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Ich behaupte also, daß die gelehrte Psychologie, weit entfernt, das Wesen der Seele aufzudecken oder auch nur zu berühren – es ist hinzuzufügen, daß jeder von uns, ohne es zu wissen, Psychologie dieser Art treibt, wenn er sich eigne oder fremde Seelenregungen »vorzustellen« sucht –, zu allen Symbolen, die den Makrokosmos des Kulturmenschen bilden, ein weiteres hinzufügt. Wie alles Vollendete, nicht sich Vollendende, stellt es einen Mechanismus an Stelle eines Organismus dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch gerade »Seele« sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht. Ich glaube nicht, daß in irgend einem psychologischen System das Wort Schicksal vorkommt, und man weiß, daß nichts in der Welt weiter von wirklicher Lebenserfahrung und Menschenkenntnis entfernt ist als ein solches System. Assoziationen, Apperzeptionen, Affekte, Triebfedern, Denken, Fühlen, Wollen – alles das sind tote Mechanismen, deren Topographie den belanglosen Inhalt der Seelenwissenschaft bildet. Man wollte das Leben finden und traf auf eine Ornamentik von Begriffen. Die Seele blieb, was sie war, das was weder gedacht noch vorgestellt werden kann, das Geheimnis, das ewig Werdende, das reine Erlebnis.
Dieser imaginäre Seelenkörper – das sei hier zum ersten Male ausgesprochen – ist niemals etwas andres als das getreue Spiegelbild der Gestalt, in welcher der gereifte Kulturmensch seine äußere Welt erblickt. Das Tiefenerlebnis verwirklicht hier wie dort die ausgedehnte Welt.Vgl. Bd. I, S. 222ff. Das mit dem Urwort Zeit angedeutete Geheimnis schafft aus dem Empfinden des Außen wie aus dem Vorstellen des Innen den Raum. Auch das Seelenbild hat seine Tiefenrichtung, seinen Horizont, seine Begrenztheit oder Unendlichkeit. Ein »inneres Auge« sieht, ein »inneres Ohr« hört. Es gibt eine deutliche Vorstellung einer inneren Ordnung, die wie die äußere das Merkmal kausaler Notwendigkeit trägt.
Und damit ergibt sich nach allem, was in diesem Buch über die Erscheinung der hohen Kulturen gesagt worden ist, eine ungeheure Erweiterung und Bereicherung der Seelenforschung. Alles, was von Psychologen heute gesagt und geschrieben wird – es ist nicht allein von systematischer Wissenschaft, sondern auch von physiognomischer Menschenkenntnis im weitesten Sinne die Rede –, bezieht sich allein auf den gegenwärtigen Zustand der abendländischen Seele, während die bisher selbstverständliche Meinung, diese Erfahrungen seien für die »menschliche Seele« überhaupt gültig, ohne Prüfung hingenommen worden ist.
Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele. Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises heraustreten, und was er auch »erkennen« möge: jede dieser Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl, Richtung und innerer Form. Schon der primitive Mensch legt sich aus Tatsachen seines Lebens ein Seelenbild zurecht, wobei die Urerfahrungen des Wachseins: der Unterschied von Ich und Welt, von Ich und Du, und die des Daseins: der Unterschied von Leib und Seele, von Sinnenleben und Nachdenken, von Geschlechtsleben und Empfindung gestaltend wirken. Weil es nachdenkliche Menschen sind, die darüber denken, so wird immer ein inneres numen: Geist, Logos, Ka, Ruach zum übrigen in Gegensatz gerückt. Wie aber Einteilung und Verhältnis im einzelnen liegen und wie man sich die seelischen Elemente vorstellt, als Schichten, Kräfte, Substanzen, als Einheit, Polarität oder Vielheit, das kennzeichnet den Nachdenkenden schon als Glied einer bestimmten Kultur. Und glaubt jemand, das Seelische fremder Kulturen aus seinen Wirkungen zu erkennen, so unterlegt er ihm das eigne Bild. Er assimiliert die neuen Erfahrungen einem vorhandenen System, und es ist kein Wunder, wenn er endlich ewige Formen entdeckt zu haben glaubt.
