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In der großen Villa am Tiergarten lachte am andern Tag, mit den strahlenden, großen, blauen Augen eines großen Jungen, Werner Wiebeking in das Telephon.
»Guten Morgen, süße kleine Frau! Wie geht's dir? Mir? Danke! ... Wunderbar, seit du wieder in Berlin bist! ... Ach so – mit meinem Brummschädel? Der Doktor hat mir für heute nur ein ganz bißchen Bewegung vor dem Haus erlaubt, um mich an die frische Luft zu gewöhnen! Aber ich kümmere mich den Kuckuck um seine Verbote! ... Ilselott – was machst du den Vormittag?«
»Ich sitze daheim!« klang die weiche, ferne Stimme durch den Draht.
»Allein?«
»Natürlich allein! Ich bin immer allein! Mein Mann ist vorhin schon in die Stadt gefahren ... käseweiß vor Aufregung ...«
»... daß du plötzlich zurück bist?«
»Ach – was liegt ihm denn an mir? Heute ist doch die große Kunstauktion!«
»Hat er denn noch nicht genug alten Kram?«
»Gegen Mittag kommt das Hauptstück – der Andrea del Sarto – zur Versteigerung! Es sind eigens Amerikaner herübergekommen, um den zu kaufen! Gott gebe, das Gebhard ihn trotzdem kriegt, sonst ist mir um ihn angst und bange – Mir ist überhaupt um ihn bange in letzter Zeit!«
»Höre – kleine Strohwitwe: Mittags steht ein armer wandernder Verliebter vor deinem Haus! Darf er 'rein?«
»Ja.« Leise das kurze Wort aus der Weite.
Der Dr.-Ing. Wiebeking drehte sich stürmisch um. Er lief in die Halle. Er machte sich zum Ausgehen fertig. Er sah an dem Haustor den Schatten eines straffen, energischen Herrn mit Schlapphut und Lodenmantel, in eindringlichem Wortwechsel mit dem Diener.
»Herr Geheimrat wirklich nicht zu sprechen?«
»Herr Geheimrat ist für den ganzen Tag über Land gefahren, Herr Kommissar!«
»Auch nicht telephonisch zu erreichen?«
»Herr Geheimrat wollte mit dem Wagen eine ganze Anzahl Betriebe in der Provinz Sachsen besichtigen! Es ist ganz unbestimmt, wo er gerade ist!«
»Gegen Abend sicher!«
»Na – da ist schlimmstenfalls auch noch Zeit! Also hören Sie mal, Verehrtester! Sowie der Herr Geheimrat aus dem Wagen steigt, bestellen Sie ihm, der Kommissar Dürisch sei dagewesen und spräche abends wieder vor und bäte dann, unter allen Umständen auf der Stelle empfangen zu werden! Es sei ganz außerordentlich dringend – verstehen Sie – ganz fabelhaft wichtig – Es dürfe keine Minute verloren werden!«
»Haben Sie am Ende jetzt den Ale?« frug Werner Wiebeking.
»Vorläufig noch nicht!« Der Kommissar drückte abseits von dem Diener Leopold dem Sohn des Hauses aufgeregter die Hand, als sich sonst ausdruckslose Ruhe auf seinem schnurrbärtigen Gesicht spiegelte.
»Sonntag vor acht Tagen – ich erinnere mich doch – da sagten Sie mir, Sie seien dem Ale auf der Spur!«
»Leider eine Fehlspur ... damals ... Herr Doktor!«
»Mit dem Amerikaner – dem Mr. Arthur T. Harris?«
»Vom Welthaus Harris und Kompanie in Chicago! Stimmt nämlich! Er ist da der Erbprinz! Wissen Sie, wie der Gentleman das Kunststück fertiggebracht hat, zu gleicher Zeit in Berlin und Paris zu sein?«
»Na?«
»Beispiel: Freitag vor acht Tagen nachmittags wurde der junge Herr noch in einer Diele am Kurfürstendamm gesehen. Am Abend darauf nahm er an einem Gartenfest im Grunewald teil – in der Villa Hüsgen –« Ein rascher Seitenblick. »Ich glaube, Sie verkehren auch dort zuweilen, Herr Doktor!«
»Sie merken aber auch alles!« sagte der junge Mann.
