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Ich fasse jetzt den Gegensatz von apollinischem und faustischem Menschheitsideal zusammen. Akt und Porträt verhalten sich wie Körper und Raum, wie Augenblick und Geschichte, Vordergrund und Tiefe, wie die euklidische zur analytischen Zahl, wie Maß und Beziehung. Die Statue wurzelt im Boden, die Musik – und das abendländische Porträt ist Musik, aus Farbentönen gewebte Seele – durchdringt den grenzenlosen Raum. Das Freskogemälde ist mit der Wand verbunden, verwachsen; das Ölgemälde, als Tafelbild, ist frei von den Schranken eines Ortes. Die apollinische Formensprache offenbart ein Gewordnes, die faustische vor allem auch ein Werden.
Deshalb zählt die abendländische Kunst Kinderporträts und Familienbildnisse zu ihren besten und innerlichsten Leistungen. Der attischen Plastik waren diese Motive völlig versagt, und wenn in hellenistischer Zeit der Putto zu einem spielerischen Motiv wird, so geschieht es, weil er einmal etwas anderes, nicht weil er etwas Werdendes ist. Das Kind verknüpft Vergangenheit und Zukunft. Es bezeichnet in jeder menschenbildenden Kunst, die überhaupt Anspruch auf symbolische Bedeutung erhebt, die Dauer im Wechselnden der Erscheinung, die Unendlichkeit des Lebens. Aber das antike Leben erschöpfte sich in der Fülle des Augenblicks und man verschloß das Auge vor zeitlichen Fernen. Man dachte an die Menschen gleichen Blutes, die man neben sich sah, nicht an die kommenden Geschlechter. Und deshalb hat es niemals eine Kunst gegeben, die der vertieften Darstellung von Kindern so entschieden aus dem Wege gegangen ist wie die griechische. Man überdenke die Fülle von Kindergestalten, welche von der frühen Gotik bis zum sterbenden Rokoko und vor allem auch in der Renaissance entstanden sind, und suche demgegenüber auch nur ein antikes Werk von Rang bis auf Alexander herab, das mit Absicht dem ausgebildeten Körper des Mannes oder Weibes den kindlichen zur Seite stellt, dessen Dasein noch in der Zukunft liegt.
In der Idee des Muttertums ist das unendliche Werden begriffen. Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal. Wie der mystische Akt des Tiefenerlebnisses aus dem Sinnlichen das Ausgedehnte und also die Welt bildet, so entsteht durch die Mutterschaft der leibliche Mensch als einzelnes Glied dieser Welt, in der er nun ein Schicksal hat. Alle Symbole der Zeit und Ferne sind auch Symbole des Muttertums. Die Sorge ist das Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich. Sie spricht sich in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat aus und in dem Prinzip der Erblichkeit, das beiden zugrunde liegt. Man kann sie bejahen oder verneinen; man kann sorgenvoll leben oder sorglos. Und man kann also auch die Zeit im Zeichen der Ewigkeit auffassen oder in dem des Augenblicks, und deshalb das Schauspiel der Zeugung und Geburt oder das der Mutter mit dem Kinde an der Brust als Symbole des Lebens im Raume durch alle Mittel der Kunst versinnlichen. Das erste haben Indien und die Antike, das letzte Ägypten und das Abendland getan.Vgl. Bd. I, S. 177, Bd. II, S. 912. Phallus und Lingam haben etwas rein Gegenwärtiges, Beziehungsloses, und etwas davon liegt auch in der Erscheinung der dorischen Säule wie der attischen Statue. Die stillende Mutter verweist in die Zukunft und sie ist es, welche der antiken Kunst vollkommen fehlt. Man möchte sie nicht einmal im Stil des Phidias gebildet sehen. Man fühlt, daß diese Form dem Sinn der Erscheinung widerspricht.