In der Tat besitzt jede Kultur ihre eigne systematische Psychologie, so wie sie ihren eignen Stil von Menschenkenntnis und Lebenserfahrung besitzt. Und wie selbst jede einzelne Stufe, das Zeitalter der Scholastik, das der Sophistik, das der Aufklärung, ein Zahlenbild, Denkbild und Naturbild entwirft, das nur für sie paßt, so spiegelt sich endlich jedes Jahrhundert in einem eignen Seelenbilde. Der beste Menschenkenner Westeuropas irrt sich, wenn er einen Araber oder Japaner zu verstehen sucht, und umgekehrt. Aber ebenso irrt der Gelehrte, wenn er die Grundworte der arabischen oder griechischen Systeme mit den eignen übersetzt. Nephesch ist nicht animus, und atman ist nicht Seele. Was wir unter der Bezeichnung Wille überall entdecken, fand der antike Mensch in seinem Seelenbilde nicht.
Nach allem wird man über die hohe Bedeutung der einzelnen, in der Weltgeschichte des Denkens auftauchenden Seelenbilder nicht mehr im Zweifel sein. Der antike – apollinische, dem punktförmigen, euklidischen Sein hingegebene – Mensch blickte auf seine Seele wie auf einen zur Gruppe schöner Teile geordneten Kosmos. Plato nannte sie νουσ, θυμοσ, επιθυμια und verglich sie mit Mensch, Tier und Pflanze, einmal sogar mit dem südlichen, nördlichen und hellenischen Menschen. Was hier nachgebildet erscheint, ist die Natur, wie sie sich vor den Blicken antiker Menschen entfaltet: eine wohlgeordnete Summe greifbarer Dinge, denen gegenüber der Raum als das Nichtseiende empfunden wird. Wo findet sich in diesem Bilde der »Wille«? Wo die Vorstellung funktioneller Zusammenhänge? Wo sind die übrigen Schöpfungen unserer Psychologie? Glaubt man, daß Plato und Aristoteles sich auf die Analyse schlechter verstanden haben und etwas nicht sahen, was sich bei uns jedem Laien aufdrängt? Oder fehlt hier der Wille, weil in der antiken Mathematik der Raum, in der antiken Physik die Kraft fehlt?
Dagegen nehme man unter den abendländischen Psychologien welche man will. Man wird immer eine funktionale, nie eine körperhafte Ordnung finden; y = f (x): das ist die Urgestalt aller Eindrücke, die wir von unserm Innern empfangen, weil sie unsrer Außenwelt zugrunde liegt. Denken, Fühlen, Wollen – aus dieser Dreiheit kommt kein westeuropäischer Psychologe heraus, so gern er möchte, aber schon der Streit der gotischen Denker um den Primat des Willens oder der Vernunft lehrt, daß man hier eine Beziehung zwischen Kräften erblickt – ob diese Lehren als eigne Erkenntnis vorgetragen oder aus Augustin und Aristoteles herausgelesen werden, ist ganz bedeutungslos. Assoziationen, Apperzeptionen, Willensvorgänge und wie die Bildelemente sonst heißen mögen, sind ohne Ausnahme vom Typus mathematisch-physikalischer Funktionen und der Form nach gänzlich unantik. Da es sich nicht um physiognomisch zu deutende Lebenszüge, sondern um »die Seele« als Objekt handelt, so ist die Verlegenheit der Psychologen wiederum das Bewegungsproblem. Es gibt für die Antike auch ein inneres Eleatenproblem, und in dem scholastischen Streit um den funktionalen Vorrang von Vernunft oder Wille kündigt sich die gefährliche Schwäche der Barockphysik an, zwischen Kraft und Bewegung ein zweifelfreies Verhältnis nicht finden zu können. Die Richtungsenergie wird im antiken und indischen Seelenbilde verneint – da ist alles gelagert und gerundet –, im faustischen und ägyptischen bejaht – es gibt da Wirkungskomplexe und Kraftmitten –, aber eben um dieses zeithaften Gehaltes willen gerät das zeitfremde Denken mit sich selbst in Widerspruch.
Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder auf. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse. Der antike Mensch empfindet seine Innenwelt plastisch. Das verrät schon der Sprachgebrauch bei Homer, in dem vielleicht uralte Tempellehren durchschimmern, darunter die von den Seelen im Hades, die ein wohl erkennbares Abbild des Körpers sind. So sieht sie auch die vorsokratische Philosophie. Ihre drei schön geordneten Teile – λογιστιχον επιθυμητιχον, θυμοειδεσ– erinnern an die Gruppe des Laokoon. Wir stehen unter einem musikalischen Eindruck: die Sonate des inneren Lebens hat den Willen als Hauptthema; Denken und Fühlen sind die Nebenthemen; der Satz unterliegt den strengen Regeln eines seelischen Kontrapunkts, die zu finden Aufgabe der Psychologie ist. Die einfachsten Elemente unterscheiden sich wie antike und abendländische Zahlen: dort sind sie Größen, hier Beziehungen. Der seelischen Statik des apollinischen Daseins – dem stereometrischen Ideal der σωφροσυνη und αταραξια – steht die Seelendynamik des faustischen gegenüber.
Das apollinische Seelenbild – Platos Zweigespann mit dem νουσ als Lenker – verflüchtigt sich sofort mit der Annäherung an das magische Seelentum der arabischen Kultur. Es verblaßt schon in der späteren Stoa, deren Schulhäupter vorwiegend aus dem aramäischen Osten stammten. In der frühen Kaiserzeit ist es selbst in der stadtrömischen Literatur nur noch als Reminiszenz anzutreffen.
Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele. Zwischen ihnen herrscht weder das antike, statische, noch das abendländische, funktionale Verhältnis, sondern ein völlig anders gestaltetes, das sich eben nur als magisch bezeichnen läßt. Man denke im Gegensatz zur Physik Demokrits und zu der Galileis an die Alchymie und den Stein der Weisen. Dies spezifisch morgenländische Seelenbild liegt mit innerer Notwendigkeit allen psychologischen, vor allem auch theologischen Betrachtungen zugrunde, welche die »gotische« Frühzeit der arabischen Kultur (0-300) erfüllen. Das Johannesevangelium zählt nicht weniger dazu wie die Schriften der Gnostiker und Kirchenväter, der Neuplatoniker und Manichäer, die dogmatischen Texte im Talmud und Awesta und die sich ganz religiös äußernde Altersstimmung des Imperium Romanum, die das wenige Lebendige in ihrem Philosophieren dem jungen Orient, Syrien und Persien entnahm. Schon der große Poseidonios, trotz der antiken Außenseite seines ungeheuren Wissens ein echter Semit und von früharabischem Geiste, empfand im innerlichsten Gegensatz zum apollinischen Lebensgefühl diese magische Struktur der Seele als die wahre. Eine den Leib durchdringende Substanz befindet sich in deutlichem Wertunterschied gegen eine zweite, die sich aus der Welthöhle in die Menschheit herabläßt, abstrakt, göttlich, auf welcher der Consensus aller an ihr Teilhabenden beruht. Dieser »Geist« ist es, der die höhere Welt hervorruft, durch deren Erzeugung er über das bloße Leben, das »Fleisch«, die Natur triumphiert. Es ist dies das Urbild, das, bald religiös, bald philosophisch, bald künstlerisch gefaßt – ich erinnere an das Porträt der konstantinischen Zeit mit den starr ins Unendliche blickenden Augen; dieser Blick repräsentiert das πνευμα–, allem Ichgefühl zugrunde liegt. Plotin und Origenes haben so empfunden. Paulus unterscheidet (z.B. 1. Kor. 15, 44) zwischen σωμα ψυχικονund σωμα πνευματικον. Der Gnosis war die Vorstellung einer doppelten, leiblichen oder geistigen Ekstase und die Einteilung der Menschen in niedere und höhere, Psychiker und Pneumatiker, geläufig. Plutarch hat die in der spätantiken Literatur verbreitete Psychologie, den Dualismus von νουσ und ψυχη, orientalischen Vorbildern nachgeschrieben. Man setzte ihn alsbald zu dem Gegensatz von christlich und heidnisch, Geist und Natur in Beziehung, aus dem dann das noch heute nicht überwundene Schema der Weltgeschichte als eines Dramas der Menschheit zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht, mit einem Eingreifen Gottes als Mitte, bei Gnostikern, Christen, Persern und Juden hervorgegangen ist.