»Zugleich luncht aber derselbe Mr. Harris dazwischen am Sonnabendnachmittag mit prominenten Amerikanern bei Ritz in Paris. Dazu hat er mit einem schnellen Sonderflugzeug irgendwo aus der Nähe von Berlin bis Paris vielleicht noch nicht sieben Stunden gebraucht und war Freitag spätabends dort. Und ebenso, nach einem Nachmittagsflug, am nächsten Abend wieder in Berlin. Das trieb der junge Herr allwöchentlich ein paarmal ...«
»Und warum?«
»Gott – natürlich ein Frauenzimmer! Eine gewisse Rosemonde de Claramont, seine Pariser Freundin, tanzte, mit mehreren Perlenketten bekleidet, allabendlich den Berlinern etwas vor. Das unerfahrene Kind durfte er nicht allein in der Fremde lassen. Er flog wie ein verliebter Käfer hinterher. Jetzt ist sie nach Paris zurückgedampft und er prompt mit! Seine Freunde gaben beiden das Geleit zur Friedrichstraße. An der Spitze Herr Oswald Aster!«
»Der verhinderte Filmstar ...«
»Der Jüngling ist nicht mehr verhindert! Der Vater sperrt ihm nicht länger die Bezüge! Es hat sich herausgestellt, daß die Mutter – die stammt doch aus dem großen Züricher Konzern – Gütertrennung –, daß die das Söhnchen heimlich die ganze Zeit aus eigenen Mitteln verschwenderisch unterstützt hat und auch für die Zukunft hartnäckig wie ein Maulesel dabeibleibt. Nun also der Alte: ›In Gottes Namen – mag er filmen!‹ Nee – mit der ganzen Fährte war's Essig! Da ist jetzt was anderes! Also heute abend ... heute abend ... vergessen Sie's ja nicht, dem Herrn Geheimrat zu melden! Adieu!«
Der Kommissar Dürisch eilte davon. Werner Wiebeking trat langsam nach ihm vor die Villa. Er atmete im Garten, mit der Andacht des Genesenen, die klare, dünne Berliner Herbstluft ein. Er schritt durch das Gittertor. Er blieb unmutig stehen. Da kam etwas, von den Bäumen drüben, quer über den Fahrdamm, lang, schmal, hastig, mit phantastisch glücklichen braunen Augen und atemlos halb offenen Lippen auf ihn zu.
»Ich steh' hier schon die längste Zeit Posten, Herr Werner! Der Portier, der klimpert ja mit den Wimpern und schneidet Gesichter, wenn er mich nur sieht!«
»Hilde – was soll denn das schon wieder? Nun werde ich wirklich mal ernstlich böse!«
»Werden Sie nicht, Herr Werner!« Ein eifersüchtiges Lachen der Hilde Lüders, halb erbittert, halb triumphierend. »Also das Fräulein, das Ihnen so am Herzen liegt ...«
»Ja?«
»Das haben mir gestern abend glücklich freigekriegt! Fein – nicht? Ja – lassen Sie mich nur erzählen!«
»Ein Spreeschiffer?« sagte der Dr.-Ing. Wiebeking, als die Hilde Lüders geendet. »Paule nannten sie ihn? Ein junger Mann mit einem Schnurrbart und einem biederen, braunen Gesicht? Den kenn' ich! Das ist der Fränze ihr Freund! Ich hab' mich zwar neulich mit ihm feste geboxt. Aber das ist ein anständiger Mensch!«
»Die andern auch! Die wollten gar nicht jeder 'nen Taler von mir annehmen! Nee – für ihren Freund Paule machten sie gern so 'ne Kiste auf!«
»Und wo ist die Fränze jetzt?«
»Sie wollten sie erst mal zu 'nem Schiffer und seiner Frau auf 'nen Kahn hinter der Jannowitzbrücke bringen! Was dann wird, wußten sie selber noch nicht! Das ging ja alles so schnell – wie im Film!«
»Und auf dem Kahn entdeckt ihr Volk die Fränze heute noch, und es gibt einen neuen blutigen Rummel um den Balg!« Der junge Mann schüttelte unmutig den Kopf. »Das Mädel muß vor allem weg aus Berlin! Nach Ostpreußen, wie das ja schon alles vorbereitet war! Kommen Sie mal mit nach dem Droschkenstand, Hilde!«
