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Reden wir ohne weiteres von einer materialistischen und einer ideologischen Art, die Antike zu sehen. Dort erklärt man, daß das Sinken der einen Waagschale seine Ursache im Steigen der andern hat. Man beweist, daß dies ohne Ausnahme der Fall ist – zweifellos ein schlagender Beweis. Hier haben wir also Ursache und Wirkung, und zwar stellen – selbstverständlich – die sozialen und sexuellen, allenfalls die rein politischen Tatsachen die Ursachen, die religiösen, geistigen, künstlerischen die Wirkungen dar (soweit der Materialist für die letzteren die Bezeichnung Tatsachen duldet). Die Ideologen beweisen umgekehrt, daß das Steigen der einen Schale aus dem Sinken der anderen folgt, und sie beweisen es mit derselben Exaktheit. Sie versenken sich in Kulte, Mysterien, Bräuche, in die Geheimnisse des Verses und der Linie und würdigen das banausische Alltagsleben, eine peinliche Folge irdischer Unvollkommenheit, kaum eines Seitenblicks. Beide beweisen, die Kausalreihe deutlich vor Augen, daß die andern den wahren Zusammenhang der Dinge offenbar nicht sehen oder sehen wollen, und enden damit, daß sie einander blind, flach, dumm, absurd oder frivol, kuriose Käuze oder platte Philister schelten. Der Ideologe ist entsetzt, wenn jemand Finanzprobleme unter Hellenen ernst nimmt und z. B. statt von den tiefsinnigen Sprüchen des delphischen Orakels von den weitreichenden Geldoperationen redet, welche die Orakelpriester mit den dort niedergelegten Schätzen vornahmen. Der Politikus aber lächelt weise über den, der seine Begeisterung an sakrale Formeln und die Tracht attischer Epheben verschwendet, statt über antike Klassenkämpfe ein mit vielen modernen Schlagworten gespicktes Buch zu schreiben.
Der eine Typus ist schon in Petrarca vorgebildet. Er hat Florenz und Weimar, den Begriff der Renaissance und den abendländischen Klassizismus geschaffen. Den andern findet man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, mit dem Beginn einer zivilisierten, wirtschaftlich-großstädtischen Politik, also zuerst in England (Grote). Im Grunde stehen sich hier die Auffassungen des kultivierten und des zivilisierten Menschen gegenüber, ein Gegensatz, der zu tief, zu menschlich ist, um die Schwäche beider Standpunkte empfinden zu lassen oder gar zu überwinden.
Auch der Materialismus verfährt in diesem Punkte idealistisch. Auch er hat, ohne es zu wissen und zu wollen, seine Einsichten von seinen Wünschen abhängig gemacht. In der Tat haben sich unsere besten Geister ohne Ausnahme vor dem Bilde der Antike in Ehrfurcht gebeugt und in diesem einzigen Falle der schrankenlosen Kritik entsagt. Die Untersuchung des Altertums ist immer durch eine gewisse, fast religiöse Scheu in ihrer Freiheit und Stärke gehemmt und in ihren Ergebnissen verdunkelt worden. Es gibt in der gesamten Geschichte kein zweites Beispiel für einen so leidenschaftlichen Kultus, den eine Kultur mit dem Gedächtnis einer andern treibt. Daß wir Altertum und Neuzeit durch ein »Mittelalter« idealisch verknüpften, über ein Jahrtausend gering gewerteter, fast verachteter Historie hinweg, ist seit der Renaissance auch ein Ausdruck dieser Devotion. Wir Westeuropäer haben »den Alten« die Reinheit und Selbständigkeit unserer Kunst zum Opfer gebracht, indem wir nur mit einem Seitenblick auf das »hehre Vorbild« zu schaffen wagten; wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern jedesmal das hineingelegt, hineingefühlt, was wir in der Tiefe der eigenen Seele entbehrten oder erhofften. Eines Tages wird uns ein geistreicher Psychologe die Geschichte dieser verhängnisvollsten Illusion, die Geschichte dessen erzählen, was wir seit den Tagen der Gotik jedesmal als antik verehrt haben. Es gibt wenige Aufgaben, die für das innerliche Verstehen der abendländischen Seele von Kaiser Otto III., dem ersten, bis zu Nietzsche, dem letzten Opfer des Südens, lehrreicher wären.
