Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Das ist wegen der Berliner Pflanze dahinten, daß ich's heute nacht so eklig mit den Nerven hab', Frau Meinecke!« sagte in der Portierwohnung der Villa Wiebeking die Jungfer Elise.
»Morjen früh wird se ja abjeschoben! Meinen Sejen hatse!«
»Aber bis dahin ...«
»Na – wat soll denn nu schon bis dahin passieren?« Die Portierfrau Meinecke gähnte.
»Wo steckt denn Ihr Mann heute abend wieder, Frau Meinecke?« Die ältliche Person sah sich unruhig in der guten Stube um.
»Der? Der is doch Schriftführer bei die Belgischen Riesen. Wenn da Sitzung in seinem ollen Karnickelklub is, is er nich zu halten. Ich mag das Kroppzeug nich – wenn sie so schnoppern, mit ihre Schlappohren! Die Biester stinken!«
»Und der Leopold ...«
»Der sitzt jetzt mittenmang seine Halleluja-Brüder!«
»Und der Markwart is mit der Herrschaft über Land. Und der Klappert außer Haus mit dem Doktor seinem Wagen. Und der Wietrich is ausgebummelt ...«
»... mit der Minna von drüben ... Na – ick sag' Ihnen: det Mächen ...«
»... und Gärtners wohnen für sich. Und die Küchenmädels und alles ist tanzen.«
»Die olle Marie is daheim! ... Und wir beide ... Uns stiehlt keiner mehr ...«
»Aber kein Mann is zur Hand, Meinecken!«
»Na – das genügt doch, wenn wir jesetzte Weiblichkeit det Haus hüten ...«
»Nicht, solange die Häselich im Hause ist!« Die bebrillte Jungfer erhob sich. »Mir ist's heut' nacht graulich – mit dem Stücke ... Ich hab' egal Herzklopfen ...«
»Kriechen Sie man jetzt auch in die Klappe, Fräulein Elise!«
»Ich kann doch nicht! Gott weiß, wann die Herrschaft heut' nacht aus Pommern zurückkommt. Ich dussele gerade nur so'n bißchen auf dem Stuhl. Aber vorher schau' ich noch mal nach, was der Balg dahinten treibt!«
»Fräulein Häselich! Machen Sie auf!« Die Jungfer Elise klopfte. Keine Antwort. Sie drückte auf die Klinke. Kein Riegel innen vor. Sie trat in die Kammer. Knipste Licht. Aus dem rotweiß gestreiften Kissen der eisernen Bettstelle in der Ecke blinzelte ein dunkler Wuschelkopf schlaftrunken in die Helle.
»Na – Sie schlummern schon so sachte, Fräulein Häselich?«
»Ja. Was dachten Sie denn?«
»Denn ist ja gut!«
Wieder dunkel. Schlurfende Schritte draußen. Stille. Die Franze lag mit offenen Augen. Sie hielt einen Zipfel der Flanelldecke mit beiden Fäusten umkrampft und biß darauf, um ihr leises, verzweifeltes Weinen zu unterdrücken.
Die Augen gewöhnten sich wieder an die Dunkelheit. Das Stübchen dämmerte im Zwielicht. Die Fränze lag und starrte zur Decke. Allmählich ebbte das wilde, stoßweise Wogen ihrer Brust. Sie setzte sich langsam auf. Horchte. Hob willenlos ein Bein aus dem Bett. Schleppend das andere. Da stand sie. Nicht weiß, als Nachtwandlerin im Hemd, sondern ein dunkler Umriß – völlig angekleidet und beschuht.
Zögernde, leise Katzenschritte – wie auf fremden Befehl – auf Fußspitzen zum Fenster. Leise die Innenläden auf. Die Scheiben. Kühle Nachtluft von draußen. Das schwache Rauschen der Gartenbüsche. Die schwarze Wölbung des Gewächshauses.
Die Fränze lehnte stumm am Fenster. Hörte nur ihr Herzklopfen. Sah nur die Nacht. Wartete. Atmete befreit auf. Niemand da ...
»Immer trödelig – nicht wahr? ... Die Zeit ist kostbar – nicht wahr? ... Nun mal schleunigst – wenn ich gehorsamst bitten darf ...«
Das war das nervöse, trockene, überstürzte Gezischel, das die Fränze kannte. Sie beugte sich vor. Gerade unter ihr, an der Hausmand, stand der Schatten.
