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Zweites Kapitel.
Naturgeschichte der Familie Lüdicke

Papa hatte nämlich ein Konfitürengeschäft.

Um das untere Ende der Kantstraße herum war der Name Lüdicke wohlbekannt, und wenn die Welt das wahre Verdienst zu würdigen wüßte, so würde er auch weiterhin rühmlich erklungen sein.

Denn Papa war nicht ein gewöhnlicher Süßigkeitsfritze, der sich seine Pralinees von Sarotti, von Hildebrand, von Riquet oder von Felsche fünfpfundweise ins Haus liefern läßt, um aus der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreisen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. – Gewiß, auch diese Ware wurde geführt, das Publikum verlangte es so – aber mit einer so kläglichen Art der Belieferung hätte Papa sich niemals zufriedengegeben.

Denn Papa war ein Künstler.

Man brauchte ihn nur anzusehen, den zarten, schlanken, von der Wucht seiner Gedanken nach vorn gebeugten Papa, mit den schwärmerischen Augen, der schon erwähnten Lavallièreschleife und dem zurückgestrichenen Lockengrau, um zu wissen, daß eine Künstlerseele in ihm wohnte.

Und diese Seele verlangte nach Hochflug. Darum hatte er sich neben der Abhängigkeit von den weltbeherrschenden Firmen ein eigenes Gebiet geschaffen, auf dem er Alleinherrscher war und seiner Phantasie Genüge tun konnte.

Ursprünglich war er Konditor gewesen, und wer vor dem Kriege in dem liebereichen Konfektionsviertel ein Liebchen besessen hatte, in dem lebt die Lüdickesche Konditorei als Treff- und Ausgangspunkt zu heimlichen Taten noch heute als eine teure Erinnerung. Dann aber war die böse Hungerzeit gekommen, in der das Weizenmehl rationiert wurde, der Zucker sich in Süßstoff verwandelt und die Schlagsahne sich zu einer frommen Sage verflüchtigt hatte.

Da machte Papa es nicht wie die andern Zuckerbäcker, die sich mit dem sogenannten »Eipulver«, mit »Nußersatz« und einer Art von gesüßtem Seifenschaum durch den großen Schlamassel hindurchschwindelten, – er schloß seine Bude und tat sie nie wieder auf.

Wovon die Familie in jenen Jahren gelebt hat, ist ihr selber immer unklar geblieben. Denn die paar Schiebergeschäftchen mit polnischen Eiern – Herbert schickte sie von der Ostfront, und manchmal auch die abgedrehten Halses dazugehörigen Hühner –, mit dänischer Butter und schweizerischer Büchsenmilch, Geschäftchen, welche die pompöse Mama in ihre wurstrunden Finger genommen hatte – konnte man als Erwerbsquelle kaum in Betracht ziehen.

Purzelchen war damals noch zu klein gewesen, um sich hierüber viel Gedanken zu machen. Sie besann sich nur, daß sie eines Tages nach der Kantstraße mitgenommen wurde, wo sich an einer gewissen Ecke ein Laden aufgetan hatte, in dem es tausenderlei schöne Dinge zu schlecken gab und aus dessen Schränken sogar in hohler Hand ein kleiner Tribut für die Schulfreundinnen geklemmt werden konnte.

Zu jener Zeit begann Papas planende Phantasie ihre Flügel neu zu entfalten. Er spähte in der Welt umher, und wenn je nach Ruf oder Erinnerung etwas besonders Leckeres sich seiner Aufmerksamkeit darbot, dann stand alsbald eine Probe davon, mit preisenden Plakaten versehen, in einem der beiden Schaufenster, die die Ecktür malerisch umrahmten.

Und immer noch weiter verstieg sich Papas schöpferischer Ehrgeiz.

Die Produkte fremdländischer Genußsucht waren teuer bereits im Einkauf, auch kosteten sie drückenden Zoll und zum Behufe der Einlösung langwierige Fahrten.

