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Achtes Kapitel.
Eine Eroberernatur

So standen die Dinge, als eines Tages der Diplomkaufmann Theodor Gerberding in Purzelchens Leben trat.

Als Patient vorerst – geradeso, wie der Bruder es wünschte.

Ein Mann von gediegenem Schliff, wippend und knirschend in seiner Patenz. Doch das war ja kein Wunder. Schlichtere Leute wagten sich überhaupt nicht die Marmortreppe zu Doktor Shadow empor.

Die Goldfüllung eines Backenzahns war ihm herausgefallen, aber da sein Auftreten ein Wiederkommen als lohnend erscheinen ließ, so entdeckte der Doktor noch rasch einige andere Schäden an ihm, die eine ausgiebige Behandlung verlangten.

Schon als Purzelchen ihm die Serviette umlegte, gewahrte sie, daß ein Paar große, sanfte, glashelle Augen, die gar keine Lider zu haben schienen, in kreisrundem Staunen auf ihr ruhten.

Und als sie ihm mit dem Holzhammer nahe kam, wollte er das Gesicht durchaus nicht von der Seite abwenden, von der aus sie ihn bearbeitete, wiewohl die Lage des Zahnes verlangte, daß er es dem Doktor zugekehrt hielt. Dieses war stets ein Zeichen tieferen Interesses, die Hartnäckigkeit aber, mit der er immer wieder zur Aussicht auf ihre Halspartie zurückkam, bewies, daß er heftiger Feuer gefangen hatte, als es sonst wohl der Fall war.

Während er aufstand, sah sie ihn sich erst einmal richtig an.

Nett. Nichts zu sagen. Höchst nett. Das Haar in blanken Strähnen aus dem vollen, bartlosen Gesichte zurückgestrichen. Eine Knubbelnase, die durch ihre Gutmütigkeit Vertrauen erweckte. Ein Mund, der wohltuend lächelte, wenn er auch vom Küssen nicht viel zu verstehen schien. Eine zurückfliehende Stirn, deren wagerechtes Gefältel von Gewissenhaftigkeit sprach.

Abschiednehmend machte er einen tiefen Bückling nach ihr hin, und als der Doktor ihr zuraunte: » Money«, da ging sie ihm nach und kassierte draußen das Honorar ein, wie es bei unsicheren Fällen immer geschah.

Unsicher aber war dieser Fall darum, weil der neue Patient als seine Adresse »Hotel Adlon« genannt hatte, ein Ort, bei dessen Verlassen man in der Eile der Abreise kleine Verbindlichkeiten unschwer vergessen konnte.

Und während Purzelchen die auf einen Hundertmarkschein zurückzugebende Summe zusammensuchte – groß war sie nicht –, da fühlte sie seine Augen in ihrer Kreisrundheit aufs neue voll hingebenden Staunens auf sich gerichtet.

›Nun kommt die landesübliche Frage,‹ dachte sie, aber nein doch, ob es aus Rücksicht oder aus einem anderen Grunde geschah, er sah sich statt dessen nach Johnny um, der, den Drücker in der Hand, des Trinkgeldes harrend, schon dastand, verbeugte sich noch einmal vor ihr wie vor einer regierenden Fürstin und verschwand. –

Man kann nicht behaupten, daß Purzelchen dieses Vorfalls mit größerer Aufmerksamkeit gedachte als jedes anderen der gleichen Art, aber als zwei Tage darauf Johnny mit der Meldung kam, Herr Gerberding habe absagen lassen, da fühlte sie doch eine kleine Enttäuschung, als sei ihr persönlich ein Unrecht geschehen.

Wer aber beschreibt ihr Erstaunen, als sie an demselben Nachmittag beim Betreten der Straße in dem Herrn, der auf dem Bürgersteig lustwandelnd auf und ab ging und bei ihrem Anblick mit tief gezogenem Hute auf sie zukam, denselben Herrn Gerberding erkannte, von dem sie sich sozusagen verschmäht fühlte?