»Ich hab' doch warten müssen, bis die doofe Nuß, die Jungfer – ich hab' mir doch gedacht, daß die noch mal bei mir 'reinkiekt ...«
»Machen Sie Platz – nicht wahr? ... daß ich aufs Fenster hinauf kann! Die Sache ist eilig – Sie begreifen, mein Fräulein!«
»Nee – ach Gott – nee! Bleiben Sie unten!«
»Gehen Sie vom Fenster weg – nicht wahr?« Atemlos schnell, leidenschaftlich irr das Geraune.
»Es ist ein Wächter im Garten!«
»Immer auf der anderen Seite, als wo ich bin ...« Ein belustigtes, hüstelndes Gemecker unten, kaum hörbar.
»Immer auf der andern Seite – nicht wahr?«
»Und draußen auf der Straße vigiliert auch noch einer von der Kriminalpolizei!«
»Beschäftigt – nicht wahr?« Kindlich sanft plötzlich unten das Geflüster des Schattens. »Abgelenkt durch zwei Herren meiner Bekanntschaft – nicht wahr – die sich verdächtig um das Haus zu schaffen machen!«
»Die Herrschaften sind so gut zu mir ...«
»Das Leben ist schwer, mein Fräulein!« Eindringlich von unten der heisere Wortsturz. »Aber es muß doch sein – nicht wahr?«
»Der junge Herr ist so gut zu mir ...«
»Wenn man doch muß – nicht wahr?« Geheimnisvoll der zischende Ton.
»Ich will jetzt ein ordentliches Mädchen werden!«
Ein geschäftiges Kichern unten.
»Es handelt sich hier um die höchsten Güter der Menschheit – nicht wahr? ... Ich habe eine Sendung zu vollbringen – nicht wahr? ... Was liegt dabei an Ihnen? Sie sind nicht wichtiger als ein Streichholz!«
»Ich lasse Sie nicht herein!«
»Dann sage ich es dem Dicken! Ihrem Freund!«
Die Fränze zuckte zusammen.
»Der Dicke ist nicht weit von hier!«
Die Fränze stöhnte leise auf.
»Der Dicke rechnet mit Ihnen ab.«
Die Fränze ließ langsam die Hände sinken, die sie wie zur Verteidigung auf das Fensterbrett gestemmt hatte.
»Dem Dicken entgehen Sie nicht. Der Dicke findet Sie überall in Deutschland, wo Sie auch sind!«
Die Fränze trat schwankend vom Fenster zurück.
»Platz!«
Der Nachtschatten kroch gelenkig in die Kammer. Stand da – undeutlich – hager – mittelgroß. Rieb sich behaglich die Hände.
»Nun führen Sie mich leise nach vorn in das Arbeitszimmer – nicht wahr?«
Und da die Fränze immer noch nicht sich regte – geheimnisvoll:
»Es geschieht doch nichts – nicht wahr? Es ist doch gar niemand da! Ich existiere doch nicht – nicht wahr?«
»Da stehen Sie doch ...«
»Das bilden Sie sich nur ein! Das träumen Sie, mein Fräulein! Sie werden ja sehen: Es wird nichts im Hause fehlen! Es wird nichts vermißt! Es wird keine Spur da sein ... Es ist, als wäre ich nicht dagewesen ...«
»Ach Gott ... ach Gott ...«
»Vorwärts!«
Die Fränze Häselich ging dumpf, mit den Händen tastend, den Gang entlang. Ihr war, als werfe sie in der Dunkelheit einen Schatten. Hinter ihr glitt der lebendige Schatten ...
Feierlich still, vorn, die Räume. Die Fränze blieb an einer Tür stehen. Ein Nicken neben ihr.
»Da? Gut! Warten Sie! Augenblick! Kleinigkeit! In zehn Minuten zurück – nicht wahr?«
Eine Viertelstunde Schweigen. Durch die Dämmerung wie von irgendwoher das Tacken einer Wanduhr. Das Hammerwerk des Herzens. Innen alles still. Leise die Türe. Neben der Fränze, befriedigt kichernd, eilfertig, die undeutliche Gestalt.
»Herrlich, mein Fräulein – herrlich! Das Leben ist herrlich! Man muß oft so lachen! ... Schnell jetzt!«
Vor ihr her, jetzt schon ortskundig, betriebsam, huschend, der Schatten. Ungeduldig.
»Bleiben Sie nicht stehen, mein Fräulein! Unnötig – nicht wahr?«
»Da vorn hör' ich jemanden gehen!«
Die Fränze legte die Hand aufs Herz. Sie schaute über die Schulter. Ihr schmales Gesicht verzerrte sich vor Angst.