Aber waren sie einmal eingeführt, dann konnte man sie vielleicht selber erzeugen, ohne daß einer der Kunden dessen gewahr wurde. Auf eine kleine Abirrung der Geschmacksart kam es kaum an – die Zungen der meisten sind ja so plump –, manches aber war durch bildreiche Umhüllung und impertinente Warenzeichen so sorgsam geschützt, daß jedes noch so nachahmungsfreudige Künstlertum an der Klippe des Strafgesetzbuches zerschellte. Man hätte verzweifeln können, wenn nicht wiederum anderes gewesen wäre, das sich in schlichter Hüllenlosigkeit ausstellen ließ und in keinem der Käufer den mindesten Zweifel an seiner Echtheit erweckte.

Da waren die fabelhaften Dragees von Zeller aus Wien, da waren die Marienbader Sahne-Mandel-Orange-Platten, da waren französische Kirschen und römische Pflaumen – man wäre ein Esel gewesen, hätte man sie nicht in eigener Werkstatt erzeugt.

Und das Wort »Werkstatt« führt uns erst zu dem Allerwichtigsten.

Gänzlich umsonst wäre Papa einst als Konditorgehilfe durch die Welt gegangen, hätte in Wien Mohnkipferln und Ananastascherln und in Paris das berühmte Mandelbuttergebäck bereiten gelernt, wenn er diese seine Kenntnisse jetzt hätte verkümmern lassen wollen. Nein, dazu war Papa nicht der Mann. Auch saß ihm die Erinnerung an die Seligkeiten, die er in den Damen des Konfektionsviertels dazumal hatte erstehen lassen, noch zu fest im Gemüt, als daß er nicht der Versuchung unterlegen wäre, auch diese Künste neu zu beleben und den guten Charlottenburgern zu zeigen, wie kläglich sie nach hergebrachter Weise mit Mohrenköpfen, mit Windbeuteln, mit Luccatränen und ähnlichem Kram von ihren Lieferanten bedient wurden.

Und darum gliederte er seinem Konfitürengeschäft auch eine Zuckerbäckerei an, so daß die frühstückeinholenden Dienstmädchen die fremdartigsten Köstlichkeiten für ihre Herrschaften mitbringen konnten.

Dazu freilich war es notwendig, daß er das nächtliche Backverbot in Selbstaufopferung umging – denn Gehilfen vor sechs Uhr früh arbeiten zu lassen, wäre ihm bald unterbunden gewesen – und daß er den Schlaf auf das Mindestmaß kürzte, um seine nach Wiener Gebäck verlangenden Frühstückskunden treu zu bedienen.

Das alles reichte nicht aus, um Papas Geschäft auf einen grünen Zweig kommen zu lasten. Im Gegenteil! Er quälte sich jahraus jahrein, er führte und ersann immer neue köstliche Spezialitäten, aber die Welt war zu träge, um sie zu würdigen, und oft vertrocknete unbeachtet, was in der gesamten Berliner Geschmacksrichtung eine Revolution hätte hervorrufen müssen.

Zu diesem Kummer kam noch ein anderer: daß keine Hilfe und kein Nachwuchs da war. Herbert, den das Schicksal recht eigentlich dazu vorgesehen hatte, kam nicht mehr in Frage. Der war längst zu vornehm geworden.

Herbert – Hartung mit Vatersnamen – verdient ohnehin ein eigenes Kapitel.

Schon nachdem er beim Waffenstillstand als achtzehnjähriger Fliegerleutnant von der Front zurückgekehrt war, dachte er nicht mehr daran, das Gewerbe des Stiefvaters, für das er seit Mamas zweiter Heirat bestimmt war, späterhin weiterzuführen. Das hätte mit seinem neugebackenen Kavaliertum schlecht zusammengestimmt. Auch gab es damals nichts mehr – oder noch nichts –, was er hätte weiterführen können.

Vorerst kämpfte er in den Straßen fleißig gegen die Kommunisten, und wenn gegen Mitternacht die Ablösung kam, dann nahm er sich nicht einmal die Zeit, den Winterschmutz von den Stiefeln wegtrocknen zu lassen, sondern folgte, wie er ging und stand, einer der Einladungen, die, um die tanzwütigen Töchter für das lange Entbehren schadlos zu halten, von wohlhabend gebliebenen Bürgerfamilien her in das Leben der heimkehrenden jungen Offiziere nur so hereinregneten.

