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Viertes Kapitel.
Purzelchen lernt die neuen Tänze

Und noch eine Belohnung wartete ihrer, nämlich die Tanzstunden, die ihr seit ihrem Geburtstage versprochen waren. Gleich nach dem Feste sollte der Kursus, zu dem sie sich angemeldet hatte, seinen ersehnten Anfang nehmen, und als Willi, Kurt und Hans Joachim, die am Neujahrstage erschienen waren, ihre Glückwünsche darzubringen, von ihrer Absicht erfuhren, erklärten sie auf der Stelle, daß sie sich nichts Besseres denken könnten, als es ihr gleichzutun.

Anfangs war dies Purzelchen durchaus nicht angenehm, denn sie hatte unter den Eifersüchteleien der dreie schon immer zu leiden gehabt, je näher aber der Tag herankam, an dem die erste Stunde angesetzt war, desto mehr freute sie sich, nicht ohne ritterlichen Schutz auf das wilde Meer des Weltlebens hinausgestoßen zu sein.

Und so geschah es in der Tat, daß sie von einer dreiköpfigen Ehrengarde geleitet auf der Walstatt erschien.

Keine junge Königin konnte herrlicher eingeführt werden, denn mochte Gudrun die einstigen Gespielen tausendmal dumme Jungens genannt haben, unter den Schnösels und den Dreikäsehochs, die, stolz auf die zur Brusttasche heraushängenden blauen oder roten Seidenzipfel, an den Wänden entlang standen, waren sie bei weitem die Reifsten und Vornehmsten.

Besonders Willi machte eine gute Figur. Die Herren des Bankgeschäfts, in dem er seit dem Oktober tätig war, hatten bereits segensreich auf ihn eingewirkt. Er trug ein schwarzes Bortenjackett und als Krawattennadel eine Perle, die klein genug war, um für echt genommen zu werden. Nur daß er seinen lichtblonden Haarbusch noch nicht geopfert hatte, gab Anlaß, ihn zu den Pennälern zu rechnen.

Kurt, der noch wirklich die Schulbank drückte, sah eigentlich viel erwachsener aus, wären nur die Mopsnase und der kurzsichtige Zwinkerblick nicht gewesen, die seiner Erscheinung etwas Blödes und Muffliges gaben. Niemand konnte ahnen, daß er eigentlich ein Dichter war und dementsprechend mit Versen um sich streute. In ihnen hatte er Purzelchen »seine Liane« genannt und war auch sonst mit Pflanzennamen ziemlich verschwenderisch gewesen.

»Reseden und Levkoien!
Ich liebe dich in Treuen!
Geranien und Narzissen!
Könnt' ich dich einmal küssen!«

Und so ging es weiter, fast die ganze Botanik durch.

Hans Joachim hingegen war mehr aufs Praktische gerichtet. Er hatte die Elektrotechnik zum Lebensberufe gewählt und versprach ein bedeutender Erfinder zu werden. Bisher hatte er freilich noch nichts erfunden, es sei denn, daß man den senkrechten Flugmaschinenaufstieg, dessen Modell ihm Ganswindt vorempfunden hatte und der den Inhalt seiner Träume mehr denn seiner Berechnungen bildete, bereits als vollendete Tatsache gelten ließ. Er war ein Freiluft- und Muskelmensch und trug demgemäß Kniestrümpfe und Schillerkragen auch als Abenddreß. Da er der Sohn eines ehemaligen Hofkammersekretärs war, fühlte er sich zu einem besonderen Patriotismus verpflichtet, und seine herausfordernd getragene schwarzweißrote Krawatte hatte ihn schon in manche Anrempelung verwickelt, aus der er zumeist als Sieger hervorgegangen war.

Mit dieser Geleitmannschaft also betrat Purzelchen den Tanzstundensaal, in dem eine liebreich-strenge Dame, die schon mehrmals die Mittagslinie des Lebens passiert hatte und immer wieder reuevoll zu den letzten Zwanzigern heimgekehrt war, über die Lernbegierigen herrschte.

Um es gleich von vornherein zu sagen, was gesagt werden muß: Purzelchen entpuppte sich als die Wenigstbegabte.

Sie, die bisher jeden Tanz aus der Tiefe ihres Gemüts heraus kunstlos bezwungen hatte, fühlte sich ganz außerstande, irgend eine Figur zu begreifen.

Beim Foxtrot machte sie nach den vier Gehschritten die Drehung nach links statt nach rechts, und wurde der Seitwärtsschritt mit dem zünftigen Tippen von ihr gefordert, so tippte sie unfehlbar zweimal, was ein Verbrechen gegen die Regel war.

Im Tango kam sie mit dem ersten Abschluß nie recht zustande und wandte beim Wiegeschritt einen unvorschriftsmäßigen Dreitakt an.

Manchmal war's wirklich zum Verzweifeln mit ihr, und wenn sie von der Tanzmeisterin gerüffelt wurde, bewies ihr das schadenfrohe Lächeln ihrer Gefährtinnen, daß sie in diesem reinlichen Kunstbetriebe so etwas wie ein Schandfleck war.

Als umso größere Merkwürdigkeit ergab sich freilich, daß, wenn der Rundtanz ohne Kontrolle vonstatten ging, alles so gut klappte, daß niemals etwas gerügt werden konnte. Ja, statt daß der Herr sie führte, führte sie ihren Herrn, der ohne weiteres nachgab, wenn sie diese oder jene Figur in veränderter Form zum besten zu geben wünschte.

