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In den Kreis dieser Symbole des Niedergangs gehört nun vor allem die Entropie, bekanntlich das Thema des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Der erste Hauptsatz, das Prinzip der Erhaltung der Energie, formuliert einfach das Wesen der Dynamik, um nicht zu sagen, die Struktur des westeuropäischen Geistes, dem allein die Natur mit Notwendigkeit in der Form einer kontrapunktisch-dynamischen Kausalität im Gegensatz zur statisch-plastischen des Aristoteles erscheint. Das Grundelement des faustischen Weltbildes ist nicht die Haltung, sondern die Tat, mechanisch betrachtet der Prozeß, und dieser Satz fixiert lediglich den mathematischen Charakter solcher Prozesse in Form von Variablen und Konstanten. Der zweite Satz aber greift tiefer und stellt eine einseitige Tendenz des Naturgeschehens fest, welche durch die begrifflichen Grundlagen der Dynamik in keiner Weise von vornherein bedingt war.
Die Entropie wird mathematisch durch eine Größe dargestellt, die durch den augenblicklichen Zustand eines in sich abgeschlossenen Systems von Körpern bestimmt ist und die bei allen überhaupt möglichen Änderungen physikalischer oder chemischer Art nur zunehmen, niemals abnehmen kann. Im günstigsten Falle bleibt sie unverändert. Die Entropie ist wie die Kraft und der Wille etwas, das jedem, der überhaupt in das Wesen dieser Formenwelt einzudringen vermag, innerlich vollkommen klar und deutlich ist, das aber von jedem anders und offenbar unzulänglich formuliert wird. Auch hier versagt der Geist vor dem Ausdrucksbedürfnis des Weltgefühls.
Man hat, je nachdem die Entropie sich vermehrt oder nicht, die Gesamtheit der Naturprozesse in nichtumkehrbare und umkehrbare eingeteilt. Bei jedem Prozeß der ersten Art wird freie Energie in gebundene verwandelt; soll diese tote Energie in lebendige zurückverwandelt werden, so kann es nur dadurch geschehen, daß gleichzeitig in einem zweiten Prozeß ein weiteres Quantum lebendiger Energie gebunden wird. Das bekannteste Beispiel ist die Verbrennung von Kohle, d. h. die Umwandlung der in ihr aufgespeicherten lebendigen Energie in die durch die Gasform der Kohlensäure gebundene Wärme, wenn die latente Energie des Wassers in Dampfspannung und weiterhin in Bewegung umgesetzt werden soll. Daraus folgt, daß die Entropie im Weltganzen beständig zunimmt, so daß das dynamische System sich offenbar einem wie immer gearteten Endzustande nähert. Zu den nichtumkehrbaren Prozessen gehören Wärmeleitung, Diffusion, Reibung, Lichtemission, chemische Reaktionen, zu den umkehrbaren die Gravitation, elektrische Schwingungen, elektromagnetische und Schallwellen.
Was bisher nie empfunden worden ist, und weshalb ich in dem Satz von der Entropie (1850) den Anfang der Vernichtung dieses Meisterstücks der westeuropäischen Intelligenz, der Physik dynamischen Stils sehe, ist der tiefe Gegensatz zwischen Theorie und Wirklichkeit, der hier zum ersten Mal ausdrücklich in die Theorie selbst hineingetragen wurde. Nachdem der erste Satz das strenge Bild eines kausalen Naturgeschehens gezeichnet hatte, bringt der zweite durch die Einführung der Nichtumkehrbarkeit eine dem unmittelbaren Leben angehörende Tendenz zum Vorschein, die dem Wesen des Mechanischen und Logischen grundsätzlich widerspricht.
Verfolgt man die Konsequenzen der Entropielehre, so ergibt sich erstens, daß theoretisch alle Prozesse umkehrbar sein müssen. Das gehört zu den Grundforderungen der Dynamik. Das fordert noch einmal in aller Schärfe der erste Hauptsatz. Es ergibt sich aber zweitens, daß in Wirklichkeit sämtliche Naturvorgänge nicht umkehrbar sind. Nicht einmal unter den künstlichen Bedingungen des experimentellen Verfahrens kann der einfachste Prozeß exakt umgekehrt, d. h. ein einmal überschrittener Zustand wiederhergestellt werden. Nichts ist bezeichnender für die Lage des gegenwärtigen Systems als die Einführung der Hypothese der »elementaren Unordnung«, um den Widerspruch zwischen geistiger Forderung und wirklichem Erlebnis auszugleichen: die »kleinsten Teilchen« der Körper – ein Bild, nicht mehr – führen durchweg umkehrbare Prozesse aus; in den wirklichen Dingen befinden die kleinsten Teilchen sich in Unordnung und stören einander; infolgedessen ist mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit der natürliche, allein vom Beobachter erlebte, nichtumkehrbare Prozeß mit einer Zunahme der Entropie verbunden. So wird die Theorie zu einem Kapitel der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und statt exakter Methoden treten statistische in Wirksamkeit.