Und wenn er dann ausgeschlafen hatte, tanzte er zu Hause, bis der Dienst wieder begann, mit sich selber immer so weiter.

Dabei konnte es vorkommen, daß er, wenn Purzelchen mittags aus der Schule zurückkehrte, die merkwürdigsten Evolutionen mit ihr unternahm. Nicht, daß er sie als seine Partnerin in die Kunst der neuen Tänze eingeführt hätte. Dazu war sie ihm sicher noch viel zu klein.

Aber während er mit gespitzten Lippen die Musik dazu machte, hob er sie auf seinen Armen empor, schwenkte sie in wilden Drehungen durch die Luft, ließ sie auf seiner Schulter thronen, warf sie rücklings herab und fing sie im Fallen so geschickt wieder auf, daß sie unversehens von neuem in seinen Armen lag.

Für Purzelchen waren diese Spiele allzeit ein Fest. Mit Wonne gab sie sich dem Trugbild des Fliegens hin. Angst hatte sie nie, so sehr vertraute sie seiner gliederlösenden Kunst, und nur eine Sorge kam ihr bisweilen: daß die eigene Behendigkeit ihm nicht genügte.

So trieben die beiden es monatelang. Bis der Ernst des Lebens lähmend dazwischentrat.

Denn es ließ sich nicht länger verhehlen: Herberts Lebensschifflein war ins Schlingern geraten.

Freikorps – Bankgeschäft – wieder Freikorps – und schließlich, als die Inflation ihre Segnungen entfaltete, eine rätselvolle Tätigkeit, die manchmal Millionen abwarf und manchmal mit drohendem Zeigefinger geradeswegs nach Moabit hinwies.

So kam's, daß, als der neue Laden aufgemacht wurde, der Gedanke, ihn ins Geschäft eintreten zu lassen, schon längst eine Lächerlichkeit gewesen wäre.

O Gott! Wie himmelhoch stand damals schon Herbert!

Er ließ seine Kleider bei Hoffmann arbeiten. Er trug die eleganteste Tangofrisur, und wenn er seine Hosen hochstreifte, kam der Rand eines Halbschuhs zum Vorschein, der den seidenglänzenden Knöchel so sinnberückend umgab, daß man ihm die Eignung zum fashionabelsten Weltmanntum fraglos zusprechen mußte.

Aber mit den Einkünften haperte es. Selbst die Zugehörigkeit zu einem der bekanntesten Spielklubs, die er ohne viel Umstände zu erwerben vermocht hatte, konnte geregelte Erträgnisse nicht ohne weiteres verbürgen. Ja, es kam vor, daß er sich das Betriebskapital für den kommenden Abend – und wenn es nicht mehr als zwanzig Goldmark betrug – erst von Mama heimlich zustecken lassen mußte, ehe er im Taxi zu neuen Taten von dannen fuhr.

Dann, als die Polizei hereinschnüffelte, ging auch der Spielklub hops. Und ebenso ein zweiter und ein dritter, die sich zur Nachfolge berufen fühlten, so daß der junge Held sich schlechterdings nach einem neuen Wirkungskreis umschauen mußte.

Die Friedensfliegerei lag noch in den Windeln. Zum Tennismeister reichte es nicht. Croupiers wurden nicht mehr verlangt. Für einen jungen Gentleman gab es im arm gewordenen Deutschland kaum eine Gelegenheit mehr, sich seinem Range gemäß zu betätigen.

Da war es wahrhaftig ein Glück, daß er sich zur rechten Stunde besann, mit wieviel Erfolg er im Felde, bevor er zum Fliegen gekommen war, einen Kraftwagen geführt hatte.

Nicht wenige Offiziere gab es, die jetzt als Droschkenchauffeure amtierten. Heimlich zwar, mit hochgezogenem Kragen, doch durchaus nicht der Verachtung anheimgefallen, wenn ein ehemaliger Kamerad sie beim Ein- oder Aussteigen erkannte. Im Gegenteil, jeder wußte, daß ihm eines Tages das gleiche Geschick erblühen konnte, und darum grüßte man mit dem lächelnden Händedruck beinahe auch das eigene künftige Handwerk.

