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Der alltägliche Mensch sämtlicher Kulturen bemerkt von der Physiognomie allen Werdens, seines eignen und dessen der lebendigen Welt rings um sich, nur den unmittelbar greifbaren Vordergrund. Die Summe seiner Erlebnisse, der inneren wie der äußeren, füllt als bloße Reihenfolge von Tatsachen den Lauf seiner Tage. Erst der bedeutende Mensch fühlt hinter dem volkstümlichen Zusammenhang der historisch-bewegten Oberfläche eine tiefe Logik des Werdens, die in der Schicksalsidee hervortritt und die eben jene oberflächlichen bedeutungsarmen Bildungen des Tages als zufällig erscheinen läßt.
Zwischen Schicksal und Zufall scheint zunächst nur ein Gradunterschied an Gehalt zu bestehen. Man empfindet es etwa als Zufall, daß Goethe nach Sesenheim, und als Schicksal, daß er nach Weimar kam. Das eine scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus deutlich, daß die Unterscheidung vom innern Range des Menschen abhängt, der sie trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine Reihe anekdotischer Zufälle erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden, welche symbolische Notwendigkeit in ihm auch noch dem Unbedeutendsten innewohnt. Aber war vielleicht die Entdeckung des heliozentrischen Systems durch Aristarch für die Antike ein belangloser Zufall, die vermeintliche Wiederentdeckung durch Kopernikus dagegen ein Schicksal für die faustische Kultur? War es ein Schicksal, daß Luther im Gegensatz zu Calvin kein Organisator war – und für wen? Für die Lebenseinheit der Protestanten, der Deutschen oder der abendländischen Menschheit überhaupt? Waren Ti. Gracchus und Sulla Zufälle, Cäsar aber ein Schicksal?
Hier bleibt das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück; was Schicksal, was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden Erlebnissen der einzelnen Seele wie derjenigen ganzer Kulturen. Hier schweigt alle gelehrte Erfahrung, jede wissenschaftliche Einsicht, jede Definition; und wer auch nur den Versuch wagt, beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt es gar nicht. Daß kritisches Nachdenken niemals auch nur einen Hauch von Schicksal vermittelt, ist eine innere Gewißheit, ohne welche die Welt des Werdens verschlossen bleibt. Erkennen – urteilend unterscheiden und zwischen Erkanntem – wohlunterschiednen Dingen, Eigenschaften, Lagen – kausale Beziehungen feststellen, ist ein und dasselbe. Wer urteilend an die Geschichte herantritt, wird nur Daten finden. Was aber in der Tiefe webt, sei es Vorsehung oder Verhängnis, das läßt sich am gegenwärtigen Geschehen wie vor dem Bilde des einst Geschehenen nur durchleben, und zwar mit jener erschütternden, wortlosen Gewißheit, welche die echte Tragödie im unkritischen Zuschauer weckt. Schicksal und Zufall bilden jederzeit einen Gegensatz, in den die Seele zu kleiden versucht, was nur Gefühl, nur Erlebnis und Schauen sein kann und was allein durch die innerlichsten Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die zur Einsicht berufen sind. Um dies Urgefühl des lebendigen Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen – Name ist Schall und Rauch –, weiß ich nichts Besseres als eine Strophe von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:
Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt;
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.
An der Oberfläche des »Weltgeschehens herrscht das Unvorhergesehene. Es haftet als Merkmal an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit. Niemand hat beim Auftreten Mohammeds den Sturm des Islam, niemand beim Sturze Robespierres Napoleon vorausgewußt. Daß große Menschen kommen, was sie unternehmen, ob es ihnen glückt – alles das ist unberechenbar; niemand weiß, ob eine mächtig einsetzende Entwicklung sich in großer Linie vollendet wie die des römischen Adels, oder im Verhängnis untergeht wie die der Hohenstaufen und der ganzen Mayakultur, und ebenso steht es, aller Naturwissenschaft zum Trotz, mit den Schicksalen jeder einzelnen Tier- und Pflanzenart innerhalb der Erdgeschichte und weit darüber hinaus mit denen der Erde selbst und aller Sonnensysteme und Milchstraßen. Der unbedeutende Augustus hat Epoche gemacht, der große Tiberius ging wirkungslos vorüber. Und nicht anders erscheint uns das Geschick von Künstlern, Kunstwerken und Kunstformen, von Dogmen und Kulten, Theorien und Erfindungen. Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal erlitt und ein andres zum Schicksal wurde und oft genug für alle Zukunft, so daß jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche dahinschwand, dieses aber Geschichte schuf, das ist mit keinem Darum und Deshalb zu erklären und doch von innerster Notwendigkeit. Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was Augustinus in einem tiefen Augenblick von der Zeit gesagt hatte: Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.
