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Es ist nun die Frage, inwiefern der Mensch dieser Kultur selbst erfüllt, was das von ihm geschaffene Seelenbild erwarten läßt. Darf man das Thema der abendländischen Physik jetzt ganz allgemein als den wirkenden Raum bezeichnen, so ist damit auch die Daseinsart, der Daseins inhalt des gleichzeitigen Menschen bestimmt. Wir, faustische Naturen, sind gewöhnt, den Einzelnen hinsichtlich seiner wirkenden, nicht seiner plastisch-ruhenden Erscheinung ins Ganze unsrer Lebenserfahrung aufzunehmen. Was der Mensch ist, ermessen wir an seiner Tätigkeit, die nach innen wie nach außen gewendet sein kann; und alle einzelnen Vorsätze, Gründe, Kräfte, Überzeugungen, Gewohnheiten werten wir durchaus nach dieser Richtung. Das Wort, in dem wir diesen Aspekt zusammenfassen, heißt Charakter. Wir sprechen von Charakterköpfen, von Charakterlandschaften. Der Charakter von Ornamenten, Pinselstrichen, Schriftzügen, von ganzen Künsten, Zeitaltern und Kulturen: das sind uns geläufige Wendungen. Die Musik des Barock ist die eigentliche Kunst des Charakteristischen, was von Melodie und Instrumentation gleichmäßig gilt. Auch dies Wort bezeichnet etwas Unbeschreibliches, etwas, das die faustische Kultur aus allen andern heraushebt. Und zwar ist seine tiefe Verwandtschaft mit dem Wort »Wille« unverkennbar: was der Wille im Seelenbild, ist der Charakter im Bilde des Lebens, wie es uns und nur uns Westeuropäern mit Selbstverständlichkeit vorschwebt.
Daß der Mensch Charakter habe, ist der Grundanspruch all unsrer ethischen Systeme, so verschieden ihre metaphysischen oder praktischen Formeln sonst lauten mögen. Der Charakter – der sich im Strome der Welt bildet, die »Persönlichkeit«, das Verhältnis des Lebens zur Tat – ist ein faustischer Eindruck vom Menschen, und es besteht eine bedeutsame Ähnlichkeit mit dem physikalischen Weltbilde darin, daß der vektorielle Kraftbegriff mit seiner Richtungstendenz sich von dem der Bewegung trotz schärfster theoretischer Untersuchungen nicht hat isolieren lassen. Ebenso unmöglich ist die strenge Scheidung von Wille und Seele, Charakter und Leben. Wir empfinden auf der Höhe dieser Kultur, sicherlich seit dem 17. Jahrhundert, das Wort Leben als schlechthin gleichbedeutend mit Wollen. Ausdrücke wie Lebenskraft, Lebenswille, tätige Energie füllen als etwas Selbstverständliches unsre ethische Literatur, während sie in das Griechisch der Zeit des Perikles nicht einmal übersetzbar gewesen wären.
Man bemerkt – was der Anspruch aller Moralen auf zeitliche und räumliche Allgemeingültigkeit bisher verdeckt hat –, daß jede einzelne Kultur als einheitliches Wesen höherer Ordnung ihre eigne moralische Fassung besitzt. Es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt. Nietzsche, der als erster eine Ahnung davon hatte, ist trotzdem von einer wirklich objektiven Morphologie der Moral – jenseits von jedem Gut und jedem Böse – weit entfernt geblieben. Er hat die antike, indische, christliche, Renaissancemoral an seinen eignen Wertungen abgeschätzt, statt deren Stil als Symbol zu verstehen. Aber gerade unserem historischen Blick hätte das Urphänomen der Moral als solches nicht entgehen sollen. Indessen werden wir erst heute, scheint es, reif dazu. Uns ist, und zwar schon seit Joachim von Floris und den Kreuzzügen, die Vorstellung der Menschheit als eines tätigen, kämpfenden, fortschreitenden Ganzen so notwendig, daß es uns schwer wird einzusehen, daß dies eine ausschließlich abendländische Betrachtungsweise von vorübergehender Geltung und Lebensdauer ist. Dem antiken Geist erscheint die Menschheit als gleichbleibende Masse, und dem entspricht eine ganz anders geartete Moral, deren Dasein sich von der homerischen Frühzeit bis zur Kaiserzeit verfolgen läßt. Überhaupt wird man finden, daß dem im höchsten Grade aktiven Lebensgefühl der faustischen Kultur die chinesische und ägyptische, dem streng passiven der Antike die indische näherstehen.
