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»Na – Herr Werner – noch 'n Bummel durch die Nacht?«
Herr Lungwitz frug es, der Geschäftsführer im Hotel Feuerstake – Portier, Buchhalter, alles in einem – schmalbrüstig wie der abgebröckelte, zweistöckige Gasthof selber, mit seinen vier kleinen Fenstern Front nach der engen, lärmenden Gasse im Herzen Berlins.
»Wenn man den ganzen Tag hinter dem Steuer gesessen hat«, der Garagenschlosser Karl Werner – jetzt in billigem, grauem Anzug von der Stange – zwängte sich in dem schmierigen Flur zwischen verschnürten Reisekörben, verbeulten Musterkoffern, Teppichrollen, einer Steige mit lebendem Geflügel hindurch ... »denn muß man sich abends die Beine 'n bißchen vertreten!«
»Wie? Wegen der Perserteppiche? Herr Dunkelblau aus Jassy? Ist weggegangen!« Der bleiche Geschäftsführer Lungwitz telephonierte mit listig rollenden Augen hinter dem Hornzwicker am schwarzen Band. Er hüstelte lungenleidend in den Hörer. »Herrn Schafarek? Können Sie auf'n Abend hier genießen samt seiner Kollektion! Da drüben steht seine Verdrußkiste! Maxe!« Er gab einer Rübe von Pikkolo einen Schwung. »Führ' die Damen zur Frau Mehlig hinauf – Sie meinen doch die mit die Bettfedern en gros aus Hinterpommern?«
Er telephonierte wieder. »Nee – nee – Fräulein – kommen Sie mir nich mit so Zicken! Hier is ein Familienhotel – Ihnen gesagt! Wegen Ihnen Ihren schönen Augen leg' ich mich noch lange nich mit'n Revier an!« Er hängte an und wandte den abgespannten Langschädel über die Schulter. »Sie – Herr Werner – nanu – weg is er!«
Der Garagenschlosser Karl Werner schlenderte schon draußen durch die Straßen von Alt-Berlin. Berlin umher. Berlin stundenweit. Berlin ohne Ende. Nach allen Seiten die langen, gelben Flimmerreihen der Laternen, die langen Gleisschlangen der Elektrischen, die Leuchtketten der Ladenscheiben.
Er ging weiter, ins tiefste Berlin hinein. Nächtig schweigende Gassen, in denen sich nichts regt. Eine huschende Katze. Zwei dunkle Gestalten im Torschatten, Hausmädchen und Hausdiener. Küßt euch nur, Kinder ...
Da ist das dunkelste Berlin. Schweigend, schwarz verschwimmend, spärlich Lichter spiegelnd, die weite Fläche der Spree. Vereinzelt nur helle Fensterpunkte drüben am nächtigen andern Ufer. Der Garagenschlosser Werner ging den Fluß entlang. Plumpe Zillen ankerten da. Die hellen Schornsteine der vertäuten, kleinen Dampfer leuchteten in der Dämmerung. Ein paar Köter kläfften von den Kähnen. Von irgendwoher trug der Wind Menschenstimmen über das Wasser und verwehte.
Nachdenklich stand der Schlosser Werner und einsam, die Hände in den Rocktaschen, und rauchte seine Zigarette, die als ein rotes Pünktchen durch die Nacht glimmte, und schaute hinaus auf das dunkle, das unbekannte Berlin.
Und da sah er etwas ... ... Er warf seine Zigarette weg und ging leise und schnell über den breiten Kai an den Fluß heran.
Ein wüster Wirrwarr von Sandhaufen, Röhren, Klamottentürmchen, Eisenschrott, Schubkarren, Bretterstapeln schattete auf dem Pflaster. Zwischendurch war ein junges Mädchen bis an den Holzzaun getreten, der den Kai von der Spree schied. Sie stand an einer Stelle, wo unten das Wasser frei, ohne die Last schlafender Kähne, an der Backsteinböschung gluckste. Sie beugte sich über die Planken und schaute hinab auf den nachtschwarzen Spiegel.