Zudem brauchte es ja keine Droschke zu sein. Wem der Zufall hold war, der gewann eine Privatstelle und wurde als Gentlemanfahrer gewissermaßen die Hauptperson in einem reichbegüterten Haushalt. Vom Chef gefürchtet, von der Dame beäugelt, von den Töchtern umschwärmt – ein verwunschener Prinz gleichsam, zu jeder Liebe oder Liebesheirat erbötig.

Ganz so rosig war der Ausblick, den das Schicksal Herbert vergönnte, nun freilich nicht, denn der schöne, blanke Buickwagen, der eines Tages seiner Lenkung anvertraut wurde, gehörte einem Junggesellen.

Einem Junggesellen von Beruf sozusagen.

Denn daß Doktor Gilbert M. Shadow die elegante Damenkundschaft, die ihn binnen zwei Jahren zu einem der vornehmsten Zahnärzte des Westens gemacht hatte, insbesondere dem Umstande verdankte, daß er seine vielgepriesenen Reize ohne ein rächendes Eheweib hinter sich freiheitsliebend entfalten konnte, unterlag keinem Zweifel.

Aber gewisse Vorzüge waren auch dieser Stellung zu eigen. Vor allem ließ sie die Tagesstunden fast gänzlich frei, denn wenn der Doktor sich morgens in sein Atelier begab, liebte er es, der Gesundheit wegen zu Fuß zu gehen, seine Sprechstunde aber währte bis zum späten Nachmittag, so daß eigentlich nur die Fahrt zum Edenhotel übrigblieb, wo er während der Mittagpause den Lunch zu nehmen pflegte.

Auf diese Weise wurde vormittags die Zeit zum Ausschlafen gewonnen, was unbedingt nötig war, da die Pflichten, die die Nachtstunden gebracht hatten, das Nachholen der vom Körper nun einmal geforderten Ruhe gebieterisch verlangten.

Es war wirklich ein Wunder, wie lange die Kräfte des wahrlich nicht mehr jungen Amerikaners allnächtlich vorhielten. Zumal da er keineswegs »nachholen« konnte, wie der Neunuhrbeginn seiner Sprechstunde kundtat.

Jedenfalls geschah es, daß Herbert nach Wagenwäsche und Achsenölung vor vier Uhr morgens kaum jemals nach Hause kam. Und hierbei traf er nicht selten mit dem Vater zusammen, der um diese Zeit aufstand, um in dem zur Werkstatt hergerichteten Keller das Wiener Morgengebäck in Angriff zu nehmen, wenn er es nicht vorgezogen hatte, den Gesamtinhalt der Nacht den echten Pariser petits fours oder den ebenso echten Marienbader Sahne-Mandel-Orange-Platten zur Verfügung zu stellen.

Gegen zwölf Uhr mittags war Herbert dann wieder auf seinen Beinen. Gebadet, massiert, geölt, manikürt, durch Tanzpas' behende gemacht, zog er, den Hut im Genick, die Handschuhe unzugeknöpft – dies war das Neueste – mit Siegerschritten von hinnen, um sich erst in der Garage des knirschenden Leders zu bedienen, das von nun an seinen geschmeidigen Leib umhüllte.

Was in der Folgezeit bis vier Uhr morgens geschah, wäre den Seinen allzeit ein Geheimnis geblieben, wenn er nicht ab und zu mit seiner grünblinkenden Lazerte vor dem väterlichen Laden gehalten hätte, um sich für seine privaten Bedürfnisse ein Pfund von den besten Pralinees mit auf den Weg geben zu lassen.

Und wenn er in seiner lichtgelben Sturmhaube, mit dem gewichsten Mantel und den einer goldenen Panzerung nicht unähnlichen Kniegamaschen den Laden betrat, sah er womöglich noch patenter aus als bei seinem gentlemanliken Auszug, so daß Mama, die in ihrer üppigen Pracht hinter der Theke thronte, oft mit einem Seufzer des Entzückens hinter ihm herschaute.

Dieses war Herbert! Wer aber war Gudrun?

Etliches wissen wir schon von ihr, doch auch sie blieb von Geheimnissen allezeit umwittert.

