Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Der Atheismus ist dem Psychologen wie dem Religionsforscher bisher kaum einer sorgfältigen Betrachtung wert erschienen. Soviel über ihn schlechtweg geschrieben und räsoniert worden ist, gleichviel ob im Stile des freigeistigen Märtyrers oder des gläubigen Zeloten: von Arten des Atheismus, von der Analyse einer einzelnen, bestimmten Erscheinungsform in ihrer Fülle und Notwendigkeit, ihrer starken Symbolik, ihrer zeitlichen Beschränktheit hat man nie gehört.

»Der« Atheismus – ist er die apriorische Struktur eines gewissen Weltbewußtseins oder eine wahlfreie Überzeugung? Wird man für ihn geboren oder zu ihm bekehrt? Zieht das unbewußte Gefühl von einem entgötterten Kosmos auch das Wissen davon nach sich, daß »der große Pan tot ist«? Gibt es frühe Atheisten, etwa in der dorischen oder gotischen Zeit? Gibt es jemand, der sich mit Leidenschaft, aber mit Unrecht als Atheisten bezeichnet? Und kann es zivilisierte Menschen geben, die es nicht sind, zum wenigsten nicht ganz?

Daß zum Wesen des Atheismus, wie schon die Wortbildung in sämtlichen Sprachen verrät, die Verneinung gehört, daß er den Verzicht auf eine geistige Verfassung bedeutet, die ihm also voraufgeht, und nicht etwa den schöpferischen Akt einer ungebrochenen Gestaltungskraft, steht fest. Aber was wird da verneint? In welcher Weise? Und von wem?

Ohne Zweifel ist der Atheismus, richtig verstanden, der notwendige Ausdruck eines in sich vollendeten, in seinen religiösen Möglichkeiten erschöpften, dem Anorganischen verfallenden Seelentums. Er verträgt sich sehr wohl mit dem lebhaften und sehnsüchtigen Bedürfnis nach echter ReligiositätDiagoras, der seiner »gottlosen« Schriften wegen in Athen zum Tode verurteilt wurde, hat tief fromme Dithyramben hinterlassen. Man lese daraufhin Hebbels Tagebücher und seine Briefe an Elise. Er »glaubte nicht an Gott«, aber er betete. – darin aller Romantik verwandt, die ebenfalls etwas unwiderruflich Verlornes, die Kultur nämlich, wieder heraufrufen möchte –, und er kann seinem Träger sehr wohl unbewußt sein, eine Gestalt seines Fühlens, die nie in die Konventionen seines Denkens eingreift, die seiner Überzeugung sogar widerspricht. Man begreift das, wenn man einsieht, weshalb der fromme Haydn Beethoven einen Atheisten nannte, nachdem er Musik von ihm gehört hatte. Der Atheismus gehört zum Menschen noch nicht der Aufklärung, aber der beginnenden Zivilisation. Er gehört zur großen Stadt; er gehört zum »Gebildeten« der großen Städte, der sich mechanisch aneignet, was seine Vorfahren, die Schöpfer seiner Kultur, organisch erlebt haben. Aristoteles ist, vom antiken Gottesgefühl aus, Atheist, ohne es zu wissen. Der hellenistisch-römische Stoizismus ist es so gut wie der Sozialismus und Buddhismus der westeuropäischen und indischen Modernität – oft beim ehrlichsten Gebrauch des Wortes »Gott«.