Seine streng wissenschaftliche Vollendung erfährt das magische Seelenbild in den Schulen von Bagdad und Basra. Alfarabi und AlkindiDe Boer, Gesch. d. Philos. im Islam (1901), S. 93, 108. haben die verwickelten und uns wenig zugänglichen Probleme dieser magischen Psychologie eingehend behandelt. Ihr Einfluß auf die junge, ganz abstrakte Seelenlehre ( nicht das Ichgefühl) des Abendlandes darf nicht unterschätzt werden. Scholastische und mystische Psychologie haben vom maurischen Spanien, Sizilien und Orient ebensoviel Formelemente empfangen wie die gotische Kunst. Man vergesse nicht, daß das Arabertum die Kultur der gestifteten Offenbarungsreligionen ist, die sämtlich ein dualistisches Seelenbild voraussetzen. Man denke an die Kabbala und den Anteil jüdischer Philosophen an der sogenannten Philosophie des Mittelalters, d. h. zuerst des späten Arabertums und dann der frühen Gotik. Ich nenne nur ein merkwürdiges, kaum beachtetes Beispiel, das letzte: Spinoza.Windelband, Gesch. d. neueren Philos. (1919), I, S. 208, und Hinneberg, Kultur der Gegenwart I, V (1913), S. 484. Aus dem Ghetto stammend ist er, neben seinem persischen Zeitgenossen Schirazi, der letzte verspätete Vertreter des magischen und ein Gast in der Formenwelt des faustischen Weltgefühls. Er hat als kluger Schüler der Barockzeit seinem System die Farbe abendländischen Denkens zu geben gewußt; in der Tiefe steht er völlig unter dem Aspekt des arabischen Dualismus zweier Seelensubstanzen. Dies ist der wahre, innere Grund, weshalb ihm der Kraftbegriff Galileis und Descartes' fehlt. Dieser Begriff ist der Schwerpunkt eines dynamischen Universums und damit dem magischen Weltgefühl fremd. Zwischen der Idee vom Stein des Weisen – die in Spinozas Idee der Gottheit als causa sui versteckt liegt – und der kausalen Notwendigkeit unsres Naturbildes gibt es keine Vermittlung. Deshalb ist sein Willensdeterminismus genau der, welcher von der Orthodoxie in Bagdad verteidigt wurde – »Kismet« –, und dort hat man die Heimat des Verfahrens » more geometrico« zu suchen, das dem Talmud, Awesta und dem arabischen Kalaam gemeinsam ist, in Spinozas Ethik aber innerhalb unsrer Philosophie ein groteskes Unikum bildet.
Noch einmal hat dann die deutsche Romantik dies magische Seelenbild flüchtig heraufbeschworen. Man fand an Magie und den krausen Gedankengängen gotischer Philosophen den gleichen Geschmack wie an den Kreuzzugsidealen der Klöster und Ritterburgen und vor allem auch an sarazenischer Kunst und Poesie, ohne von diesen entlegenen Dingen eben viel zu verstehen. Schelling, Oken, Baader, Görres und ihr Kreis gefielen sich in unfruchtbaren Spekulationen in arabisch-jüdischem Stil, die man mit deutlichem Behagen als dunkel, als »tief« empfand, was sie für die Orientalen nicht gewesen waren, die man wohl zum Teil selbst nicht begriff und von denen man hoffte, daß sie auch vom Hörer nicht ganz begriffen werden würden. Bemerkenswert ist an dieser Episode nur der Reiz des Dunklen, den diese Gedankenkreise ausübten. Man darf den Schluß wagen, daß die klarsten und zugänglichsten Fassungen faustischer Gedanken, wie man sie etwa bei Descartes und in den Prolegomena von Kant findet, auf einen arabischen Metaphysiker denselben Eindruck des Nebelhaften und Abstrusen gemacht haben würden. Was für uns wahr ist, ist für sie falsch und umgekehrt: das gilt vom Seelenbilde der einzelnen Kulturen wie von jedem anderen Ergebnis wissenschaftlichen Nachdenkens.