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So stammt die Erscheinung des großen Stils also aus dem Wesen des Makrokosmos, aus dem Ursymbol einer großen Kultur. Man wird, wenn man den Gehalt des Wortes zu würdigen weiß, das nicht einen Formbestand, sondern eine Formgeschichte bezeichnet, die fragmentarischen und chaotischen Kunstäußerungen des Urmenschentums nicht zu der umfassenden Bestimmtheit eines solchen Stils mit seiner Entwicklung über Jahrhunderte hin in Beziehung bringen. Erst die als Einheit nach Ausdruck und Bedeutung wirkende Kunst der großen Kulturen – und nun nicht mehr die Kunst allein – hat Stil.
Zur organischen Geschichte eines Stils gehört ein Vorher, Außerhalb und Nachher. Die »Stiertafel« aus der 1. ägyptischen Dynastie ist noch nicht »ägyptisch«.H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst I, S. 15 f. Erst mit der 3. Dynastie erhalten die Werke, und zwar plötzlich und sehr bestimmt einen Stil. Ebenso steht die Karolingerkunst »zwischen den Stilen«. Man bemerkt ein Tasten, ein Ausprobieren verschiedener Formen, aber nichts von innerlich notwendigem Ausdruck. Der Schöpfer des Aachener Münsters »denkt sicher, baut sicher, aber er fühlt nicht sicher«.Frankl, Baukunst des Mittelalters (1918), S. 16 ff. Die Marienkirche auf der Feste Würzburg (um 700) hat ihr Seitenstück in Saloniki (St. Georg); die Kirche von Germigny des Près (um 800) ist mit Kuppeln und Hufeisenbögen fast eine Moschee. 850-950 besteht für das ganze Abendland eine Lücke. Ebenso steht die russische Kunst noch heute »zwischen den Stilen«. Auf den primitiven, von Norwegen bis zur Mandschurei verbreiteten Holzbau mit steilem, achteckigem Zeltdach dringen über die Donau byzantinische, über den Kaukasus armenisch-persische Motive ein. Eine Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums, die unendliche Ebene,Vgl. Bd. II, S. 921 Anm. Der Mangel jeder Vertikaltendenz im russ. Lebensgefühl erscheint auch in der Sagengestalt des Jlja von Murom (Bd. II, S. 788). Der Russe hat nicht das geringste Verhältnis zu einem Vatergott. Sein Ethos ist nicht Sohnes-, sondern reine Bruderliebe, die allseitig in die Menschenebene ausstrahlt. Auch Christus wird als Bruder empfunden. Das faustische, ganz vertikale Streben nach persönlicher Vervollkommnung ist dem echten Russen eitel und unverständlich. Auch die russischen Ideen von Staat und Eigentum entbehren jeder Vertikaltendenz. findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck. Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Kokoschniks«, welche das Aufstreben verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen« und betonen damit das Horizontale des Baus, der lediglich von außen aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und die orthodoxen Zwiebelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger ZahlAuf der Friedhofskirche in Kishi sind es 22. auf der Dachebene »sitzen«.J. Grabar, Gesch. der russ. Kunst (1911, russ.) I-III. A. Eliasberg, Russ. Baukunst (1922), Einleitung. Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.
Das Erwachen erfolgte im faustischen Abendlande kurz vor 1000. Mit einem Schlage ist der romanische Stil fertig. An Stelle der verschwimmenden Raumgliederung mit unsicherem Grundriß tritt plötzlich eine straffe Dynamik des Raumes. Von Anfang an sind Außen- und Innenbau in ein festes Verhältnis gesetzt, so daß die Wand von der Formensprache durchdrungen wird wie in keiner andern Kultur; von Anfang an ist die Bedeutung der Fenster und der Türme bestimmt. Die Idee der Form war unwiderruflich gegeben, nur die Entwicklung stand noch bevor.
Mit einem schöpferischen Akt von gleicher Unbewußtheit und symbolischer Wucht beginnt der ägyptische Stil. Das Ursymbol des Weges ist plötzlich ins Leben getreten, mit dem Beginn der 4. Dynastie (2550 v. Chr.). Das weltbildende Tiefenerlebnis dieser Seele empfängt seinen Gehalt vom Richtungsfaktor selbst: die Tiefe des Raumes als erstarrte Zeit, die Ferne, der Tod, das Schicksal selbst beherrschen den Ausdruck; die bloß sinnlichen Dimensionen der Länge und Breite werden zur begleitenden Fläche, die den Weg des Schicksals einengt und vorschreibt. Das ägyptische Flachrelief, auf Nahsicht berechnet und in seiner reihenweisen Anordnung den Betrachter zwingend, in vorgeschriebener Richtung die Wandflächen abzuschreiten, taucht ebenso plötzlich gegen Beginn der 5. Dynastie auf.Die Klarheit in der Anlage der ägyptischen und abendländischen Geschichte gestattet einen bis ins einzelne gehenden Vergleich, der wohl einer kunsthistorischen Untersuchung wert wäre. Die 4. Dynastie des strengen Pyramidenstils (2550-2450, Cheops, Chephren) entspricht der Romanik (980-1100); die 5. Dynastie (2450-2320, Sahu-rê) der Frühgotik (1100-1230); die 6. Dynastie, die Blütezeit der archaischen Bildniskunst (2320-2190, Phiops I. u. II.) der Hochgotik (1230-1400). (Siehe die Bemerkung auf Tafel I nach S. 70. H. K.) Die noch späteren Reihen von Sphinxen und Statuen, die Felsen- und Terrassentempel verstärken beständig die Tendenz auf die einzige Ferne, welche die Welt des ägyptischen Menschen kennt, das Grab, den Tod. Man bemerke wohl, wie schon die Säulenreihen der Frühzeit nach Durchmesser und Abstand der mächtigen Schäfte genau so gegliedert sind, daß sie jeden seitlichen Durchblick verdecken. Das hat sich in keiner andern Architektur wiederholt.
