen, denn sie sind eine weibliche Handarbeit – wie ein Vielliebchengeschenk – oder so. Die Vielliebchengeschenke sind zwar aus der Mode gekommen – aber die Strümpfe nicht. Und darum zieh sie mal an.«
So. Nun war es heraus. Und er schalt auch Gott sei Dank gar nicht.
Er nahm sein Purzelchen in den Arm und sagte: »Wenn es nicht so rührend wäre, wär' es grotesk. Mein Liebling, mein lieber!«
Und er streichelte sie vielmals über Wangen und Stirn. Aber küssen tat er sie auch jetzt nicht, ganz wie sein Schwur es verlangte. Und sie hatte doch so große Sehnsucht danach. –
Doch mit dem Anziehen war es noch nicht getan. Schwarze Halbschuhe fehlten und Strumpfhalter auch. Denn die Scheusäler hatten immer in dicken Wülsten über den Knöcheln gelegen.
Das alles mußte angeschafft werden. Und sie verabredeten, am nächsten Nachmittag in der Tauentzienstraße zusammenzukommen, denn wenn er zu Stiller ging, wollte sie natürlich dabeisein.
Überhaupt mußte er dauernd bemuttert werden. Man konnte sich nicht vorstellen, wie hilflos solche Männer der Welt gegenüberstehen, besonders wenn sie aus so einem Hinterland stammen.
Und im Notfalle, wenn sie selbst nicht Bescheid wußte, dann war ja Herbert da, den sie um Rat fragen konnte. In Hinsicht der passenden Krawattenfarbe zum Beispiel oder wann man eine Schleife trägt und wann nicht.
Aber in einer noch wichtigeren Frage trat Herbert in die Erscheinung.
Eines Tages hatte Fritz ihr nämlich geklagt, daß Ellinor – so hieß die Zukünftige – wegen seines dauernden Nichttanzenkönnens sehr wenig erfreut sei.
»Wir sitzen da wie die Ölgötzen,« hatte sie einmal gesagt, »und wenn ich nicht Rücksicht nähme auf dich, so ließe ich mir einen Eintänzer kommen.«
Auch hatte sie schon mehrfach verlangt, daß er Lehrstunden nähme, doch wegen seiner Laboratoriumsarbeit war er niemals dazu gekommen.
»Das werden wird bald haben,« erklärte Purzelchen resolut und sprang auf, um die Tische zur Wand zu schieben.
Und dann legte sie sich seinen Arm um die Taille und begann, einen Foxtrot zu pfeifen.
Aber viel wurde nicht daraus. Entweder war er zu unbegabt oder ihr fehlte das pädagogische Rüstzeug. Und schließlich, als sie ihm noch andere Pas vorführen wollte, stellte sich heraus, daß sie zwar alles tanzen konnte, was vorkam, daß sie aber keine Ahnung hatte, wie es gemacht wurde.
Die Tanzlehrerin hatte also ganz recht gehabt, verzweifelt zu sein.
»Das nächste Mal werd' ich so gut Bescheid wissen,« sagte Purzelchen beim Abschied, »als wär' ich der Ballettmeister von der Staatsoper selber.« – – –
»Ach, lieber Herbert, ich hab' schon so lange nicht mehr getanzt. Ich hab' alles verlernt. Zeig' mir doch die Schritte. Ach bitte, ja.«
»Blech,« antwortete er. »Du bist ein kleines Tanzgenie. Du kannst, was du willst.«
» Was bin ich?« fragte sie und machte sehr große Augen.
»Frag nicht viel,« antwortete er, »du weißt es ja selber.«
Nichts wußte sie. Das Gegenteil wußte sie. Doch da er's selber sagte, mußte sie es wohl glauben, und eine Seligkeit überkam sie, als flöge sie, zum Tanze von ihm umschlungen, geradeswegs in den Himmel.
Aber zu solchen Empfindungen war jetzt keine Zeit. Daß Fritz den Ansprüchen seiner Ellinor standhielt, darauf kam's an.
»Bloß die Schritte, Herbert,« bettelte sie, »die sind so schwer. Und auch die Herrenschritte. Besonders die Herrenschritte. Ach bitte, ja.«
»Wozu brauchst du die Herrenschritte?«
»Damit man sich leichter führen läßt, muß man doch alles wissen, nicht wahr?«
»Es ist zwar Blödsinn. Aber meinetwegen. Nur müssen wir dazu zuerst mal 'n Grammophon haben.«
Freudig griff sie den Gedanken auf.
»Ach ja, ein Grammophon. Aber ein kleines, damit ich meinem lieben Bruder nicht so viel Unkosten mache.«
Sie hatte nämlich blitzschnell berechnet, daß einer der kleineren Apparate sich ohne viel Beschwerde zu Fritz hinauf- und wieder zurücktragen ließ.
Und er küßte sie noch auf die Nase, so sehr freute ihn diese tückische Lüge.
Am selben Tage langte ein Grammophon an, so klein, daß man es beim Fortgehen bequem unter den Arm nehmen konnte, und als sie am nächsten Morgen um acht – später bekam sie ihn nicht mehr zu fassen – höchst roh an seine Tür polterte, erschien er im Pyjama, zwar noch verschlafen genug, aber durchaus nicht übelgelaunt, auf dem Plane und nahm mit ihr durch, was sie zu wissen begehrte.
