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Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte physiognomischer Art zur Idee einer allumfassenden Symbolik. Die Geschichtsforschung in dem hier geforderten Sinne hat nur das Bild des einst Lebendigen und nun Vergangenen zu prüfen und dessen innere Form und Logik festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte, bis zu dem sie vordringen kann. Indessen diese Forschung, so neu und umfassend sie in der hier angegebenen Richtung ist, kann dennoch nur Fragment und Grundlage einer noch umfassenderen Betrachtung sein. Ihr zur Seite steht eine Naturforschung, ebenso fragmentarisch und eingeschränkt in ihrem kausalen Beziehungskreise. Aber weder die tragische noch die technische »Bewegung« – wenn man so sagen darf, um die Untergründe von Erlebtem und Erkanntem zu unterscheiden – erschöpfen das Lebendige selbst. Wir erleben und erkennen, solange wir wach sind, aber wir leben auch, wenn Geist und Sinne schlafen. Mag die Nacht alle Augen schließen, das Blut schläft nicht. Wir sind bewegt im Bewegten – so suchen wir das Unaussprechliche, wovon wir in tiefen Stunden eine innere Gewißheit besitzen, durch ein Grundwort des Naturerkennens anschaulich zu machen; aber für wachende Wesen erscheint das Hier und Dort als unaufhebbares Zweierlei. Jede eigne Regung besitzt Ausdruck, jede fremde macht Eindruck, und so hat alles, dessen wir uns bewußt sind, in welcher Gestalt auch immer, als Seele und Welt, Leben und Wirklichkeit, Geschichte und Natur, Gesetz, Gefühl, Schicksal, Gott, Zukunft und Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit, für uns noch einen tiefsten Sinn, und das einzige und äußerste Mittel, dieses Unfaßliche faßlich zu machen, liegt in einer Art von Metaphysik, für die alles, es sei, was es wolle, die Bedeutung eines Symbols besitzt.
Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann. Ein dorisches, früharabisches, frühromanisches Ornament, die Gestalt des Bauernhauses, der Familie, des Verkehrs, Trachten und Kulthandlungen, aber auch Antlitz, Gang und Haltung eines Menschen, ganzer Stände und Völker, die Spracharten und Siedlungsformen aller Menschen und Tiere und darüber hinaus die gesamte stumme Sprache der Natur mit ihren Wäldern, Triften, Herden, Wolken, Sternen, mit Mondnächten und Gewittern, Blühen und Welken, Nähe und Ferne ist sinnbildlicher Eindruck des Kosmischen auf uns, die wir wach sind und in Stunden der Einkehr diese Sprache wohl vernehmen; und anderseits ist es das Gefühl eines gleichartigen Verstehens, das Familien, Stände, Stämme und endlich ganze Kulturen aus dem allgemeinen Menschentum heraushebt und zusammenschließt.
Es wird hier also nicht davon die Rede sein, was eine Welt »ist«, sondern was sie dem lebendigen Wesen bedeutet, das von ihr umgeben ist. Mit dem Erwachen zerdehnt sich für uns etwas zwischen einem Hier und einem Dort. Das Hier leben, das Dort erleben wir, jenes als eigen, dieses als fremd. Es ist die Entzweiung zwischen Seele und Welt als den Polen der Wirklichkeit, und in dieser gibt es nicht nur Widerstände, die wir als Dinge und Eigenschaften kausal erfassen, und Regungen, in denen wir Wesen, Numina »ganz wie wir selbst« wirken fühlen, sondern auch noch etwas, das die Entzweiung gleichsam aufhebt. Die Wirklichkeit – die Welt in bezug auf eine Seele – ist für jeden einzelnen die Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist das Eigne, das sich am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso schöpferischen als unbewußten Akt – nicht »ich« verwirkliche das Mögliche, sondern »es« verwirklicht sich durch mich – wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente » die« Welt, die man begreift, für jeden einzelnen » die« einzige.
Und deshalb gibt es so viele Welten, als es wache Wesen und im gefühlten Einklang lebende Scharen von Wesen gibt, und im Dasein jedes von ihnen ist die vermeintlich einzige, selbständige und ewige Welt – die jeder mit dem andern gemein zu haben glaubt ein immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis.