»Sie wollen gütigst verzeihen, mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »daß ich mir erlaubt habe, hier unten auf Sie zu warten. Wiederzukommen hatte keinen Zweck, da ich mit meinen sonstigen Zähnen zufrieden war und doch nicht mit Ihnen sprechen konnte. Selbst wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, diese oder jene Frage an Sie zu richten – Sie von meinen redlichen Absichten zu überzeugen, wäre ich doch nicht imstande gewesen. Ich hätte mir nur eine Zurückweisung geholt, und das wäre mir doch sehr schmerzlich gewesen.«

»Ja, was wünschen Sie denn von mir?« fragte Purzelchen, ganz aus der Fassung gebracht. Sie auf der Straße anzuquasseln, dazu hatten selbst die courmacherigsten Patienten niemals die Stirne gehabt.

»Erst müßten Sie mir erlauben, Sie ein klein Stückchen zu begleiten,« erwiderte Herr Gerberding. »Solange ich mich hier gewissermaßen zwischen Tür und Angel befinde, würde wohl die nötige – die nötige – Suggestionskraft mir fehlen.«

Immer noch stand er dienernd und barhäuptig vor ihr, und die Vorübergehenden begannen, sich nach dem Paare umzuschauen.

Und weil Purzelchen dies bemerkte – übrigens konnte auch Herbert jeden Augenblick vorfahren –, besann sie sich nicht lange und sagte: »Bitte schön.«

Nun gingen sie nebeneinander her. Herr Gerberding machte mit den Füßen einen kleinen Triller, um in gleichen Schritt zu kommen, und dann begann er: »Ich muß vorausschicken, daß ich nur vorübergehend in Deutschland bin. Ich war gleich nach dem Kriege nach Argentinien gegangen, weil man mir gesagt hatte, daß die meisten alten Verbindungen zerstört seien und daß für unternehmungslustige junge Kräfte sich dort ein günstiges Betätigungsfeld vorfände. Das reizte mich, denn Sie müssen wissen, mein Fräulein, daß ich eine – Eroberernatur bin.«

Der Sprechende machte eine kleine Pause, wie um die Wirkung dieses Bekenntnisses Wurzel schlagen zu lassen, und Purzelchen dachte respektvoll: ›Ja, wenn er eine Eroberernatur ist.‹

Herr Gerberding fuhr fort: »Ich darf sagen, daß ich mich in meinen Erwartungen auch nicht getäuscht habe. Der Anfang war natürlich schwer. Aber ich hatte ein kleines Betriebskapital mitgebracht. Und deutsche Tüchtigkeit – Sie verstehen … Es gab eine Anzahl deutscher Häuser, die ihre Vertretungen eingebüßt hatten. Und so … Wenn man fleißig Briefe schreibt und sich im Ablehnungsfalle nicht abschrecken läßt, immer wieder Briefe zu schreiben, dann hat man bald diese Firma an Hand – und bald jene Firma – und kann ein Büro aufmachen – und das Büro wird immer größer. Und allmählich kommt man zu dem freudigen Ergebnis, daß man ein Pionier für deutsche Kultur geworden ist. Jawohl.«

Purzelchen dachte: ›Warum erzählt er mir nur das alles?‹

Und Herr Gerberding fuhr fort: »Solange man zu arbeiten hat, ist alles gut. Dann kommen aber die einsamen Abende. In dem deutschen Klub ist auch nicht viel los, denn die meisten Herren sind verheiratet, und aus dem Pokern und Trinken mach' ich mir auch nicht sehr viel. Und da hab' ich zu mir schließlich gesagt: Das Geschäft geht gut, hab' ich mir gesagt. Besonders die Phonolas und die Waschmaschinen zum Beispiel liefern nämlich wirklich ganz fabelhafte Erfolge – auf deine Prokuristen kannst du dich verlassen. Wie wär's, wenn du mal nach Deutschland zurückgingst, dich an Ort und Stelle nach ein paar neuen Vertretungen umstehst und bei der Gelegenheit – – wie meinten Sie, mein gnädiges Fräulein?«

»Ich meinte gar nichts,« erwiderte Purzelchen.

»Sagte ich Ihnen schon, daß ich eigentlich eine Eroberernatur bin?« fragte bescheiden Herr Gerberding.

»Ich glaube, ja,« erwiderte Purzelchen.