»In einer Stunde werden wir mit dem Quark fertig sein,« sagte er, als sie sich um drei Viertel neun zum Weggehen anzog. »Aber dann kommt meine Belohnung.«
»Was für 'ne Belohnung?« fragte sie.
»Jene improvisierte Geschichte«, erwiderte er, »will mir nicht aus dem Kopfe gehen. Wenn wir es auch niemals brauchen sollten, zwei, drei solcher Duos möchte ich doch mit dir festlegen. Dazu gehören dann noch ein paar Grundbegriffe, die du einüben mußt. Zu einem wirklichen Lernen ist es wohl schon zu spät, aber dieses und jenes geben deine Gelenkbänder noch vielleicht her. – Also – einverstanden?«
Rote und blaue Sterne wirbelten ihr vor den Augen, so sehr hatte die freudige Verwirrung sie übermannt. Noch einmal richtig tanzen – mit einem Könner wie Herbert tanzen, nicht auszudenken das Glück!
»Einverstanden,« stammelte sie.
Herr Gerberding freilich wäre dagegen gewesen – sie hatte ihm auch irgend ein Versprechen gegeben –, aber darum gerade! – – –
Das Grammophon erwies sich zwar trotz seines geringen Formats als eine schwerwiegende Sache, doch wenn man alle Kräfte zusammennahm, konnte man es immerhin bis zu seiner Portierwohnung schaffen. Dort blieb es unter Bewachung, bis er heruntergeholt war. Und so gedieh alles aufs beste.
»Eins, zwei – Pause. – Drei!« Oder: »Beim Wenden Füße zusammenklappen.« Oder: »Erster Schritt immer links!«
So gingen ihre Kommandos.
Den Foxtrot hatte er bald weg. Auch der englische Walzer erwuchs wie von selber aus dem wienerischen Erdreich. Nur der Charleston mit seinen Synkopen machte erhebliche Schwierigkeiten.
»Üben wir morgen noch einmal, dann kannst du sie schon allenfalls auf den Tanzboden führen. Und vergiß nicht, beim Niedersitzen die Hosen über den Knien in die Höhe zu ziehen. Erstens macht das ein Gentleman immer, und zweitens kann sie dann deine seidenen Strümpfe bewundern.« – – –
Auf dem Heimweg, als es schon dunkel war, trug er ihr den Musikkasten bis vor ihre Haustür, so daß sie nicht zu ermüden brauchte, aber als er ihr vorschlug, sie zu demselben Zwecke am nächsten Nachmittag abzuholen, wehrte sie sich mit Entschiedenheit.
»Ein Gentleman trägt nie etwas auf der Straße. Nur um die Weihnachtszeit ist ihm vielleicht ein Paketchen erlaubt. Darum muß ich das Untier schon selber schleppen.«
Und er widersprach auch nicht mehr. So sehr hatte sie den lieben Jungen bereits unterm Pantoffel. – – –
Zwei Tage später forderte Herbert seine Belohnung.
Die Tür seines Zimmers wurde verschlossen, denn Zusehen war strengstens verboten. Und während das Grammophon sich die Seele aus dem Leib quäkte, wurde – so nannte er's – hohe Schule geritten.
O Gott! Was Purzelchen da alles lernte!
Manchmal glaubte sie, ihr brächen die Glieder entzwei, aber wenn sie erschöpft über sein Bett sank, dann riß er sie hoch, und dann ging es auch wieder.
Von Einfall und Eingebung war nun nicht mehr die Rede. Jede Bewegung verdichtete sich nach festgefügten Gesetzen, und wehe ihr, wenn sie irgend eine Willkür hineinspielen ließ!
»Wo hast du das bloß alles her?« fragte sie in grenzenloser Bewunderung.
»Ich habe so lange zugesehen und nachzumachen versucht,« erwiderte er, »hab' sogar noch bei einem russischen Ballettmeister Stunden genommen, bis mir das alles in Fleisch und Blut übergegangen ist. Irgend einen Zweck muß das blöde Getippel doch haben.«
»Und wie steht's mit der großen Partie?« fragte sie, seiner einstigen Worte gedenk.
Mit einem höhnischen Lachen hob er die Schultern. »Da ist wenig zu wollen,« sagte er. »Schmus mit Schlagsahne möchten sie alle. Auch ein bißchen verlobt sind sie gerne, damit das Kind einen Namen hat. Soll's aber mit der Heiraterei ernst werden – –. Na ja! Jetzt mach' du mal erst deine große Partie und gib mir 'n Happen von ab. Wird aber nischt draus, dann – –.«
»Was – dann?«
»Frage nicht mehr. Ich hab' meine Pläne.«
Und sie fragte auch nicht mehr. Aber in ihr blieb ein rätselhaftes Hoffen, das keine Gestalt annehmen wollte und dennoch angetan schien, zu künftigem Glück die Wege zu weisen.
›Frau von Nadolny auf Nadolnien!‹
Feine Sache wär's.
Ein Jammer nur, daß diese zukünftige Frau von Nadolny nicht Purzelchen, sondern so schön und so vornehm »Ellinor« hieß.