Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Der Poseidontempel von Pästum und das Ulmer Münster, Werke der reifsten Dorik und Gotik, unterscheiden sich wie die euklidische Geometrie der körperlichen Grenzflächen und die analytische Geometrie der Lage von Raumpunkten in bezug auf die Raumachsen. Alle antike Baukunst beginnt außen, alle abendländische innen. Auch die arabische beginnt im Innern, aber sie hält sich auch dort. Einzig und allein die faustische Seele bedurfte eines Stils, der durch die Mauern in den grenzenlosen Weltraum dringt und Innen- wie Außenseite zu entsprechenden Bildern ein und desselben Weltgefühls macht. Basilika und Kuppelbau können draußen architektonisch verziert sein, aber sie sind dort nicht Architektur. Was man sieht, wenn man sich ihnen nähert, wirkt wie schützend und ein Geheimnis verdeckend. Die Formensprache in der höhlenhaften Dämmerung ist nur für die Gemeinde da, und darin besteht die Verwandtschaft zwischen den höchsten Beispielen dieses Stils und den einfachsten Mithräen und Katakomben. Das war der erste starke Ausdruck einer neuen Seele. Sobald der germanische Geist diesen basilikalen Typus in Besitz nimmt, beginnt eine wunderbare Veränderung aller Bauelemente nach Lage und Sinn. Hier im faustischen Norden bezieht sich von nun an die äußere Gestalt des Bauwerkes, und zwar vom Dom bis zum schlichten Wohnhause, auf den Sinn, in welchem die Gliederung des Innenraumes erfolgt ist. Die Moschee verschweigt sie, der Tempel kennt sie nicht. Der faustische Bau hat ein »Gesicht«, nicht nur eine Fassade – dagegen ist die Frontseite eines Peripteros eben nur eine Seite, und der Zentralkuppelbau besitzt der Idee nach nicht einmal eine Front –, und zum Gesicht, zum Haupt gesellt sich ein gegliederter Rumpf, der durch die weite Ebene zieht wie der Dom von Speyer oder sich zum Himmel aufreckt wie der von Reims mit den zahllosen Turmspitzen des ursprünglichen Entwurfs. Das Motiv der Fassade, die den Betrachter anblickt und vom inneren Sinn des Hauses zu ihm redet, beherrscht nicht nur unsre großen Einzelbauten, sondern das gesamte fensterreiche Bild unsrer Straßen, Plätze und Städte.Vgl. Bd. II, S. 666. Ähnlich mögen die altägyptischen Straßenbilder gewesen sein, wenn man aus den in Knossos gefundenen Haustäfelchen schließen darf (H. Bossert, Alt-Kreta (1921), T. 14), und der Pylon ist ja eine echte Fassade.

Die frühe große Architektur ist die Mutter aller folgenden Künste. Sie bestimmt ihre Auswahl und ihren Geist. Deshalb ist die Geschichte der antiken bildenden Kunst die unablässige Arbeit an der Vollendung eines einzigen Ideals gewesen, der Eroberung des freistehenden menschlichen Körpers als dem Inbegriff der reinen, dinglichen Gegenwart. Man baute an dem Tempel des nackten Leibes, wie die faustische Musik vom frühesten Kontrapunkt bis zum Instrumentalsatz des 18. Jahrhunderts immer wieder einen Dom von Stimmen errichtet hat. Man hat das Pathos dieser durch Jahrhunderte verfolgten apollinischen Tendenz gar nicht verstanden, denn man hat nie gefühlt, daß es der rein stoffliche, seelenlose Körper ist – der Tempel auch des Leibes hat kein »Innen«! –, auf den das archaische Relief, die korinthische Tonmalerei und das attische Fresko zielen, bis Polyklet und Phidias ihn vollkommen zu bewältigen gelehrt haben. Man hielt mit einer erstaunlichen Blindheit diese Art von Plastik für eine allgemein gültige und überall mögliche, für die Plastik schlechthin, und schrieb ihre Geschichte und Theorie, in der alle Völker und Zeiten aufgeführt wurden; und unsre Bildhauer reden unter dem Eindruck ungeprüft hingenommener Renaissancelehren noch heute davon, daß der nackte menschliche Körper der vornehmste und eigentlichste Gegenstand »der« bildenden Kunst sei. In Wahrheit hat es diese den nackten Leib frei auf die Ebene stellende und allseitig durchbildende Statuenkunst nur einmal gegeben, eben in der Antike, und nur dort, weil es nur diese eine Kultur mit einer vollkommenen Ablehnung der Überschreitung sinnlicher Grenzen zugunsten des Raumes gab. Die ägyptische Statue war immer auf die Vorderansicht hin gearbeitet, mithin eine Abart des Flachreliefs, und die scheinbar antik empfundenen Statuen der Renaissance – man ist über ihre geringe Zahl erstaunt, sobald man einmal daran denkt, sie nachzuzählenGhiberti und selbst Donatello sind der Gotik noch nicht entwachsen; Michelangelo empfindet schon barock, d. h. musikalisch. – sind nichts als eine halbgotische Reminiszenz.