»Halten Sie erst mal vor irgendeinem Zigarrenladen«, beorderte er dort den Kutscher, »und sehen Sie drinnen im Telephonbuch nach, wo Herr Doktor Schraubt wohnt! Verstehen Sie: Schraubt! Dann fahren Sie dorthin!«
»Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu danken, Hilde!« sagte er, als der Wagen sich vor dem Eckladen wieder in Bewegung setzte. »Das war was für Sie – was? Sie sehen jetzt noch ganz abenteuerlich aus!«
»Ach – es war so romantisch! So gefährlich war's!«
»Wirklich gefährlich?«
»Ja. Vorher – da kam ein Kerl aus dem Haus – vor dem könnt' man sich fürchten! Und wissen Sie, wer's war? Der Mensch, der Sie und mich damals bei Feuerstake gerettet hat, wie die Brüder schon ihre Messer aufgeklappt hatten ... Erinnern Sie sich nicht, Herr Werner?«
»Der Dicke!«
»Ja – so haben sie ihn genannt! ... Aber mir hat doch vor ihm gegraut!«
»Warum lachen Sie denn dabei?«
»Gott – weil die Leute doch so ausverschämt lügen!« Das Obstfräulein schüttelte aufgeregt den blassen, schmalen, nervösen Kopf. »Da ging noch einer neben dem Dicken – na – so mittelgroß und glattrasiert und auch ungefähr so alt wie Sie – und was glauben Sie, Herr Werner, was die meckerten: das wär' der Ale!«
»Was?« Der junge Mann fuhr auf.
»Na ja – der Ale! Ist das nicht zum Wälzen, Herr Werner?«
»Wer hat das gesagt?«
»Die Kleine selber – die Häselich ...«
»Die muß es doch weiß Gott wissen! Das ist ja – Herrgott ... und das erzählen Sie mir jetzt erst so beiläufig ...«
»... was so eine zusammenlügt ...« Ein stiller, verständnisvoller Augenaufschlag.
»Warum soll sie denn lügen?«
»Aber Herr Werner – ich weiß doch, daß der Ale wo anders ist!« Das Obstfräulein hatte die Hände im Schoß zusammengelegt und lächelte geheimnisvoll vor sich nieder.
»Herrgott ... Kind ...«
»Herr Werner ...« Es klang träumerisch glücklich. »So fein, wie Sie da neben mir sitzen, geht doch kein Chauffeur. Und im Haus wollen sie nichts von 'nem Werner wissen. Sie haben sich da unter einem andern Vorwand eingeschlichen ...«
»Hilde – es ist jetzt nicht die Zeit, Ihnen das zu erklären ...«
»Um Sie ist da ein Geheimnis! Das ist ja eben das Große an Leuten wie Ihnen. Damit bereiten Sie in der Stille Ihre Pläne vor!«
»Hilde – bezähmen Sie jetzt Ihre Filmphantasie! Begreifen Sie denn nicht, was das heißt, daß wir jetzt an Ihnen einen zweiten Menschen haben, der weiß, wie der Nachtdoktor aussieht? Auf die Fränze ist ja nicht zu rechnen! Die versagt ja jedesmal vor Angst, im entscheidenden Augenblick!«
»Wie der Nachtdoktor aussieht, weiß ich seit Donnerstag vor acht Tagen«, sagte die Hilde Lüders sanft lächelnd und hartnäckig.
»Dann halten Sie mich in Gottes Namen für den Ale!« schrie der junge Mann. »Also drücken wir uns lieber so aus: Würden Sie den Mann, der gestern neben dem Dicken ging, unbedingt wiedererkennen?«
»Na, jederzeit!«
»Und auf den ersten Blick?«
»Im Dustern!« Das Obstfräulein zuckte geringschätzig die Schultern. »Viel zu sehen ist an dem nicht!«
»Gut! Dann müssen wir nachher sofort die Nachforschungen aufnehmen! Sowie ich die Fränze dem Doktor Schraubt auf die Seele gebunden hab'! Da scheint er zu wohnen! Kommen Sie mit hinauf, Hilde! Er hat die Sorge für das Mädchen übernommen! Erzählen Sie ihm, was Sie von der Fränze Häselich wissen!«