Wenn je eine Gruppe von Nationen den Kampf ums Dasein beständig vor Augen hatte, so war es die der antiken Kultur, wo alle die Städte und Städtchen einander bis zur Vernichtung bekämpften, ohne Plan, ohne Sinn, ohne Gnade, Körper gegen Körper, aus einem vollkommen geschichtswidrigen Instinkt. Aber die griechische Ethik war, trotz Heraklit, weit entfernt, den Kampf zu einem ethischen Prinzip zu machen. Die Stoiker wie die Epikuräer lehrten den Verzicht auf ihn als Ideal. Die Überwindung von Widerständen ist vielmehr der typische Antrieb der abendländischen Seele. Aktivität, Entschlossenheit, Selbstbehauptung werden gefordert; der Kampf gegen die bequemen Vordergründe des Lebens, die Eindrücke des Augenblicks, des Nahen, Greifbaren, Leichten, die Durchsetzung dessen, was Allgemeinheit und Dauer hat, was Vergangenheit und Zukunft seelisch aneinanderknüpft, ist der Inhalt aller faustischen Imperative von den frühesten Tagen der Gotik bis zu Kant und Fichte und weit darüber hinaus zu dem Ethos der ungeheuren Macht- und Willensäußerungen unsrer Staaten, Wirtschaftsmächte und unsrer Technik. Das Carpe diem, das gesättigte Sein des antiken Standpunktes ist der vollkommene Widerspruch gegen das, was Goethe, Kant, Pascal, was die Kirche wie das Freidenkertum als allein wertvoll empfanden, das tätige, ringende, überwindende Sein.Luther hat, und dies ist einer der wesentlichen Gründe für die Wirkung des Protestantismus gerade auf tiefere Naturen, die praktische Tätigkeit – was Goethe die Forderung des Tages nannte – in den Mittelpunkt der Moral gestellt. Die »frommen Werke«, denen die Richtungsenergie im hier angegebenen Sinne fehlt, treten unbedingt zurück. In ihrer Hochschätzung wirkte, wie in der Renaissance, ein Rest von südlichem Gefühl. Hier findet man den tiefen ethischen Grund für die steigende Mißachtung, die das Klosterwesen von nun an trifft. In der Gotik war der Eintritt ins Kloster, der Verzicht auf die Sorge, die Tat, das Wollen ein Akt von höchstem sittlichem Range. Es war das größte denkbare Opfer: das des Lebens. Im Barock empfinden selbst Katholiken nicht mehr so. Die Stätte nicht der Entsagung sondern des untätigen Genießens fiel dem Geist der Aufklärung zum Opfer.
Wie alle Formen der Dynamik – die malerische, musikalische, physikalische, soziale, politische – unendliche Zusammenhänge zur Geltung bringen, und nicht wie die antike Physik den Einzelfall und deren Summe, sondern den typischen Verlauf und dessen funktionale Regel betrachten, so hat man unter Charakter das grundsätzlich Gleichbleibende in der Auswirkung des Lebens zu verstehen. Andernfalls spricht man von Charakterlosigkeit. Charakter ist, als Form einer bewegten Existenz, in welcher mit größtmöglicher Variabilität im einzelnen die höchste Konstanz im Grundsätzlichen erreicht wird, das, was eine bedeutende Biographie wie Goethes »Wahrheit und Dichtung« überhaupt möglich macht. Plutarchs echt antike Biographien sind demgegenüber nur chronologisch, nicht entwicklungsgeschichtlich geordnete Anekdotensammlungen, und man wird zugeben, daß von Alkibiades, Perikles oder überhaupt einem rein apollinischen Menschen nur die zweite, nicht die erste Art von Biographie denkbar ist. Ihren Erlebnissen fehlt nicht die Masse, sondern die Beziehung; sie haben etwas Atomistisches. Auf das physikalische Weltbild bezogen: der Grieche hat nicht etwa vergessen, in der Summe seiner Erfahrungen allgemeine Gesetze zu suchen; er konnte sie in seinem Kosmos gar nicht finden.
