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7

Der Mann, der draußen an dem Monteur Werner vorbeigegangen war, stand, ein Stammgast, stämmig, massig, mitten in der Destille. Ein Paar schläfrige Augäpfel rollten suchend in dem großen und groben Gesicht. Zwischen der weitflügeligen Nase und dem Sack des Doppelkinns lief ihm ein breites Lächeln um die bartlosen Lippenwülste. Er steuerte seine plumpe Leibeswucht zu dem Tisch, an dem die Fränze, fast ohne zu atmen, saß – blutleer gelb die Wangen, gläsern der Blick, wie eine Gestalt im Wachsfigurenkabinett. Er setzte sich schwerfällig ihr gegenüber und sagte nur unheimlich aufmunternd:

»Na ...?«

Die Fränze starrte ihn schweigend an – mit halboffenem Mund – unbewegt – gelähmt ... wie das Vögelchen die Schlange.

»Wat wird denn nu mit dir?«

Drüben kein Laut. Kein Angstzittern. Willenlosigkeit.

»Haste dein Testament jemacht – du Kröte?«

Plötzlich Leben in der Fränze. Ein Haßblick der Verzweiflung.

»Morgen fragt hier einer nach mir! Ein reeller Mensch! Der meldet mich bei die Vermißten! Denn kannste das Zuchthaus wieder mal von innen bekieken!«

Der Dicke hob seine mächtige, fein beflaumte Tatze. Eine blaue Tätowierung – ein vom Liebespfeil durchbohrtes Herz – spielte auf dem muskelgeschwellten Unterarm. Die Fränze duckte sich gewohnheitsmäßig unter der Maulschelle aus der tabakblauen Luft. Aber es kam keine. Der drüben ließ die Boxerfaust wieder sinken.

»Sag' dem Stiesel – wenn er noch mal kommt – bezieht er von mir meinen Öpperkötter! Hausmarke! Unter Kennern jeschatzt! Kostet ihn 'n künstliches Jebiß! Nu jeh! Zum Pipel-Ede! Du weißt: der Keller am Schlesischen Bahnhof!«

»Wat – soll ich – dort?« Die Fränze sprach es mechanisch.

»Dort is der Ale ...«

»Der ... Ale ...«

»... den du heut' nachmittag hast verpfeifen wollen – du Luder! ... Wat der mit dir anfangen wird, das hat er sich selber vorbehalten!«

»Da – komm' ich – ja – nicht – wieder!«

»Det Wort sollste wahr haben! Nu mach' mal den Spazierjang! Von dem werden dir die Beine ooch nich krumm!«

Die Fränze erhob sich langsam.

»Und komm' dem Ale nur nich erst mit rotgeheulten Augenklappen! Das macht auf den jar keinen Eindruck! Na – wird's?«

Die Fränze tat zwei schwankende Schritte in das Lokal hinein. Blieb stehen. Die Frauenzimmer in Federhüten sahen neugierig, das Äppelröschen zwischen ihnen mitleidig, zu.

»Marsch! Aber nimm dich in acht! Es steht ein Spanner draußen!«

Die Fränze ging, die Augen schon in der Ferne, weiter. Zögerte zitternd.

»'raus!«

Die Fränze Häselich stand auf der windumpfiffenen, herbstdunkeln Schlünzigstraße. Sie schritt, immer mit halboffenem Mund, wie eine geängstigte Nachtwandlerin durch das verlorene Viertel an der Spree – in Laternenhelle hinein – auf wimmelnde Bürgersteige – Berlin um sie – der unermeßliche Ameisenhaufen des Ostens. Immer nach Osten. Nicht weit. Da war der Schlesische Bahnhof, mit seinen vielen kleinen Hotels, dem Gewimmel der engen Gassen, den zahllosen Destillen, Bierstuben, Amorgrotten, Nymphendielen – den merkwürdig vielen Menschen – junge Burschen – Mädchen – ältere Männer – die, jetzt noch, am späten Abend, scheinbar zwecklos vor den Häusern lehnten und auf den Bürgersteigen lungerten.

An den Straßenecken standen die Schupoposten vier Mann stark. Die Fränze ging scheu an ihnen vorbei und stieg eine ausgetretene Kellertreppe zur Unterwelt hinab.

Ein niederer, menschenheißer, übeldünstender Raum im Tabaknebel und Stimmengewirr, alles voll von stehenden und sitzenden Gästen. Alle die Hüte auf dem Kopf. Frauenzimmer dazwischen. Die Fränze hob sich auf die Fußspitzen und schaute sich um. Aus einer Runde Ostjuden in schwarzen Kaftanen, hohen Stiefeln, schwarzen Schirmkappen, mit Schläfenringeln und Prophetenbärten, zupfte sie einer vertraulich am Mantel.

»Was ze handeln, Fräulein?«

Die Fränze drängte sich wortlos weiter. Hinter ihr ein Schütteln der Patriarchenköpfe.

»Kennt Ihr sie, Sime Mordchai? Kennt Ihr, Lipkin? Nix kennt man!«

Die Fränze stand und spähte. Drüben ein geschwenktes Bierglas.

»Laß man die Jarde aus der Jrenadierstraße! Hier setzste dich!«

Hamburger Zimmerleute mit schwarzen Huttellern und schwarzen, geschweiften Glockenhosen. Die Fränze schaute von ihnen weg. Ein Neger in der Ecke bezog den Blick auf sich und zeigte feixend die weißen Zähne. Nein – kein Neger. Ein Kohlenarbeiter, dem das Weiß der Augäpfel in dem verrußten Gesicht rollte.