Die Größe dieses Stils erscheint uns starr und unveränderlich. Er steht allerdings jenseits der Leidenschaft, die noch sucht und fürchtet und untergeordneten Einzelzügen damit eine rastlose persönliche Bewegtheit im Lauf der Jahrhunderte erteilt; aber sicherlich wäre dem Ägypter der faustische Stil – er bildet von der frühesten Romanik bis zum Rokoko und Empire ebenfalls eine Einheit – in seiner Unruhe und seinem ständigen Suchen nach einem Etwas viel gleichförmiger erschienen, als wir uns vorstellen können. Vergessen wir nicht, daß aus dem hier vorausgesetzten Begriff des Stils folgt, daß Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko nur Stufen ein und desselben Stils sind, an dem wir selbst naturgemäß vor allem das Wechselnde, das Auge anders gearteter Menschen das Bleibende bemerken. In der Tat beweisen zahllose Umbauten romanischer Werke im Barock-, spätgotischer im Rokokostil, die durch nichts auffallen, die innere Einheit der nordischen Renaissance und ebenso die der Bauernkunst, in welcher Gotik und Barock völlig identisch geworden ist, die Straßen alter Städte, deren Giebel und Fassaden aller Stilarten einen reinen Einklang bilden, und die Unmöglichkeit, Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Barock und Rokoko in einzelnen Fällen überhaupt zu unterscheiden, daß die »Familienähnlichkeit« dieser Abschnitte viel größer ist, als sie den Angehörigen erscheint.
Der ägyptische Stil ist rein architektonisch bis zum Erlöschen dieser Seele. Er ist der einzige, in welchem neben der Architektur ein verzierendes Ornament vollkommen fehlt. Er gestattet keine Abschweifung zu unterhaltenden Künsten, keine Tafelmalerei, keine Büste, keine weltliche Musik. In der Antike geht mit der Ionik der Schwerpunkt der Stilbildung von der Architektur zu einer von ihr unabhängigen Plastik über; im Barock geht er hinüber zur Musik, deren Formensprache ihrerseits die gesamte Baukunst des 18. Jahrhunderts beherrscht; im Arabertum löst seit Justinian und dem Perserkönig Chosru Nuschirwan die Arabeske alle Formen der Architektur, Malerei und Plastik zu Stileindrücken auf, die wir heute als kunstgewerblich bezeichnen könnten. In Ägypten bleibt die Herrschaft der Architektur unangefochten. Sie mildert lediglich ihre Sprache. In den Hallen der Pyramidentempel der 4. Dynastie (Pyramide des Chephren) stehen schmucklose, scharfkantige Pfeiler. In den Bauten der 5. Dynastie (Pyramide des Sahu-rê) erscheint die Pflanzensäule. Steingewordene Lotus- und Papyrusbündel wachsen riesenhaft aus dem Fußboden von durchscheinendem Alabaster auf, der das Wasser bedeutet, eingeschlossen von purpurnen Wänden. Die Decke ist mit Vögeln und Sternen geschmückt. Der heilige Weg vom Torbau zur Grabkammer, das Bild des Lebens, ist ein Strom. Es ist der Nil selbst, der mit dem Ursymbol der Richtung eins wird. Der Geist der mütterlichen Landschaft vereinigt sich mit der aus ihm entsprungenen Seele. In China tritt an die Stelle der mächtigen Pylonenwand, die mit der engen Pforte dem Nahenden entgegendroht, die »Geistermauer« (yin-pi), die den Eingang verdeckt. Der Chinese schlüpft in das Leben, wie er von da an das Tao des Lebenspfades verfolgt; und wie das Niltal zu den Hügelebenen der Landschaft am Hoangho, so verhält sich der steinumschlossene Tempelweg zu den verschlungenen Pfaden der chinesischen Gartenarchitektur. Ganz ebenso knüpft sich das euklidische Dasein der antiken Kultur in geheimnisvoller Weise an die vielen kleinen Inseln und Vorgebirge des Ägäischen Meeres, und die stets im Unendlichen schweifende Leidenschaft des Abendlandes an die weiten fränkischen, burgundischen, sächsischen Ebenen.