Man hat augenscheinlich nicht bemerkt, was das bedeutet. Die Statistik gehört wie die Chronologie ins Gebiet des Organischen, zum wechselnd bewegten Leben, zu Schicksal und Zufall und nicht zur Welt der Gesetze und der zeitlosen Kausalität. Man weiß, daß sie vor allem zur Charakteristik politischer und wirtschaftlicher, also geschichtlicher Entwicklungen dient. In der klassischen Mechanik Galileis und Newtons wäre für sie kein Platz gewesen. Was hier plötzlich statistisch erfaßt und erfaßbar wird, mit Wahrscheinlichkeit statt mit jener apriorischen Exaktheit, die alle Denker des Barock einstimmig gefordert hatten, ist der Mensch selbst, der diese Natur erkennend durchlebt, der in ihr sich selbst erlebt; was die Theorie mit innerer Notwendigkeit hinstellt, jene in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen umkehrbaren Prozesse, repräsentiert den Rest einer strenggeistigen Form, den Rest der großen Barocktradition, welche die Schwester des kontrapunktischen Stils war. Die Zuflucht zur Statistik offenbart die Erschöpfung der in dieser Tradition wirksam gewesenen ordnenden Kraft. Werden und Gewordnes, Schicksal und Kausalität, historische und naturhafte Elemente beginnen zu verschwimmen. Formelemente des Lebens: das Wachstum, das Altern, die Lebensdauer, die Richtung, der Tod drängen herauf.
Das hat in diesem Aspekt die Nichtumkehrbarkeit der Weltprozesse zu bedeuten. Sie ist, im Gegensatz zu dem physikalischen Zeichen t, Ausdruck der echten, historischen, innerlich erlebten Zeit, die mit dem Schicksal identisch ist.
Die Physik des Barock war durch und durch strenge Systematik, solange Theorien wie diese noch nicht an ihrem Bau rütteln durften, solange in ihrem Bilde nichts anzutreffen war, was den Zufall und die bloße Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck brachte. Mit dieser Theorie aber ist sie Physiognomik geworden. Der »Lauf der Welt« wird verfolgt. Die Idee des Weltendes erscheint in der Verkleidung von Formeln, die im Grunde ihres Wesens keine Formeln mehr sind. Es kommt damit etwas Goethesches in die Physik, und man wird das ganze Gewicht dieser Tatsache ermessen, wenn man sich klarmacht, was zuletzt die leidenschaftliche Polemik Goethes gegen Newton in der Farbenlehre bedeutete. Hier argumentierte das Schauen gegen den Verstand, das Leben gegen den Tod, die schöpferische Gestalt gegen das ordnende Gesetz. Die kritische Formenwelt der Natur erkenntis war aus dem Natur gefühl, dem Gottgefühl, durch Widerspruch hervorgegangen. Hier, am Ausgang der Spätzeit, hat sie den Gipfel der Distanz erreicht, und sie kehrt zum Ursprung zurück.
Und so beschwört die in der Dynamik wirksame Einbildungskraft noch einmal die großen Symbole der historischen Leidenschaft des faustischen Menschen herauf, die ewige Sorge, den Hang zu den fernsten Fernen von Vergangenheit und Zukunft, die rückschauende Geschichtsforschung, den vorausschauenden Staat, die Beichten und Selbstbetrachtungen, die über alle Völker weithinhallenden, das Leben messenden Glockenschläge. Das Ethos des Wortes Zeit, wie nur wir es empfinden, wie es die instrumentale Musik im Gegensatz zur Statuenplastik erfüllt, richtet sich auf ein Ziel. Das war in allen Lebensbildern des Abendlandes als drittes Reich, als neues Zeitalter, als Aufgabe der Menschheit, als Ausgang einer Entwicklung versinnlicht worden. Und das bedeutet für das Gesamtdasein und das Schicksal der faustischen Welt als Natur die Entropie.