In der religiösen Kunst des Abendlandes gab es keine erhabnere Aufgabe. Mit der anbrechenden Gotik wird die Maria Theotokos der byzantinischen Mosaiken zur Mater dolorosa, zur Mutter Gottes, zur Mutter überhaupt. Im germanischen Mythos erscheint sie, ohne Zweifel erst seit der Karolingerzeit, als Frigga und Frau Holle. Wir finden das gleiche Gefühl in schönen Wendungen der Minnesänger wie Frau Sonne, Frau Weite, Frau Minne ausgedrückt. Etwas Mütterliches, Sorgendes, Duldendes durchzieht das ganze Weltbild der frühgotischen Menschheit, und als das germanisch-katholische Christentum zum vollen Bewußtsein seiner selbst herangereift war, in der endgültigen Fassung der Sakramente und gleichzeitig des gotischen Stils, da hat es nicht den leidenden Erlöser, sondern die leidende Mutter in die Mitte seines Weltbildes gestellt. Um 1250 wird in dem großen Statuenepos der Kathedrale von Reims der herrschende Platz an der Mitte des Hauptportals, den in Paris und Amiens noch Christus erhalten hatte, der Madonna eingeräumt, und um dieselbe Zeit beginnt die toskanische Schule zu Arezzo und Siena (Guido da Siena), in den byzantinischen Bildtypus der Theotokos den Ausdruck mütterlicher Liebe zu legen. Die Madonnen Raffaels leiten dann zu dem weltlichen Typus des Barock hinüber, der mütterlichen Geliebten, zu Ophelia und Gretchen, deren Geheimnis sich in der Verklärung am Schlusse des zweiten Faust, in der Verschmelzung mit der frühgotischen Maria erschließt.
Ihr stellte die hellenische Einbildungskraft Göttinnen gegenüber, die Amazonen – wie Athene – oder Hetären – wie Aphrodite – waren. Das ist der antike Typus vollkommener Weiblichkeit, aus dem Grundgefühl pflanzenhafter Fruchtbarkeit erwachsen. Auch hier erschöpft das Wort soma den ganzen Sinn der Erscheinung. Man denke an das Meisterwerk dieser Art, die drei mächtigen Frauenkörper im Ostgiebel des Parthenon, und vergleiche damit das erhabenste Bildnis einer Mutter, die sixtinische Madonna Raffaels. In ihr ist nichts Körperhaftes mehr. Sie ist ganz Ferne, ganz Raum. Die Helena der Ilias, an der mütterlichen Gefährtin Siegfrieds, Kriemhild, gemessen, ist Hetäre; Antigone und Klytämnestra sind Amazonen. Es ist auffallend, wie selbst Aischylos in der Tragödie seiner Klytämnestra die Tragik der Mutter mit Schweigen übergeht. Und die Gestalt der Medea ist vollends die mythische Umkehrung des faustischen Typus der Mater dolorosa. Nicht um der Zukunft, nicht um der Kinder willen ist sie da; mit dem Geliebten, dem Symbol des Lebens als einer reinen Gegenwart, versinkt ihr alles. Kriemhild rächt ihre ungeborenen Kinder. Diese Zukunft hatte man ihr gemordet. Medea rächt nur ein vergangenes Glück. Als die antike Plastik – eine Spätkunst, denn die orphische FrühzeitVgl. Bd. II, S. 902f. schaute die Götter, aber sah sie nicht – daranging, das Bild der Götter zu verweltlichen,Die Standespoesie Homers, darin der höfischen Erzählungskunst Boccaccios nahe verwandt, hatte allerdings damit begonnen. Daß aber die streng religiösen Kreise im ganzen Verlauf der Antike das als Profanation empfanden, lehrt der bei Homer durchschimmernde bildlose Kult, in noch höherem Grade aber der Zorn aller Denker, die wie Heraklit und Plato den Tempeltraditionen nahestanden. Man wird finden, daß die sehr späte schrankenlose Behandlung auch der höchsten Gottheiten durch die Kunst dem theatralischen Katholizismus von Rossini und Liszt nicht unähnlich ist, der sich leise schon bei Corelli und Händel ankündigt und schon 1564 beinahe zum Verbot der Kirchenmusik geführt hätte. schuf sie eine antik-weibliche Idealgestalt, die – wie die knidische Aphrodite – lediglich ein schöner Gegenstand ist, kein Charakter, kein Ich, sondern ein Stück Natur. Praxiteles hat es deshalb endlich gewagt, eine Göttin völlig nackt darzustellen.