Es folgt daraus, daß die Wissenschaften der Charakterkunde, vor allem Physiognomik und Graphologie, innerhalb der Antike sehr dürftig ausgefallen sein würden. An Stelle der Handschrift, die wir nicht kennen, beweist es das antike Ornament, das gegenüber dem gotischen – man denke an den Mäander und die Akanthusranke – von einer unglaublichen Simplizität und Schwäche des charakteristischen Ausdrucks, dafür aber von einem nie wieder erreichten Ausgeglichensein in zeitlosem Sinne ist.
Es versteht sich von selbst, daß wir, dem antiken Lebensgefühl zugewendet, dort ein Grundelement der ethischen Wertung finden müssen, das dem Charakter ebenso entgegengesetzt ist wie die Statue der Fuge, die euklidische Geometrie der Analysis, der Körper im Raum. Es ist die Geste. Damit ist das Grundprinzip einer seelischen Statik gegeben, und das Wort, welches an Stelle unsrer »Persönlichkeit« in den antiken Sprachen steht, heißt προσωπον, persona, nämlich Rolle, Maske. Im spätgriechisch-römischen Sprachgebrauch bezeichnet es die öffentliche Erscheinung und Gebärde und damit den eigentlichen Wesenskern des antiken Menschen. Man sagte von einem Redner, daß er als priesterliches, als soldatisches προσωπον spreche. Der Sklave war απροσωποσ, aber nicht ασωματοσ, d. h. er hatte keine als Bestandteil des öffentlichen Lebens in Betracht kommende Haltung, aber eine » Seele«. Daß das Schicksal jemandem die Rolle eines Königs oder Feldherrn zuerteilt habe, gibt der Römer durch persona regis, imperatoris.Προσωπον heißt im älteren Griechisch Gesicht, später in Athen Maske. Aristoteles hat das Wort in der Bedeutung »Person« noch nicht gekannt. Erst der juristische Ausdruck persona, der ursprünglich – etruskischer Herkunft – die Theatermaske bedeutet, hat in der Kaiserzeit auch dem griechischen προσωπον den prägnanten römischen Sinn gegeben. Vgl. R. Hirzel, Die Person (1914), S. 40 ff. Darin verrät sich der apollinische Lebensstil. Es handelt sich nicht um die Entfaltung innerer Möglichkeiten durch tätiges Streben, sondern um die jederzeit geschlossene Haltung und strengste Anpassung an ein sozusagen plastisches Seinsideal. Nur in der antiken Ethik spielt ein gewisser Begriff der Schönheit eine Rolle. Mag man dies Ideal σωφροσύνη, καλοκἀγαϑία, oder ἀταραξία nennen, es ist immer die wohlgeordnete Gruppe sinnlich greifbarer, durchaus öffentlich erscheinender, für die andern, nicht für das eigene Selbst bestimmter Züge. Man war Objekt, nicht Subjekt des äußeren Lebens. Das rein Gegenwärtige, Augenblickliche, der Vordergrund wurde nicht überwunden, sondern herausgearbeitet. Innenleben ist in diesem Zusammenhang ein unmöglicher Begriff. Das unübersetzbare, stets im westeuropäischen Sinne mißverstandene ζῷον πολιτικόν des Aristoteles bezieht sich auf Menschen, die einzeln, einsam, nichts sind, die nur als Mehrzahl etwas bedeuten – was für eine groteske Vorstellung ist ein Athener in der Rolle des Robinson! –, auf der Agora, dem forum, wo jeder sich an andern spiegelt und dadurch erst eigentlich Wirklichkeit erhält. Dies alles liegt in dem Ausdruck σώματα πόλεως: die Bürger der Stadt. Man begreift, daß das Porträt, das Probestück der Barockkunst, mit der Darstellung des Menschen identisch ist, insoweit er Charakter hat, und daß andrerseits in der attischen Blütezeit die Darstellung des Menschen hinsichtlich seiner Attitüde, des Menschen als » persona«, in dem Formideal der nackten Statue enden mußte.