Nun machte sie wieder ein paar Schritte rückwärts und schritt langsam, unschlüssig, längs des Flusses auf und ab. Sie kam in den Lichtschein einer Laterne. Der Schlosser Werner sah im Zwielicht, daß sie jung und mittelgroß und dünnbeinig und zierlich von Gestalt war, in einem grauen, pelzbesetzten Mäntelchen. Ein roter Topfhut und ein Paar gelbe Halbschuhe schimmerten als Farbenflecke durch den zähen Nachtnebel.
Jetzt war sie wieder dicht am Geländer. Plötzlich schwang sie gelenkig ein Bein hinüber, war im Begriff, die Planke zu überklettern. Von da ging es senkrecht hinunter in die Flut.
»Nanu – Fräulein!«
»Lassen Sie mich!«
»Fräulein – was machen Sie denn da für Dummheiten?«
»Ob Sie mich in Ruhe lassen ...«
»Fräulein ... Strampeln Sie nicht! Ich bin doch stärker! Sehen Sie: Ich zieh' Sie ganz sauber über das Geländer zurück!«
Er stellte das Mädchen drüben wieder auf die Füße. Sie stand vor ihm – atemlos – am ganzen Leib zitternd – einen halben Kopf kleiner als er. Nun sah er sie deutlich: Ein schmales, wachsgelbes Gesicht mit feinem Näschen und starren, hellbraunen Augen. Dunkle Haarsträhne unter dem verschobenen roten Hut. Sie rückte ihn sich mit zitternden, feinen Fingern zurecht. Ihre helle Berliner Stimme klang erstickt.
»Was geht das Sie an – möcht' ich bloß wissen!«
»Wenn Sie erst tot sind, tut's Ihnen morgen früh leid!« sagte der Schlosser Werner herzlich. Er hatte gute blaue Augen und einen teilnehmenden Zug um den Mund. Er legte vorsichtig den Arm um ihr dünnes Kaninpelzmäntelchen.
»Ist ja viel netter so, Püppchen!« tröstete er sie sanft. »Denken Sie mal: Nun schwämmen Sie schon da unten als 'ne tote Wasserleiche! ... Vergessen Sie doch den Kerl und nehmen Sie sich 'nen andern. Gibt ja genug!«
»Gehen Sie – ja ...«
»Das sind mir Männer ja gar nicht wert! Ich muß das doch wissen. Ich gehör' doch selber zu der Ware!«
»Ach – wenn's das wäre ...« Die kleine Berlinerin setzte sich matt auf einen Haufen verrostete Eisenträger. Ihr Köpfchen fiel ihr vornüber auf die Knie. Davor preßte sie noch die mageren Kinderhände an Stirn und Schläfen. Ihr Körper zuckte.
»Nicht weinen, Kind! Ist ja noch gut abgegangen ...«
»Das sagen Sie! ... Haben Sie denn 'ne Ahnung ...«
»Warum haben Sie denn eigentlich ins Wasser wollen?«
»Die schmeißen mich ja doch ins Wasser!« Die Kleine sprang auf und starrte verstört um sich.
»Wer denn? Weswegen?«
»Weil ich ihn verpfiffen hab' – heut' nachmittag bei dem Schupo auf dem Ottoplatz! Das hat er doch jesehen ... Hui! – War der weg! Der Dussel, der Schupo, hat ihn nicht mehr gekriegt!«
»Er? Wer? Wen haben Sie bei dem Schupo angezeigt?«
Das Mädchen antwortete nicht. Er hörte nur ihr stoßweises, angstgepreßtes Atmen. Dann ein gebrochenes:
»Da ist's doch besser, man macht selber ein Ende, ehe die Brüder über einen kommen!«
»Vorläufig bin ich doch noch da!« sagte der Schlosser. »Kind – wo wohnen Sie denn?«
»Gerade da drüben über der Spree!«
»Bei wem?«
»Bei meinem Stiefvater! Der hat da 'ne Destille!«
»Also – ich bring' Sie hin! Los!«
Der Schlosser Werner wandte sich in der Richtung zur nächsten Brücke, die weit flußabwärts ihren Laternenglanz in dem Wasser spiegelte. Das Mädchen aus der Nacht hielt ihn erschrocken am Arm zurück.
»Nur man nicht da lang!«
»Wir können doch nicht durch die Spree schwimmen! ... Hallo! Ich glaub', die Krabbe will schon wieder ins Wasser! Ob Sie gleich schön hier oben bleiben ...«
»Nee – nee – Kommen Sie nur!«