So daß die Tanzmeisterin schließlich in hoffnungslosem Verzichten mit beiden Armen abwinkte und laut in den Saal hineinrief: »Machen Sie, was Sie wollen, Kleine! An Ihnen ist ja Hopfen und Malz verloren.«

Aber da geschah etwas noch Merkwürdigeres.

Plötzlich erhob sich eine helle Krähstimme, die den Stimmwechsel noch nicht ganz überwunden hatte, und schrie als Erwiderung: »Was wollen Sie immer? Fräulein Lüdicke ist die beste Tänzerin hier.«

Die Stimme gehörte nicht etwa Willi, auch nicht Kurt und nicht Hans Joachim – keiner der dreie hatte den Mut aufgebracht, Purzelchens Ritter zu werden –, sondern einem kurzen, stämmigen Stöpsel, kaum größer als sie – mit gelben Schuhen und lichtblauem Seidenlappen. Der richtige kleine Knote, wie er in den Gewürzläden von den Gehilfen angeschnauzt wird, wenn er die Kunden nicht eilends bedient.

»Was erlauben Sie sich, junger Mann?« schrie die Tanzmeisterin zurück. »Das ist eine Auflehnung! Das ist eine Frechheit! Verlassen Sie auf der Stelle den Saal!«

Statt dem Befehl zu gehorchen, stemmte der kleine Kerl die Beine auseinander, schob die Hände in die Hosentaschen und sagte: »Fällt mir gar nicht ein. Ich hab' meinen Kursus bezahlt und wünsch' ihn bis zu Ende zu nehmen.«

»Das werden wir sehen,« schrie die Tanzmeisterin immer erregter. »Ich werde sofort meinen Chef rufen. Der wird Sie auf den Armen 'raustragen, Sie Wickelkind, Sie!«

»Sie alte Ziege, Sie!« schrie der Stöpsel zurück, die ihm angetane Beleidigung quittierend.

Da aber ging die Hetze erst los.

Purzelchens drei Freunde stellten sich schützend auf seine Seite, wie sich's zum Danke für seine Ritterlichkeit nicht anders gehörte. Mehrere der fremden jungen Herren wiederum, die von ihren neidischen Freundinnen aufgehetzt wurden, ergriffen für die Tanzmeisterin Partei.

Im Nu hatten sich zwei Heerlager gebildet, deren Insassen mit erhobenen Fäusten in den Saal wetterten und bereit schienen, gegeneinander loszugehen.

Purzelchen hatte schon längst zu weinen begonnen. Sie zupfte bald den einen, bald den anderen ihrer Freunde hinten am Rocksaum und bat und flehte, sie möchten ruhig sein und sie nach Hause bringen, sie würde es doch nicht mehr aushalten hier.

Aber die dreie fanden, daß ihre Ehre in Mitleidenschaft gezogen sei und daß es eine Feigheit gewesen wäre, den Platz zu verlassen.

So tobte der Streit eine Weile hin und her. Die Tanzmeisterin, die gleichfalls in Tränen schwamm, war zum Saale hinausgerannt und kam bald darauf mit einem älteren, freundlich dreinschauenden Herrn zurück, der beim Anblick dieses Krawalls die Arme gleichsam zum Segnen erhob und mit einer weichen, etwas gekränkten Stimme sagte: »Ja, was ist denn schon wieder? Was ist denn schon wieder?«

Als ob derartige Vorkommnisse in seinem Reiche eine liebe Gewohnheit gewesen wären.

Auf der Stelle war Stillschweigen da; so stark wirkte die Autorität des obersten Herrn und Meisters, den bisher von Angesicht niemand geschaut hatte, auf die Kämpfenden ein.

»Aber Kinderchen! Aber Kinderchen!« fuhr er fort. »Das gehört doch gar nicht zum Tanzen. Heute gerade solltet ihr doch mit dem Charleston anfangen. Der ist gar nicht so leicht. Und bis Fräulein Reichardt sich beruhigt hat, werde ich selber den Unterricht leiten. Beim Charleston nämlich macht der Herr zuerst mit dem linken, die Dame mit dem rechten Knie zwei kleine Knickse. So! Und dann sofort mit dem anderen Bein. So! Bitte, mein Fräulein.« Damit wandte er sich an Purzelchen, die als nächste neben ihm stand.

»Nein, nein,« sagte sie sehr bestimmt. »Ich geh' nach Hause.«

Damit drehte sie sich auf ihren Hacken kurz um, und trotz der beschwörenden Rufe des Meisters zögerten ihre drei Freunde nicht, ihr Gefolgschaft zu leisten.

Der kleine tapfere Ritter aber blieb im Saale.

Er hatte den Kursus bezahlt und wünschte ihn bis zu Ende zu nehmen.

Dadurch freilich hatte er sich Purzelchen wieder verleidet. Sie fand, daß dies gar nicht ritterlich war, und als sie ihn später in einem Drogengeschäft hinter dem Ladentisch sah, ging sie rasch wieder hinaus.

Jawohl, so undankbar konnte Purzelchen sein.

Doch vielleicht war es auch nur die schmerzliche Erinnerung an den vorzeitigen Abbruch jener Unterrichtsstunden, die ihr dies Wiedersehen verleidete.

Ein heißer Kummer fiel sie an, wenn sie zusehen mußte, wie jung und alt in der Kunst der neuen Tänze ein Lebensziel suchte, wichtiger noch vielleicht als die Liebe selber, in deren Diensten sie stand. Wie eine aus dem Paradies Verstoßene erschien sie sich oft, und nur eine Hoffnung tröstete sie, daß sich ihr dessen Pforte noch einmal öffnen würde, denn im tiefsten Innern fühlte sie, daß ihr ein bitteres Unrecht geschah.


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