»Nun aber ist das mit den jungen Damen so eine eigene Sache. Wenn es einem an den entsprechenden Bekanntschaften fehlt, verliert man sozusagen die Fühlung mit ihnen. Kurz und gut: ich hatte mir das leichter vorgestellt. Und wenn ich so abends in meinem Hotelzimmer sitze – sagte ich Ihnen schon, daß ich im ›Hotel Adlon‹ wohne?«

»Sie hatten es ja als Ihre Adresse angegeben,« erwiderte Purzelchen.

»Jawohl. Und es stimmt auch. Denn es macht immer einen guten Eindruck, wenn man bei Anknüpfung neuer geschäftlicher Beziehungen ein solches erstrangiges Hotel als Absteigequartier angeben kann. Das hilft manchmal mehr als die besten Referenzen. Ja, wovon sprachen wir doch? Richtig, wenn man sich abends die Wände besieht – und die Korrespondenz ist erledigt – und der Lesesaal ist leer –, nicht wahr? – – Da kann man auch keine Damenbekanntschaften machen. Und man möchte doch so gern einmal auch ein zarteres Gespräch führen – sozusagen. Schon wegen dem Kennenlernen. Und mit dem Spazierenfahren ist das auch nichts, weil man allein ist und doch der eigene Wagen fehlt … Habe ich Ihnen schon gesagt, mein gnädiges Fräulein, daß ich drüben zwei Autos besitze?«

»N–nein,« stammelte Purzelchen, von Hochachtung ganz überwältigt.

»Und wie mir nun die Plombe 'rausfiel,« fuhr Herr Gerberding fort, »da erkundigte ich mich beim Portier nach einem erstrangigen Zahnarzt. Auf die Höhe des Honorars kam es mir ja nicht an. Obwohl er trotzdem recht überraschende Preise nimmt … Und das ist – im Vertrauen gesagt, auch ein Grund, weswegen ich nicht wiedergekommen bin … Und da wollte ich mir – nun die Frage erlauben, mein gnädiges Fräulein, ob es mir vergönnt sein würde, mich Ihrer werten Familie vorzustellen. Ich glaube, ich brauche jetzt nicht mehr zu betonen, daß ich durchaus reelle Absichten habe.«

Purzelchen hatte bei den letzten Worten ihres neuen Bekannten sehr heiße Backen bekommen.

Der Herr, der da neben ihr herschritt in seiner wippenden und knirschenden Patenz, der war ein richtiggehender Freier. Ein Freier, der von seinen ehrlichen Absichten sprach und doch kein Miesnik war mit schmuddliger Wäsche und knalligem Schlips und graugelben Wollstrümpfen!

Ihr, dem armen, halbflüggen Purzelchen, war plötzlich ein Freier vom Himmel gefallen. Und was für einer! Ein gar nicht sehr alter Mann – höchstens um die Mitte der Dreißig –, ein Mann, der im »Adlon« wohnte, ein Mann, der im Märchenlande zu Hause war, ein Mann, der zwei Autos hatte und Prokuristen für sich arbeiten ließ, ein Mann, der mit Phonolas und Waschmaschinen – und wer weiß womit noch – schon fabelhafte Erfolge errungen hatte, kurzum ein Mann, der Herberts »großer Partie« so ähnlich sah wie ein Ei dem andern.

Gar nicht auszudenken dieses unmenschliche Glück!

Das alles fuhr Purzelchen durch den Kopf, während Herr Gerberding mit kleinen, bescheiden sich anpassenden Schritten wippend und knirschend neben ihr herging.