Bedeutet diese späte und zur »zweiten Religiosität« hinüberleitende Form des Welt gefühls wie des Welt bildes aber die Verneinung des Religiösen in uns, so ist sie in jeder Zivilisation von andrer Struktur. Es gibt keine Religiosität ohne eine ihr allein zugehörige, gegen sie allein gerichtete atheistische Auflehnung. Man erlebt die ringsum sich dehnende Außenwelt auch weiterhin wie einen Kosmos wohlgeordneter Körper, als Welthöhle oder unendlichen, wirkenden Raum, aber man erlebt die heilige Kausalität nicht mehr darin, und man erkennt, wenn man das Bild dieser Welt betrachtet, nur eine profane, im Mechanischen sich erschöpfende Kausalität, oder wünscht und glaubt, daß es so sei.Vgl. Bd. II, S. 935. Es gibt einen antiken, arabischen, abendländischen Atheismus, die untereinander nach Sinn und Gehalt völlig verschieden sind. Nietzsche hat den dynamischen dahin formuliert, daß »Gott tot sei«. Ein antiker Philosoph hätte den statisch-euklidischen damit bezeichnet, daß »die am heiligen Orte weilenden Götter tot sind«. Das eine bedeutet die Entgötterung des unendlichen Raumes, das andre die der unzähligen Dinge. Der tote Raum und die toten Dinge aber sind die »Tatsachen« der Physik. Der Atheist vermag zwischen dem Naturbild der Physik und dem der Religion keinen Unterschied zu erleben. Mit einem richtigen Gefühl unterscheidet der Sprachgebrauch Weisheit und Intelligenz, als frühen und späten, ländlichen und großstädtischen Zustand des Geistes. Intelligenz klingt atheistisch. Niemand würde Heraklit oder Meister Eckart eine Intelligenz nennen, aber Sokrates und Rousseau waren intelligent, nicht »weise«. In dem Wort liegt etwas Wurzelloses. Nur vom Standpunkt des Stoikers und Sozialisten, des typisch irreligiösen Menschen aus ist der Mangel an Intelligenz etwas Verächtliches.

Das Seelische jeder lebendigen Kultur ist religiös, hat Religion, ob es sich dessen bewußt ist oder nicht. Daß es überhaupt da ist, daß es wird, sich entwickelt, sich erfüllt, ist seine Religion. Es steht ihm nicht frei, irreligiös zu sein. Es ist ihm nur möglich, wie im mediceischen Florenz, mit dem Gedanken daran zu spielen. Der Mensch der Weltstädte aber ist irreligiös. Das gehört zu seinem Wesen; das bezeichnet seine historische Erscheinung. Er mag aus der schmerzlichen Empfindung einer inneren Leere und Armut noch so ernstlich religiös sein wollen, er kann es nicht. Alle weltstädtische Religiosität beruht auf Selbsttäuschung. Der Grad von Frömmigkeit, dessen eine Zeit fähig ist, offenbart sich in ihrem Verhältnis zur Toleranz. Man duldet entweder, weil Etwas der Formensprache nach vom Göttlichen redet, so wie man es selbst erlebt, oder man duldet, weil man nichts dergleichen mehr erlebt.

Was man heute antike Toleranz nennt,Vgl. Bd. II, S. 802. ist ein Ausdruck des Gegenteils von Atheismus. Zum Begriff der antiken Religion gehört die Vielzahl der numina und Kulte. Sie sämtlich gelten zu lassen war nicht tolerant, sondern der selbstverständliche Ausdruck antiken Frommseins. Im Gegenteil, wer hier Ausnahmen forderte, erwies sich eben damit als gottlos. Christen und Juden galten als Atheisten, und sie mußten es für jeden sein, dessen Weltbild ein Inbegriff von Einzelkörpern war. Als man in der Kaiserzeit aufhörte, so zu empfinden, war auch das antike Gottgefühl zu Ende. Allerdings aber setzte man Achtung vor der Form des ortsgebundenen Kultus überhaupt voraus, vor den Götterbildern, den Mysterien, den Opfern und Festbräuchen, und wer sie verhöhnte oder entweihte, lernte die Grenzen antiker Duldung kennen. Man denke an den Hermakopidenfrevel in Athen und an die Prozesse wegen Entweihung der eleusinischen Mysterien, das heißt der profanierenden Nachahmung des sinnlichen Elements. Der faustischen Seele aber war das Dogma wesentlich, nicht der sichtbare Kult. Es ist der Gegensatz von Raum und Körper, von Überwindung und Anerkennung des Augenscheins. Gottlos ist für uns die Auflehnung gegen eine Lehre. Hier beginnt der raumhaft-geistige Begriff der Ketzerei. Eine faustische Religion konnte ihrer Natur nach keine Gewissensfreiheit gestatten – das widerspricht ihrer den Raum durchdringenden Dynamik. Darin macht auch das Freidenkertum keine Ausnahme. Auf den Scheiterhaufen folgte die Guillotine, auf das Verbrennen der Bücher ihr Totschweigen, auf die Macht der Predigt die Macht der Presse. Es gibt unter uns keinen Glauben ohne Neigung zur Inquisition in irgendeiner Form. Mit einem zugehörigen Bilde der Elektrodynamik ausgedrückt: Das Kraftfeld einer Überzeugung ordnet alle darin befindlichen Geister seiner Spannung ein. Wer das nicht will, der besitzt keine starke Überzeugung mehr. Er ist, kirchlich gesprochen, gottlos. Gottlos aber war für die Antike eine Verachtung des Kultus – ασέβεια im wörtlichen Sinne – und hier duldete die apollinische Religion keine Freiheit des Verhaltens. Damit war in beiden Fällen eine Grenze derjenigen Toleranz gezogen, welche das Gottgefühl forderte und welche es verbot.