Diese Neuerung fand strengen Tadel, aus dem Gefühl heraus, daß hier ein Zeichen des niedergehenden antiken Weltgefühls erscheine. So sehr sie der erotischen Symbolik entsprach, so sehr widersprach sie der Würde der älteren griechischen Religion. Aber eben jetzt wagt sich auch eine Bildniskunst hervor, und zwar gleich mit der Erfindung einer Form, die seitdem nicht wieder vergessen wurde: der Büste. Nur hat die Kunstforschung den Fehler begangen, auch hier wieder »die« Anfänge »des« Porträts zu entdecken. In Wirklichkeit redet ein gotisches Antlitz von einem individuellen Schicksal, und ein ägyptisches trägt trotz des strengen Schematismus der Figur die kenntlichen Züge einer Einzelperson, weil sie nur dann der höheren Seele des Toten, dem Ka, als Wohnsitz dienen konnte. Hier aber entwickelt sich ein Geschmack an Charakterbildern wie in der gleichzeitigen attischen Komödie, in der auch nur Typen von Menschen und Situationen vorkommen, denen man irgendeinen Namen gibt. Das »Porträt« ist nicht durch persönliche Züge, sondern nur durch den beigeschriebenen Namen gekennzeichnet. Das ist unter Kindern und Urmenschen die allgemeine Sitte und hängt tief mit dem Namenzauber zusammen. Mit dem Namen ist etwas vom Wesen des Genannten in den Gegenstand gebannt, und jeder Betrachter erblickt es nun auch darin. So müssen die Statuen der Tyrannenmörder in Athen, die – etruskischen – Königsstatuen auf dem Kapitol und die »ikonischen« Siegerbildnisse in Olympia gewesen sein: nicht »ähnlich«, sondern benannt. Aber dazu tritt nun das genrehaft-kunstgewerbliche Streben einer Zeit, die auch die korinthische Säule geschaffen hat. Man arbeitet die Typen der Lebensbühne heraus, das ηθοσ, was wir falsch mit Charakter übersetzen, denn es sind Arten und Sitten der öffentlichen Haltung: »der« ernste Feldherr, »der« tragische Dichter, »der« von Leidenschaft verzehrte Redner, »der« ganz in sich versunkene Philosoph. Erst von hier aus versteht man die berühmten Bildnisse des Hellenismus, die sehr mit Unrecht als Ausdruck tiefen Seelenlebens angesprochen werden. Es ist nicht sehr wichtig, ob das Werk den Namen eines längst Gestorbenen trägt – die Sophoklesstatue entstand um 340 – oder den eines Lebenden wie der Perikles des Kresilas. Erst nach 400 ging Demetrios von Alopeke daran, die individuellen Eigentümlichkeiten im Außenbau eines Menschen hervorzuheben, und von seinem Zeitgenossen Lysistratos, dem Bruder des Lysipp, erzählt Plinius, daß er seine Porträts durch einen Gipsabdruck des Gesichts hergestellt habe, der nur leicht nachgearbeitet wurde. Wie wenig das Porträts im Sinne der Kunst Rembrandts sind, hätte nie verkannt werden sollen. Die Seele fehlt. Man hat den glänzenden Verismus namentlich der Römerbüsten mit physiognomischer Tiefe verwechselt. Was die Werke höheren Ranges vor diesen Handwerks- und Virtuosenarbeiten auszeichnet, ist dem Kunstwollen von Marées oder Leibl gerade entgegengesetzt. Das Bedeutende wird nicht herausgeholt, sondern hineingetragen. Ein Beispiel ist die Demosthenesstatue, deren Urheber den Redner vielleicht wirklich gesehen hat. Da sind die Besonderheiten der Oberfläche des Körpers betont, vielleicht übertrieben – das nannte man damals Naturtreue –, aber in diese Anlage ist dann der Charaktertypus des »ernsten Redners« hineingearbeitet worden, wie ihn auf andrer »Unterlage« die Bildnisse des Aischines und Lysias in Neapel zeigen. Das ist Lebenswahrheit, aber wie sie der antike Mensch empfand, typisch und unpersönlich. Wir haben das Ergebnis mit unsern Augen gesehen und deshalb mißverstanden.