»Christus ist nahe!« Sanfte Stimmen. Zwei Schutenhüte der Heilsarmee. Zwei blasse, junge Mädchen. Sie verteilten Traktätchen. Sie wiederholten eintönig, leidend, mechanisch: »Christus ist nahe!«

Die Fränze ließ achtlos den Heilsruf fallen, den ihr die eine Soldatin in die Hand drückte. Dort drüben, dicht am Eingang, nickte ihr ein bebrillter bartloser, jüngerer Herr kurz und eifrig zu. Er war dunkel und schäbig angezogen. Unter dem Arm trug er eine abgegriffene Aktenmappe. Er ähnelte einem Winkelkonsulenten. Er klomm, ohne sich weiter nach der Fränze Häselich umzuschauen, mit behenden, krummen Knieen – sonderbar katzengleich – die Kellertreppe empor. Das Halleluja-Mädchen hob das Erbauungsblatt auf und glättete es vorwurfsvoll.

»Fräulein ... Gottes Wort! ... Wer weiß, wie bald der Mensch vor Gott steht!«

»Das sagen Sie ausgerechnet mir!« Die Fränze murmelte es. Sie folgte dem Mann mit der Mappe, der eben da oben auf die Straße hinaufstieg. Sie ging hinter ihm her, die Straße entlang. Sie wußte, daß er wußte, daß sie ihm folgte.

In die Nacht hinaus. In die tiefe Nacht. Weithin verschwimmendes, unbestimmtes Schwarz drüben über der mächtigen Fläche des Küstriner Platzes. Der große Varieté-Palast in seiner Mitte schon geschlossen, still und dunkel. Leiser Wind. Leere umher. Nur da und dort ein paar schattenhafte Gestalten. Eine blieb stehen und wartete. Das war er. Sie ging auf ihn zu – nicht schnell, nicht langsam – gleichmäßig, so wie sie mußte – und machte vor ihm halt. Kein Mensch in der Nähe.

Und gleich darauf seine gedämpfte Stimme – hell, schnell, eindringlich, fast übersprudelnd, mit nervösem Klang.

»Aber so was müssen Sie doch nicht machen, wie heute nachmittag! Hat doch gar keinen Zweck – nicht wahr? Ich existiere doch gar nicht – nicht wahr?«

»Manchmal glaubt man, Sie sind verrückt!« sagte die Fränze mühsam zwischen den Zähnen.

»Also nu bitte ... Wie soll man mich denn da fassen? Wenn ich überhaupt nicht vorhanden bin?« Die flüsternden, vertraulichen Worte überstürzten sich. »Nein. Nein. Derlei hält uns nur auf – nicht wahr? Das gehört nicht zur Sache!«

»... aber ich weiß, daß Sie nicht meschugge sind, sondern sehr helle – und deswegen sage ich Ihnen ...«

»... Sie müssen mehr an die Sache denken – nicht wahr?«

»Ich hab' nämlich 'nen Freund!« Die Kleine holte entschlossen, drohend, tief Atem. »Und wenn ihr mich jetzt hier kalt macht ...«

»Davon ist gar keine Rede! Davon ist gar keine Rede, Verehrteste! Darum handelt es sich ja ...«

Die Stimme wurde immer schneller.

»... dann bring' ich euch noch, wenn ich tot bin, in den jrünen Wagen! Dann sitzen euch die Rüben locker auf dem Hals ...«

»Das ist es ja eben! Das will ich ja nicht, daß Ihnen was geschieht! Deswegen hab' ich dem Dicken gesagt, nicht wahr, daß er Sie mir ... nicht wahr – mir schickt!«

Die Sätze hasteten »... und mir überläßt! ... Ich verzeihe Ihnen – Sie verstehen...«

Die Fränze Häselich schwieg ungläubig. Vor ihr redete rasch, eifrig, mit eiligen Handbewegungen ein Schatten im Dunkel.

»Meine Mission verträgt kein Blut! Sie würden mir viel zu leid tun – nicht wahr? Sie sind jung. Sie wissen nicht, was Sie taten ... Aber Sie tun es nicht wieder – nicht wahr?«

Die Fränze fing hilflos an zu weinen.

»Gehen Sie zum Dicken und sagen Sie, es wäre alles in Ordnung!« Die Stimme schwang jetzt in einem warmen, besorgten Ton. »Ein zweites Mal kann ich Sie vor ihm nicht schützen! Bedenken Sie nur: Wir beide haben es da mit ungebildeten Menschen zu tun – aus der Hefe des Volks. Es ist peinlich – wenn es nicht so herrlich wäre ...«

»Ach Gott – – – ach Gott ...«

»Ein zweites Mal – bei derartigen Verbrechernaturen ... Leider ... die Spree ist tief – nicht wahr?«

»Ich hab' heute schon in die Spree springen wollen! Da hat mich einer zurückgehalten ...«

»So. So. So.« Der ihr gegenüber stand im Begriff zu gehen. »Wer war denn das?«

»Gott ...« sagte die Fränze, während der andere zerstreut, schnellbeinig, die Mappe unterm Arm, ohne ihre Antwort abzuwarten, in die Nacht davonlief »... 'n Garagenschlosser! Mehr weiß ich auch nicht!«


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