In diesem Punkte nun stand die spätantike Philosophie, die sophistisch-stoische Theorie (nicht die stoische Weltstimmung) dem religiösen Empfinden entgegen, und hier war das Volk von Athen – desselben Athens, das auch noch den »unbekannten Göttern« Altäre baute – von der Unerbittlichkeit der spanischen Inquisition. Man hat nur die Reihe antiker Denker und historischer Persönlichkeiten zu mustern, die der Heilighaltung des Kultus geopfert wurden. Sokrates und Diogoras wurden der Asebeia wegen hingerichtet; Anaxagoras, Protagoras, Aristoteles, Alkibiades konnten sich nur durch Flucht retten. Die Zahl der wegen Kultfrevels Hingerichteten zählt allein in Athen und nur während der Jahrzehnte des Peloponnesischen Krieges nach Hunderten. Nach der Verurteilung des Protagoras wurden seine Schriften von Haus zu Haus gesucht und verbrannt. In Rom beginnen die historisch noch erkennbaren Akte dieser Art mit der 181 vom Senat angeordneten öffentlichen Verbrennung der pythagoräischen »Bücher des Numa«, und von da an folgen ohne Unterbrechung Ausweisungen einzelner Philosophen und ganzer Schulen, späterhin Hinrichtungen und die feierliche Verbrennung von Schriften, die der Religion gefährlich werden konnten. Hierher gehört die Tatsache, daß allein zur Zeit Cäsars die Stätten des Isiskultes von den Konsuln fünfmal zerstört worden sind, und daß Tiberius das Bild der Göttin in den Tiber werfen ließ. Die Verweigerung des Opfers vor dem Bild des Kaisers war unter Strafe gestellt. In allen Fällen handelt es sich um »Atheismus«, wie er sich aus dem antiken Gottgefühl ergab und wie er sich als theoretische oder praktische Mißachtung des sichtbaren Kultes offenbarte. Wer in diesen Dingen nicht das eigne, abendländische Empfinden aus dem Spiele lassen kann, wird nie in das Wesen des hier zugrunde liegenden Weltbildes eindringen. Dichter und Philosophen durften Mythen erfinden und Göttergestalten umbilden, soviel sie wollten. Die dogmatische Deutung des sinnlich Gegebenen stand in jedermanns Belieben. Man konnte die Götter geschichten in Satyrspielen und Komödien verspotten – selbst das griff nicht an ihr euklidisches Dasein –, aber an das Götter bild, den Kultus, die plastische Gestaltung der Götterverehrung durfte nicht gerührt werden. Man mißversteht die feinen Geister der ersten Kaiserzeit, wenn man es als Heuchelei auffaßt, daß sie, ohne irgendeinen Mythos noch ernst zu nehmen, alle Verpflichtungen der Staatskulte, vor allem des allenthalben tief empfundenen Kaiserkultes auf sich nahmen. Umgekehrt stand es dem Dichter und Denker der gereiften faustischen Kultur frei, »nicht zur Kirche zu gehen«, die Beichte zu meiden, bei Prozessionen daheim zu bleiben, in protestantischer Umgebung ohne alle Verbindung mit kirchlichen Bräuchen zu leben, nicht aber, an dogmatische Einzelheiten zu rühren. Das war innerhalb aller Konfessionen und Sekten (das Freidenkertum nochmals ausdrücklich einbegriffen) gefährlich. Das Beispiel des stoischen Römers, der ohne Glauben an die Mythologie die sakralen Formen pietätvoll beobachtet, findet sein Gegenstück an Menschen der Aufklärungszeit wie Lessing und Goethe, die, ohne die kirchlichen Gebräuche zu erfüllen, doch niemals an den »Grundwahrheiten des Glaubens« zweifeln.


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