Die Entwicklung dieser unerbittlich raumlosen Kunst füllt die drei Jahrhunderte von 650-350, von der Vollendung der Dorik, die gleichzeitig mit dem Beginn einer Tendenz auf Befreiung der Figur von der frontalen ägyptischen Gebundenheit erfolgte – die Reihe der »Apollofiguren«Déonna, Les Apollons archaïques (1909). veranschaulicht das Ringen um die Stellung des Problems – bis zum Anbruch des Hellenismus und seiner Illusionsmalerei, die den großen Stil abschließt. Man wird diese Plastik nie würdigen können, wenn man sie nicht als letzte und höchste antike, aus einer Flächenkunst hervorgegangene, der Freskomalerei erst gehorchende und dann sie überwindende Kunst begreift. Gewiß läßt sich der technische Ursprung aus Versuchen herleiten, die hocharchaische Säule oder die zur Verkleidung der Tempelwand dienenden Platten figürlich zu behandeln;Woermann, Gesch. der Kunst I (1915), S. 236. Für jenes dient die Hera des Cheramyes als Beispiel und die stets vorhandene Neigung, die Säulen in Karyatiden zu verwandeln; für dieses die Artemis des Nikander mit ihrer Beziehung zur ältesten Technik der Metopen. und nachgeahmt hat man hier und da ägyptische Werke (Sitzbilder vom Didymaion bei Milet) obwohl sehr wenige griechische Künstler je eines gesehen haben können. Als Formideal aber geht die Statue auf dem Wege über das Relief aus der archaischen Tonmalerei hervor, aus der sich auch das Fresko entwickelt hat. Beide haften an der körperlichen Wand. Man kann diese Plastik bis auf Myron herab als ein von der Fläche gelöstes Relief betrachten. Die Figur wird endlich als Körper für sich neben dem Baukörper behandelt, aber sie bleibt Silhouette vor einer Wand.Die meisten Werke sind Giebelgruppen oder Metopen, aber auch die Apollofiguren und die »Mädchen« von der Akropolis können nicht frei gestanden haben. Unter Ausschluß der Tiefenrichtung wird sie frontal vor dem Betrachter ausgebreitet, und noch der Marsyas des Myron läßt sich ohne Mühe und ohne nennenswerte Verkürzungen auf Vasen und Münzen abbilden.A. v. Salis, Kunst der Griechen (1919), S. 47, 98 f. Deshalb hat von den beiden Spätkünsten großen Stils seit 650 das Fresko unbedingt die Führung. Der geringe Typenschatz ist immer zuerst durch Vasenbilder belegt, denen oft sehr viel spätere Skulpturen genau entsprechen. Wir wissen, daß die Kentaurengruppe des Westgiebels in Olympia nach einem Gemälde entworfen ist. Am Tempel von Ägina bedeutet die Entwicklung vom West- zum Ostgiebel einen Schritt vom Freskenhaften dem Körperhaften zu. Mit Polyklet vollzieht sich um 460 die Wendung, und von nun an werden plastische Gruppen umgekehrt vorbildlich für die strenge Malerei. Die allseitige körperliche Durchbildung wird aber erst von Lysipp ganz veristisch, als »Tatsache« durchgeführt. Bis dahin, sogar noch bei Praxiteles, findet sich ein seitliches Entfalten mit scharfem Umriß, der nur von ein oder zwei Standorten aus zur Geltung kommt.

Ein bleibendes Zeugnis für die Herkunft der freien Plastik aus der Malerei ist die polychrome Behandlung des Marmors – von welcher Renaissance und Klassizismus nichts wußten und die sie als barbarisch empfunden haben würdenGerade die entschiedene Vorliebe für den weißen Stein ist für den Gegensatz von antikem und Renaissance-Empfinden bezeichnend. –, und ebenso die Statuen aus Gold und Elfenbein und die Emailverzierungen der im natürlichen Goldton leuchtenden Bronzen.


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