So wenigstens erschien es Purzelchen, wenn sie mit neidischem Zugriff die Briefe auffing, die der Briefträger – zumeist mit der zweiten Bestellung, wenn die Eltern längst fort waren – an der Flurtür abgab, oder wenn sie der Tonleitern übenden Schwester eilfertig melden kam: »Ein Herr, der seinen Namen nicht nennen will, wünscht dich am Telephon zu sprechen.«

Und wenn Gudrun dann aufspringend die Tür zum Korridor hinter sich schloß, stand sie oft mit gefalteten Händen da und dachte aufseufzend: ›Die Glückliche!‹

Denn der eine, dessen sie noch immer gedachte, der konnte nicht anläuten. Der wußte ja ihre Nummer nicht. Nichts wußte er von ihr. Der war verschwunden für immer. Und selbst der gehörte eigentlich Gudrun.

Deren Tage spielten sich folgendermaßen ab: Bis zwei Uhr nachmittags blieb sie daheim in dauernder Tätigkeit. Versah mit Lina zusammen die Wirtschaft, rechnete, übte, gab Klavierunterricht und fand immer noch Zeit, Purzelchens stenographische Studien zu überwachen.

Nach dem Mittagessen aber zog sie los, Tasche und Schirm in der Linken, die Notenrolle unter dem Arm.

Dann war bis auf weiteres nichts mehr von ihr zu hören. Und das hatte wohl seine Gründe. Denn beim Stundennehmen und Stundengeben – das eine machte das andere erst möglich – verfloß die Zeit wie im Fluge. Nur daß sie bisweilen anläutete: Wenn ein Herr nach ihr frage, sie sitze bei Schilling oder bei Miericke, und er möge sich hinbemühen.

Um die Abendbrotzeit landete sie wieder zu Hause. Half rasch dem Mädchen noch in der Küche, empfing die nach Ladenschluß heimkehrenden Eltern und redete mit ihnen während des Essens über Hauswesen oder Geschäft, denn sie taten selten etwas, ohne es mit ihr beraten zu haben.

Gegen acht Uhr jedoch wurde sie unruhig, sah nach der Armbanduhr und stand alsbald auf, um abermals zu verschwinden.

Heute war's eine Unterrichtsstunde, morgen die Lessinghochschule, wo eine wichtige Vorlesung ohne sie nicht vonstatten gehen konnte, übermorgen ein Konzert oder Theaterstück, zu dessen Besuch sie die Karte bereits in der Tasche trug. Kurzum: ihr Bildungstrieb war ohne Grenzen, so daß es geschehen konnte, daß sie erst um die Zeit, in der Herbert heimkam, die häuslichen Räume wieder betrat.

Versuchte Mama, die der älteren Tochter gegenüber stets etwas schüchtern war, ihr beim Frühstückstisch Vorhaltungen zu machen, dann gab sie in gleichmütiger Weise zur Antwort, sie sei mit einem Freunde hernach noch ein wenig tanzen gewesen, und ob man dagegen etwas einwenden könne.

Meistens war hiermit die Sache erledigt, aber einmal – kurz nach Purzelchens Geburtstag – hatte Papa, als er gegen vier Uhr früh nach seiner Werkstatt hinunterging, sie singend und zigarettenrauchend auf der Treppe getroffen, und das war ihm an Modernität ein wenig zuviel gewesen.

Beim Frühstück fing er, seiner sonstigen Milde zum Trotz, rechtschaffen zu schelten an. Was das für Sitten seien, und ob eine Tochter aus anständigem Bürgerhause sich so aufführen dürfe.

Mit heiterer Stirn, ein verzeihendes Lächeln um die süß emporgezogenen Lippen saß sie da, und Purzelchen dachte ängstlich: ›Wie wird sie sich aus der Klemme ziehen?‹

Fürs erste antwortete sie gar nicht, sondern lächelte nur immer so weiter, dann aber, als Papa, der wie alle Allzuguten sich an seinem eigenen Zorne berauschte, von »Orderparieren« und »Elternhausverlassen« zu meckern begann, da ließ sie sich endlich herab, die Sache ins klare zu bringen.

