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Wer diese Höhe der Betrachtung erreicht hat, dem fallen alle Früchte von selbst zu. An den einen Gedanken schließen sich, mit ihm lösen sich zwanglos alle Einzelprobleme, welche auf den Gebieten der Religionsforschung, der Kunstgeschichte, der Erkenntniskritik, der Ethik, der Politik, der Nationalökonomie den modernen Geist seit Jahrzehnten und leidenschaftlich, aber ohne den letzten Erfolg beschäftigt haben.
Dieser Gedanke gehört zu den Wahrheiten, die nicht mehr bestritten werden, sobald sie einmal in voller Deutlichkeit ausgesprochen sind. Er gehört zu den innern Notwendigkeiten der Kultur Westeuropas und ihres Weltgefühls. Er ist geeignet, die Lebensanschauung derjenigen von Grund aus zu ändern, die ihn völlig begriffen, das heißt ihn sich innerlich zu eigen gemacht haben. Es bedeutet eine gewaltige Vertiefung des uns natürlichen und notwendigen Weltbildes, daß wir die welthistorische Entwicklung, in der wir stehen und die wir bis jetzt rückwärts als ein organisch Ganzes zu betrachten gelernt haben, nun auch vorwärts in großen Umrissen verfolgen können. Dergleichen hat sich bisher nur der Physiker bei seinen Berechnungen träumen lassen. Es bedeutet, ich wiederhole es noch einmal, auch im Historischen den Ersatz des ptolemäischen durch einen kopernikanischen Aspekt, das heißt eine unermeßliche Erweiterung des Lebenshorizontes.
Es stand bis jetzt frei, von der Zukunft zu hoffen, was man wollte. Wo es keine Tatsachen gibt, regiert das Gefühl. Künftig wird es jedem Pflicht sein, vom Kommenden zu erfahren, was geschehen kann und also geschehen wird, mit der unabänderlichen Notwendigkeit eines Schicksals, und was also von persönlichen Idealen, Hoffnungen und Wünschen ganz unabhängig ist. Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts. Dies als »gut« zu empfinden kennzeichnet den Tatsachenmenschen. Es bedauern und tadeln, heißt aber nicht, es ändern können. Zur Geburt gehört der Tod, zur Jugend das Alter, zum Leben überhaupt seine Gestalt und die vorbestimmten Grenzen seiner Dauer. Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden – und man wird das künftig tun –, aber man kann es nicht ändern. Es wird nicht mehr erlaubt sein, im Heute und Morgen mit aller Selbstsicherheit die Geburt oder Blüte von dem anzunehmen, was man gerade wünscht, wenn auch die historische Erfahrung laut genug dagegen redet.
Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß ein solcher Weltaspekt, der über die Umrisse und die Richtung der Zukunft Gewißheit gibt und weitgehende Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für viele ein Verhängnis sei, falls er einmal mehr als bloße Theorie, falls er die praktische Weltanschauung der für die Gestaltung der Zukunft wirklich in Betracht kommenden Gruppe von Persönlichkeiten würde.
Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben. Aber ich sehe den Nachteil nicht, der entstehen könnte, wenn eine tüchtige und von unbegrenzten Hoffnungen geschwellte Generation beizeiten erfährt, daß ein Teil dieser Hoffnungen zu Fehlschlägen führen muß. Mögen es die teuersten sein; wer etwas wert ist, wird das überwinden. Es ist wahr, daß es für einzelne tragisch ausgehen kann, wenn sich ihrer in den entscheidenden Jahren die Gewißheit bemächtigt, daß im Bereiche der Architektur, des Dramas, der Malerei, für sie nichts mehr zu erobern ist. Mögen sie zugrunde gehen. Man war sich bisher einig darüber, hier keinerlei Schranken anzuerkennen; man glaubte, daß jede Zeit auf jedem Gebiete auch ihre Aufgabe habe; man fand sie, wenn es sein mußte, mit Gewalt und schlechtem Gewissen, und jedenfalls stellte es sich erst nach dem Tode heraus, ob der Glaube einen Grund hatte und ob die Arbeit eines Lebens notwendig oder überflüssig gewesen war. Aber jeder, der nicht bloßer Romantiker ist, wird diese Ausflucht ablehnen. Das ist nicht der Stolz, der die Römer auszeichnete. Was liegt an denen, die es vorziehen, wenn man vor einer erschöpften Erzgrube ihnen sagt: Hier wird morgen eine neue Ader angeschlagen werden – wie es die augenblickliche Kunst mit ihren durch und durch unwahren Stilbildungen tut –, statt sie auf das reiche Tonlager zu verweisen, das unerschlossen daneben liegt? – Ich betrachte diese Lehre als eine Wohltat für die kommenden Generationen, weil sie ihnen zeigt, was möglich und also notwendig ist und was nicht zu den innern Möglichkeiten der Zeit gehört. Es ist bisher eine Unsumme von Geist und Kraft auf falschen Wegen verschwendet worden. Der westeuropäische Mensch, so historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen Lebensalter sich nie seiner eigentlichen Richtung bewußt. Er tastet und sucht und verirrt sich, wenn die äußeren Anlässe ihm nicht günstig sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur zu übersehen und zu prüfen, was er kann und soll. Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.