Schon in dem mythischen Begriff der Kraft, der Voraussetzung dieser ganzen dogmatischen Formenwelt, liegt stillschweigend ein Richtungsgefühl, eine Beziehung auf Vergangenes und Künftiges; noch deutlicher wird sie in der Bezeichnung der Naturvorgänge als Prozesse. Es darf also gesagt werden, daß die Entropie als die geistige Form, in welcher die unendliche Summe aller Naturereignisse als historische und physiognomische Einheit zusammengefaßt wird, allen physikalischen Begriffsbildungen von Anfang an unbemerkt zugrunde lag, und daß sie eines Tages als »Entdeckung« auf dem Wege wissenschaftlicher Induktion zum Vorschein kommen und dann durch die übrigen theoretischen Elemente des Systems »durchaus bestätigt« werden mußte. Je mehr die Dynamik sich durch Erschöpfung ihrer inneren Möglichkeiten dem Ziele nähert, desto entschiedener dringen die historischen Züge des Bildes hervor, desto stärker macht sich neben der anorganischen Notwendigkeit des Kausalen die organische des Schicksals, neben den Faktoren der reinen Ausgedehntheit – Kapazität und Intensität – die der Richtung geltend. Es geschieht dies durch eine ganze Reihe gewagter Hypothesen von gleichem Bau, die durch experimentelle Befunde nur scheinbar gefordert werden, die in Wirklichkeit sämtlich durch das Weltgefühl und die Mythologie schon der Gotik antizipiert waren.
Dahin gehört vor allem auch die bizarre Hypothese des Atomzerfalls, welche die radioaktiven Erscheinungen deutet – nach welcher Uran-Atome, die Jahrmillionen hindurch trotz äußerer Einwirkungen ihr Wesen unverändert bewahrt haben, plötzlich und ohne nachweisbaren Anlaß explodieren und ihre kleinsten Teile mit einer Geschwindigkeit, die Tausende von Kilometern in der Sekunde beträgt, im Weltraum verbreiten. Dies Schicksal trifft unter einer Menge radioaktiver Atome immer nur einzelne, während die benachbarten davon ganz unberührt bleiben. Auch dieses Bild ist Geschichte, nicht Natur, und wenn sich auch hier die Anwendung der Statistik als notwendig erweist, so möchte man beinahe vom Ersatz der mathematischen durch die chronologische Zahl reden.In der Tat hat die Vorstellung einer Lebensdauer der Elemente den Begriff der Halbwertszeit von 3,85 Tagen hervorgebracht (K. Fajans, Radioaktivität, 1919, S. 12).
Mit diesen Vorstellungen kehrt die mythische Gestaltungskraft der faustischen Seele zum Ausgang zurück. Gerade damals, als zu Beginn der Gotik die ersten mechanischen Uhren konstruiert wurden, Symbole eines historischen Weltgefühls, entstand der Mythos von Ragnarök, dem Weltende, der Götterdämmerung. Mag diese Vorstellung, wie wir sie in der Völuspa und in christlicher Fassung im Muspilli besitzen, wie alle vermeintlich urgermanischen Mythen nicht ohne das Vorbild antiker und vor allem christlich-apokalyptischer Motive entstanden sein, sie ist in dieser Gestalt Ausdruck und Symbol der faustischen und keiner andren Seele. Die olympische Götterwelt ist geschichtslos. Sie kennt kein Werden, keine Epoche, kein Ziel. Faustisch aber ist der leidenschaftliche Zug in die Ferne. Die Kraft, der Wille hat ein Ziel, und wo es ein Ziel gibt, gibt es für den forschenden Blick auch ein Ende. Was die Perspektive der großen Ölmalerei durch den Konvergenzpunkt, was der Barockpark durch den Point de vue, was die Analysis durch das Restglied der unendlichen Reihen zum Ausdruck brachte, den Abschluß einer gewollten Richtung, tritt hier in begrifflicher Form hervor. Der Faust des zweiten Teils der Tragödie stirbt, weil er sein Ziel erreicht hat. Das Weltende als Vollendung einer innerlich notwendigen Entwicklung – das ist die Götterdämmerung; das bedeutet also, als letzte, als irreligiöse Fassung des Mythos, die Lehre von der Entropie.