Eine Reihe von Graden der Bewußtheit führt von den Uranfängen kindlich-dumpfen Schauens, in denen es noch keine klare Welt für eine Seele und keine ihrer selbst gewisse Seele inmitten einer Welt gibt, zu den höchsten Arten durchgeistigter Zustände, deren nur Menschen ganz reifer Zivilisationen fähig sind. Diese Steigerung ist zugleich eine Entwicklung der Symbolik vom Bedeutungsgehalt aller Dinge bis zum Hervortreten vereinzelter und bestimmter Zeichen. Nicht nur, wenn ich in der Art des Kindes, des Träumers, des Künstlers die Welt voll dunkler Bedeutungen hinnehme; nicht nur, wenn ich wach bin, ohne sie mit der gespannten Aufmerksamkeit des denkenden und tätigen Menschen aufzufassen – ein Zustand, der selbst im Bewußtsein des eigentlichen Denkers und Tatmenschen weit seltener herrscht als man glaubt –, sondern stets und immer, solange von wachem Leben überhaupt die Rede sein kann, verleihe ich dem Außer mir den Gehalt meines ganzen Selbst, von den halb träumerischen Eindrücken der Welthaftigkeit an bis zur starren Welt der kausalen Gesetze und Zahlen, die jene überlagert und bindet. Aber selbst dem reinen Reich der Zahlen fehlt das Symbolische nicht, und gerade ihm entstammen die Zeichen, in welche das grüblerische Denken unaussprechliche Bedeutungen legt: das Dreieck, der Kreis, die Sieben, die Zwölf.
Dies ist die Idee des Makrokosmos, der Wirklichkeit als dem Inbegriff aller Symbole in bezug auf eine Seele. Nichts ist von dieser Eigenschaf t des Bedeutsamen ausgenommen. Alles, was ist, ist auch Symbol. Von der leiblichen Erscheinung an – Antlitz, Gestalt, Haltung von einzelnen, von Ständen, von Völkern –, wo man es immer gewußt hat, bis zu den vermeintlich ewigen und allgemeingültigen Formen der Erkenntnis, Mathematik und Physik spricht alles vom Wesen einer bestimmten und keiner andern Seele.
Allein auf der größeren oder geringeren Verwandtschaft der einzelnen Welten untereinander, soweit sie von Menschen einer Kultur oder seelischen Gemeinschaft erlebt werden, beruht die größere oder geringere Mitteilbarkeit des Geschauten, Empfundenen, Erkannten, das heißt des im Stil des eignen Seins Gestalteten durch die Ausdrucksmittel der Sprache, Kunst und Religion, durch Wortklänge, Formeln, Zeichen, die ihrerseits selbst Symbole sind. Zugleich erscheint hier die unverrückbare Grenze, fremden Wesen wirklich etwas mitzuteilen oder deren Lebensäußerungen wirklich zu verstehen. Der Verwandtschaftsgrad der beiderseitigen Formenwelten entscheidet darüber, wo das Begreifen in Selbsttäuschung übergeht. Wir können die indische und ägyptische Seele – offenbart in ihren Menschen, Sitten, Gottheiten, Urworten, Ideen, Bauten, Taten – sicherlich nur sehr unvollkommen verstehen. Den Griechen, ahistorisch wie sie waren, war auch die geringste Ahnung vom Wesen fremden Seelentums versagt. Man sehe, mit welcher Naivität sie in den Göttern und Kulturen aller fremden Völker ihre eignen wiederfanden. Aber auch wir unterlegen, wenn wir bei fremden Philosophen die Worte αρχη atman, tao mit uns geläufigen Wendungen übersetzen, dem fremden Seelenausdruck das eigne Weltgefühl, aus dem doch die Bedeutung unsrer Worte stammt. Ebenso deuten wir die Züge altägyptischer und chinesischer Bildnisse aus abendländischer Lebenserfahrung. In beiden Fällen täuschen wir uns. Daß die Meisterwerke der Kunst alter Kulturen für uns noch lebendig – »unsterblich« also – seien, gehört ebenfalls in den Kreis dieser »Ein-bildungen« im wörtlichen Sinne, die durch die Einmütigkeit des Andersverstehens aufrecht erhalten werden. Darauf beruht zum Beispiel die Wirkung der Laokoongruppe auf die Kunst der Renaissance und die der Dramen Senecas auf das klassizistische Drama der Franzosen.