»Da wird's hell! Da steckt jemand in einem Zimmer nach dem andern die Birnen an!«
»Er soll sie wieder auslöschen! Es ist nichts. Nichts. Nichts!« Vor ihr lachte es still in sich hinein. Der dunkle Umriß wehte durch die offene Tür in die Kammer der Fränze. »Sagen Sie nur: es sei gar nichts!«
Es saß etwas auf dem Fensterbrett – glitt außen hinab – löste sich in die Nacht. Die Fränze stand auf dem Gang. Der erhellte sich jäh durch einen Handgriff der Jungfer Elise nach dem Schalter neben der Tür zu den Vorderräumen, aus denen sie kam. Ein durchbohrender Blick durch die Brille.
»Was machen Sie denn hier auf dem Flur – he? Ein Glück, daß ich noch mal das Haus durchgehe ...«
Die Fränze rang nach Luft. Ihr ganzer Körper zitterte.
»Antwort, Fräulein Häselich! Flugs!«
»Ich kann nichts dafür!« keuchte die Fränze mit irren Augen, im jähen Trieb der Selbsterhaltung. »Mich dürft ihr nicht einlochen!«
»Na was denn? Was denn?«
»Hilfe! Hilfe!« Es gellte jäh aus der Kehle der Fränze Häselich durch das Haus.
»Was ist denn los?«
»Er war selber da!« Ein wildes, atemloses Gestotter. »Ich hab' nichts gegen ihn machen können!«
»Wer denn?«
»Hilfe! Hilfe!« schrie die Fränze Häselich.
»Wer wird denn hier umgebracht?« Die dicke Köchin holperte in Nachtjacke und Unterrock von hinten.
»Sie redet von einem Einbrecher!«
»Da ist er durchs Fenster 'raus!« leuchte die Fränze und deutete auf den Garten. »Er selber! Der Ale!«
»Das Mädel hat sich, Frau Meinecke!«
»Da geht draußen der Wächter durch den Garten! Der Dussel sieht ihn natürlich nicht. Aber da steckt der Ale noch jetzt irgendwo – bis der olle Mann vorbei ist! Er kann noch nicht weg sein ...«
»Man muß nach der Polizei ...«
»So! ... Jetzt kann der Ale weiter! ... So holt doch Männer bei! Die kriegen ihn noch!« ächzte die Fränze.
»Es sind doch keine da ...«
»Und bis die Polizei kommt ...«
»Unterdes ist er davon!« schrie die Fränze. »Ich hab's satt! ... Ich will aus allem 'raus! Und wenn sie mich totschlagen! ... Ich hab' so'n Leben satt ...«
»Nu krabbelt sie doch richtig auf's Fensterbrett!«
»Wenn keiner sich traut, denn lauf ich ihm nach ...« ächzte es von dort.
»Halten Sie sie doch, Elise! Die is imstand und springt in die Nacht 'raus!«
»Ich geh hinter ihm her, bis ich 'nen Schupo sehe!« Abgerissen, erstickt, die Worte der Fränze Häselich. »Diesmal tu ich's! ... Nicht wie auf dem Ottoplatz!«
»Die kriegt schon wieder ihre Anfälle! Nee – über so eene ooch!«
»Hiergeblieben! Verstanden?«
»Lassen Sie mich, Sie Affe, mit ihrer Brille!« Die Fränze rang mit der Jungfer. »Ich will ein anständiger Mensch werden! Ich spuck' dem Dicken in die Augen! Ich fürcht' mich nicht mehr vor ihm ...«
»Die phantasiert!«
»Ich krieg' den Ale noch zu fassen! Ich krieg' ihn!« Die Fränze sprang in den Garten. Sie drängte sich durch das dunkle Gebüsch. Die Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Hinter sich hörte sie die Rufe der Frauen. Weiter nach dem Gitter. Scharf die Zacken. Man mußte behutsam, mit gerafftem Rock, hinübersteigen. Es kostete Zeit ... Zeit! Gott sei Dank ... im Freien ... Um die Ecke ...
Lang, menschenleer die Straße. Zwei flimmernde Laternenreihen. Ein leiser Schrei aus dem offenen Mund der Fränze. Da hinten – ganz hinten – da ging er – ruhigen Schrittes, wie auf dem Ottoplatz, in modisch kurzem Herbstpaletot, den eleganten Filzhut im Genick.