Goethe redet auf seiner italienischen Reise mit Begeisterung von den Bauten Palladios, deren frostiger Akademik wir heute sehr skeptisch gegenüberstehen. Er sieht dann Pompeji und spricht mit unverhohlenem Mißvergnügen von dem »wunderlichen, halb unangenehmen Eindruck«. Was er von den Tempeln von Pästum und Segesta, Meisterstücken hellenischer Kunst, sagt, ist verlegen und unbedeutend. Offenbar hat er das Altertum, als es ihm einmal leibhaft in seiner vollen Kraft entgegentrat, nicht wiedererkannt. Aber so erging es allen andern. Sie hüteten sich, manches Antike zu sehen, und so haben sie ihr inneres Bild gerettet. Ihr »Altertum« war jederzeit der Hintergrund für ein Lebensideal, das sie selbst geschaffen und mit ihrem besten Blute genährt hatten, ein Gefäß für das eigne Weltgefühl, ein Phantom, ein Idol. Man begeistert sich in Denkerstuben und poetischen Zirkeln an den verwegenen Schilderungen antiken Großstadttreibens bei Aristophanes, Juvenal und Petronius, an südlichem Schmutz und Pöbel, Lärm und Gewalttat, Lustknaben und Phrynen, am Phalluskult und cäsarischen Orgien – aber demselben Stück Wirklichkeit in heutigen Weltstädten geht man klagend und naserümpfend aus dem Wege. »In den Städten ist schlecht zu leben: da gibt es zu viele der Brünstigen.« Also sprach Zarathustra. Sie rühmen die Staatsgesinnung der Römer und verachten den, der heute nicht jede Berührung mit öffentlichen Angelegenheiten meidet. Es gibt eine Klasse von Kennern, für welche der Unterschied von Toga und Gehrock, von byzantinischem Zirkus und englischem Sportplatz, von antiken Alpenstraßen und transkontinentalen Eisenbahnen, Trieren und Schnelldampfern, römischen Lanzen und preußischen Bajonetten, zuletzt sogar vom Suezkanal, je nachdem ihn ein Pharao oder ein moderner Ingenieur gebaut hat, eine magische Gewalt besitzt, die den freien Blick mit Sicherheit einschläfert. Sie würden eine Dampfmaschine als Symbol menschlicher Leidenschaft und Ausdruck geistiger Energie erst dann gelten lassen, wenn Heron von Alexandria sie erfunden hätte. Es gilt ihnen als Blasphemie, wenn man statt vom Kult der Großen Mutter vom Berge Pessinus von römischer Zentralheizung und Buchführung spricht.
Aber die andern sehen nichts als dies. Sie glauben das Wesen dieser uns so fremden Kultur zu erschöpfen, indem sie die Griechen ohne weiteres als ihresgleichen behandeln, und sie bewegen sich, wenn sie Schlüsse ziehen, in einem System von Gleichsetzungen, das die antike Seele überhaupt nicht berührt. Sie ahnen gar nicht, daß Worte wie Republik, Freiheit, Eigentum dort und hier Dinge bezeichnen, die innerlich auch nicht die leiseste Verwandtschaft besitzen. Sie spötteln über Historiker der Goethezeit, die ihre politischen Ideale treuherzig ausdrücken, indem sie eine Geschichte des Altertums verfassen und mit den Namen Lykurg, Brutus, Cato, Cicero, Augustus, durch deren Rettungen oder Verurteilungen eine persönliche Schwärmerei enthüllen, aber sie selbst können kein Kapitel schreiben, ohne zu verraten, welcher Parteirichtung ihre Morgenzeitung angehört. Aber es ist gleichviel, ob man die Vergangenheit mit den Augen Don Quijotes oder Sancho Pansas betrachtet. Beide Wege führen nicht zum Ziel. Schließlich hat sich jeder von ihnen erlaubt, das Stück der Antike in den Vordergrund zu stellen, das den eigenen Absichten zufällig am besten entsprach, Nietzsche das vorsokratische Athen, Nationalökonomen die hellenistische Periode, Politiker das republikanische Rom und Dichter die Kaiserzeit.
Nicht als ob religiöse oder künstlerische Erscheinungen ursprünglicher wären als soziale und wirtschaftliche. Es ist weder so noch umgekehrt. Es gibt für den, der hier die unbedingte Freiheit des Blickes erworben hat, jenseits aller persönlichen Interessen welcher Art auch immer, überhaupt keine Abhängigkeit, keine Priorität, kein Verhältnis von Ursache und Wirkung, keinen Unterschied des Wertes und der Wichtigkeit. Was den einzelnen Tatsachen ihren Rang gibt, ist lediglich die größere oder geringere Reinheit und Kraft ihrer Formensprache, die Stärke ihrer Symbolik – jenseits von gut und böse, hoch und niedrig, Nutzen und Ideal.