»Seht mal, meine Lieben,« sagte sie, zu beiden Eltern gewandt, »wenn diese Chose vor einem Menschenalter passiert wäre, etwa dir, Mammikind, dann wären noch ganz andere Vokabeln in der Luft 'rumgeflogen, dann hätte es geheißen: ›Mißratene Tochter!‹ oder ›Du dirnenhaftes Geschöpf!‹ und so. Aber wie fuchtig du auch sein magst, Papachen, so was riskierst auch du heute nicht mehr. Du würdest dir selber höchst rückständig vorkommen. Opernhaft sozusagen. Doch auch das, was du da eben vorbrachtest, hat nicht viel Sinn.«

»Wie kannst du dir …?« brauste er auf.

Gudrun streichelte beschwichtigend seinen Oberarm.

»Laß man. Immer mit die Ruhe! Immer mit die Ruhe! Sieh mal, wenn ich bei dieser Lebensweise etwas von meinen Kunstmitteln flöten gehen ließe, wenn während der Tanzerei die Hitze im Saale – oder der Alkohol – oder der Tabaksqualm meiner Stimme schädlich wäre, dann hättest du ein Recht, mir die Leviten zu lesen, dann würde ich dir noch dankbar die Hände schütteln, aber – das Gegenteil ist der Fall. So trainier' ich mich nur und werde später die wildesten Strapazen aushalten können … Im übrigen frag nur meinen Kapellmeister, was ich für Fortschritte mache … Doll, sag' ich dir … Manchmal, wenn ich so richtig gebummelt hab', dann möcht' ich am Morgen Bäume ausreißen vor Kraft … dann ist mir zumute wie der Magda von Sudermann, der, wie du immer erzählst, Mammi, in deiner Jugend mal so berühmt war. Und im übrigen: Sorg' ich nicht für euch, daß ihr mittags, wenn ihr aus dem Laden kommt, ein gutes Essen vorfindet? Und stimmt das Wirtschaftsbuch nicht auf Heller und Pfennig? Verdien' ich nicht auch noch Stunden- und Garderobengeld, so daß ich nicht mal was aus der Kasse zu klauen brauch'? Also: was wollt ihr von mir?«

Beide Eltern hoben mit strengen Mienen die Brust, wie um zu einer entscheidenden Gegenrede Ansatz zu nehmen, aber Gudrun ließ sie gar nicht zu Worte kommen.

»Hoho, die Moral!« rief sie, »die angestammte Familienmoral! Ach, Kinder, damit gewinnt ihr nicht den kleensten Blumentopf mehr. Wenn nicht das Kind dabei wäre, dem seine liebe Unschuld noch ein Weilchen bewahrt bleiben muß, dann würd' ich ganz andere Töne mit euch reden. Aber vielleicht werd' ich auch so hinreichend deutlich sein … Seht mal, die Hauptsache ist das Lebensgefühl … Hurra, Kinder, daß man sich nicht verkümmern zu lassen braucht, daß einem nichts Menschliches fremd bleibt, daß man seine Wirkungen ausproben kann – heut an diesem – morgen an jenem – vor allem aber stets an sich selber – das ist ein Glück, dem kein anderes auf Erden gleichkommt. Dagegen ist alle Tugend ein Kaff. Und wenn der künftige Herr Bräutigam einen nicht will, wie man eben geworden ist, dann läßt er's halt bleiben – da streck' ich grad noch die Zunge hinter ihm aus. – Euch aber rat' ich: Strampelt euch meinetwegen nicht unnütz ab. Ich weiß, was ich tue. Von meinen Verehrern wird mich kein einziger dumm machen. Die Sinnigkeit und die Innigkeit sind keine Sache für mich … Kalter Kopf und heiße Hände, heißt es bei mir … Also überlaßt mich ruhig mir selber. Ich geh' meinen Weg, und die Blümlein, die ringsum sprießen, die pflück' ich mir ooch noch ab, ohne am Tempo was zu verlieren … Ach, Kinder, ist das Leben schön! Und nu gebt mir 'nen Kuß! Und dann Schluß!«

Damit küßte sie Papa auf Nasenspitze und Stirn, dann nuckelte sie sich an Mamas linker Backe fest.

Und das Resultat war, daß beide lachten wie sie.


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