Er drehte ihr den Rücken. Er sah sich auch nicht um. Er ahnte keine Gefahr. Es war auch keine für ihn. Es war zu weit, viel zu weit, um ihn im Schritt einzuholen. Und sowie man lief, warnte ihn ja der Trab der Schritte.
Und kein Mensch in der Nähe. Die Fränze stand verstört, mit bloßem Kopf, unter einer Laterne. Sie schaute verzweifelt suchend umher.
Da – ein Auto – eine Taxe – nein – kein Würfelstreifen! Ein Privatwagen. Aber er hielt. Ein junger Mann saß drinnen am Steuer. Der neben ihm beugte sich heraus.
»Sie sehen so geängstigt aus! Können wir Ihnen helfen?«
»Ach – nehmen Sie mich nur die paar hundert Schritte mit – bis zu dem Herrn, der da vorn geht!«
»Aber mit Vergnügen!«
Der junge Mann setzte sich neben sie auf die Hinterplätze des Wagens. Die Fränze Häselich bat mit fliegendem Atem:
»Aber nicht ganz dicht zu ihm 'ran! Laden Sie mich bitte ein bißchen hinter ihm ab! Ich will ihn überraschen! Aber so halten Sie doch! Da ist er ja schon! Um Gottes willen – so halt ...«
Eine Hand preßte sich ihr auf den Mund. Ein Arm legte sich eisenfest um sie, so daß sie sich plötzlich nicht rühren konnte. Der Wagen sauste, an dem Herrn auf dem Bürgersteig vorbei, davon in die Nacht.
Er wich, in schnellem Bogen, einem andern Privatauto aus, das ihm um die Straßenecke entgegenkam. Der zweite Wagen fuhr weiter und hielt vor der Villa in der Güntherstraße drei. Werner Wiebeking stieg aus, öffnete mit seinem Schlüssel Gartengitter und Haustor, trat in das Innere und sah sich erstaunt um.
»Warum ist denn alles so festlich beleuchtet? Elise? Was?« Er furchte die Stirn. »Einbrecher?«
»Sagt das Mächen!«
»Wo ist sie?«
»Davongelaufen, Herr Doktor!«
»Durchs Fenster!« ergänzte die Portierfrau. »Das Fräulein, das der Herr Doktor ...«
»Nur Ruhe!« Werner Wiebeking nahm einen Revolver aus einer Schublade, entsicherte ihn und hielt ihn schußbereit in der Hand, während er prüfend durch die Räume schritt.
»Ich kann nicht das geringste von einem Einbruch entdecken!« sagte er, zurückkehrend, zu den aufgeregten Dreien – der Jungfer, der Köchin, der Portierfrau.
»Das hab' ich mir gleich gedacht, Herr Doktor! Was das Mächen da zu melden hatte ...«
»Elise! Die Herrschaften kommen!« unterbrach sie die Köchin.
Der Reisewagen des Geheimrats Wiebeking rollte, pommersche Landstraße an den Rädern, in die Einfahrt. Der graubärtige, kleine Herr stieg aus, hörte, schob sich die goldene Brille auf der hochgebuckelten Gelehrtenstirn zurecht und eilte schweigend in sein Arbeitszimmer. Nach einiger Zeit kam er kopfschüttelnd wieder.
»Bei mir ist nichts angerührt, Anna!« sagte er zu seiner Frau. »Alles in vollster Ordnung!«
»Und ebenso das Silber. Der Schmuck im Stahlschrank. Die Bilder!« Frau Wiebeking kramte noch mit der schadenfroh lächelnden Jungfer in allen Winkeln. »Das muß ein merkwürdiger Dieb gewesen sein!«
»Oder er wurde durch die Kleine gestört!« meinte ihr Sohn.
»Denn müßte das Mädchen, wenn sie ihn hat festnehmen lassen wollen, doch sachte mal wieder hier antreten!«
»Das wird sie ja auch, Elise! Wir wollen noch warten!«
Aber eine Stunde verstrich. Und noch eine. Dann sprach die bebrillte Jungfer Elise, die langjährige Stütze des Hauses:
»Mit dem Fräulein Häselich haben die Herrschaften viel zu ville Geduld gehabt!«
»Ja. Es scheint so. Leider!«
»Die hat vorhin bloß heimlich ausrücken wollen – zu ihren Leuten zurück, weil ihr das gesittete Dasein nicht injeht! Und wie ich sie dabei auf dem Gang erwischt hab', hat sie das Theater mit dem Einbrecher gemacht. Gott sei Dank: Das Mächen kommt nicht wieder!«