Und nach längerem Schweigen nahm er aufs neue das Wort: »Ich kann mir ja vorstellen, mein gnädiges Fräulein, daß dieser Überfall auf offener Straße Sie etwas bedenklich macht und daß Sie entsprechend zögern, meinen Wunsch zu erfüllen. Aber wenn es Ihnen peinlich sein sollte, dies Ihren Herren Eltern zu offenbaren, so könnte ich ja einen offiziellen Brief an Sie richten, worin ich mein Anliegen schriftlich bestätige. Diesen Brief könnten Sie dann gefälligst Ihren Herren Eltern vorlegen und sie nach dem Eindruck, den er macht, die Art meiner Annäherung bestimmen lassen. Wollten sie mir ihr Haus nicht gleich öffnen, so könnten wir uns ja gleichsam zufällig in einem Gasthause treffen. Ich würde mir dann erlauben, an Ihrem Tische stehen zu bleiben, um Sie zu begrüßen, Sie würden mich den verehrten Ihrigen vorstellen, die würden mir vielleicht die Ehre erweisen, mich zum Sitzen einzuladen, und damit wäre alles bestens effektuiert. Welches ist Ihre Ansicht, mein gnädiges Fräulein?«

Ein dumpfes Gefühl sagte Purzelchen, daß es passend wäre, sich ein wenig rar zu machen, und darum verriet sie von ihrem großen Jubel nichts, sondern erwiderte nur: »Das kommt alles so überraschend, Herr – Gerberding. Ich weiß nicht, was meine Eltern dazu sagen würden. Und ich selbst – ich – ich –«

Aber nun wußte sie wirklich nicht weiter.

Herr Gerberding wartete rücksichtsvoll eine Weile hindurch, und da sie nicht fortfuhr, nahm er von neuem das Wort: »Ich bitte bemerken zu dürfen, daß ich natürlich noch keine Erklärung von Ihnen verlangen kann. Auch meinerseits wäre es voreilig, mein Anliegen als eine bindende Offerte zu behandeln. Man muß sich kennenlernen und auch verstehen lernen – nicht wahr? … Und so möchte ich gehorsamst um Namen und Adresse gebeten haben, mein gnädiges Fräulein, denn sonst würde ich ja den Brief, falls dieses Verfahren gefälligst akzeptiert würde, nicht schreiben können.«

»Ich heiße – Annemarie – Lüdicke,« sagte Purzelchen, den Zungenschlag unterdrückend, der sie allemal überfiel, wenn sie ihren wirklichen, ihren Standesamtsnamen in die Welt hinausrufen mußte, und nach etlichem Zögern gab sie auch Straße und Hausnummer preis. Ihr war, als ob sie ein sorgsam zu hütendes Geheimnis leichtsinnig offenbarte.

Herr Gerberding lüftete förmlich den Hut.

»Und ich heiße Theodor Gerberding,« erwiderte er, den Vornamen so weit herausholend, daß diese Kundmachung für eine vertrautere Zukunft bedeutsam erschien.

Und dann schwiegen sie beide, von dem Schwergewicht des Geschehenen und noch zu Geschehenden niedergezwungen.

Endlich raffte er sich zu der Frage auf, ob der vorgeschriebene Weg ihr gangbar erschiene.

Purzelchen wußte genau, daß sie den Ihrigen gegenüber keine Viertelstunde lang dicht halten würde, aber da sie einsah, daß das briefliche Verfahren an Würde und Wichtigkeit reich war, so stimmte sie zu.

»Und da auf diese Weise, mein gnädiges Fräulein,« sagte er stehen bleibend, »das Notwendige zwischen uns geregelt ist, will ich nicht einen Augenblick länger das Recht in Anspruch nehmen, Sie zu belästigen. Jede Inkorrektheit soll fortan aufs strengste von mir vermieden werden. Das glaube ich meiner – hoffentlich – künftigen Braut schuldig zu sein.«

Er lüftete abermals und noch förmlicher seinen Hut, dann, ohne ihr seine Hand zu bieten, kehrte er um und verschwand.

›O Gott, o Gott,‹ dachte Purzelchen, sich über die heißen Backen streichend, ›wie halt' ich das Stillschweigen aus?‹

Denn bis zum Ladenschluß dauerte es immerhin noch zwei Stunden.

Vor Aufregung halbverrückt rannte sie in den Straßen umher, ließ die kniefreisten Damen achtlos vorüberziehen, hörte gar nicht hin, wenn man sie ansprach, und landete schließlich halb lachend, halb weinend an Mamas fürsorglich bettendem Busen.

»Was sollt' ich auch anderes machen?« schloß sie ihre Erzählung. »Er ist ja eine Eroberernatur. Gewiß, das ist er. Er hat es selber gesagt.«


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