So ist die Idee der Gnade im abendländischen Christentum, der durch den Opfertod Jesu erwirkten Gnade, frei wollen zu dürfen,Vgl. Bd. II, S. 851 f., 918. welche Zufall und Schicksal in der höchsten ethischen Fassung zum Ausdruck bringt. Fügung (Erbsünde) und Gnade – in dieser Polarität, die immer nur Gestalt des Gefühls, des bewegten Lebens, nie Inhalt gelehrter Erfahrung sein kann, hegt das Dasein jedes wirklich bedeutenden Menschen dieser Kultur beschlossen. Sie ist, auch für den Protestanten, auch für den Atheisten, und sei sie noch so gut hinter dem Begriff der naturwissenschaftlichen »Entwicklung« versteckt, der in gerader Linie von ihr abstammt,Der Weg von Calvin zu Darwin ist in der englischen Philosophie leicht nachzuweisen. die Grundlage jeder Beichte, jeder Autobiographie, die, geschrieben oder gemalt, deshalb dem antiken Menschen, dessen Schicksal von andrer Gestalt war, versagt blieb. Sie ist der letzte Sinn der Selbstbildnisse Rembrandts und der Musik von Bach bis Beethoven. Mag man es Fügung, Vorsehung, innere EntwicklungDies gehört zu den ewigen Streitpunkten der abendländischen Kunsttheorie. Die antike, ahistorische, euklidische Seele hat keine »Entwicklung«, die abendländische erschöpft sich in ihr; sie ist »Funktion« in Richtung auf einen Abschluß. Die eine »ist«, die andre »wird«. Mithin setzt alle antike Tragik die Konstanz der Person voraus, alle abendländische deren Variabilität. Erst dies ist »Charakter« in unserm Sinne, eine Gestalt des Seins, die in unablässiger Bewegtheit und unendlichem Beziehungsreichtum besteht. Bei Sophokles adelt die große Geste das Leid, bei Shakespeare adelt die große Gesinnung die Tat. Weil unsre Ästhetik ihre Beispiele ohne Unterschied aus beiden Kulturen nahm, konnte sie das grundlegende Problem nur verfehlen. nennen, was den Lebensläufen aller Menschen des Abendlandes etwas Verwandtes gibt – dem Denken bleibt es unzugänglich. Der »freie Wille« ist eine innere Gewißheit. Aber was man auch wolle oder tue – was wirklich auf alle Entschlüsse erfolgt und aus ihnen folgt, jäh, überraschend, von niemand vorauszusehen, das dient einer tieferen Notwendigkeit und fügt sich für den verstehenden Blick, wenn er über das Bild des längst Vergangenen hinschweift, einer großen Ordnung ein. Und da mag man das Unergründliche als Gnade empfinden, wenn das Schicksal eines Gewollten Erfüllung war. Was haben Innocenz III., Luther, Loyola, Calvin, Jansen, Rousseau, Marx gewollt und was ist im Strom der abendländischen Geschichte daraus geworden? War das Gnade oder Verhängnis? Hier endet jede rationalistische Zergliederung beim Widersinn. Die Prädestinationslehre bei Calvin und Pascal – die beide, aufrichtiger als Luther und Thomas von Aquino, die letzten kausalen Folgerungen augustinischer Dialektik zu ziehen wagten – ist die notwendige Absurdität, zu welcher die verstandesmäßige Verfolgung dieser Geheimnisse führt. Sie gerät aus der schicksalhaften Logik des Weltwerdens in die kausale Logik der Begriffe und Gesetze, aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens in ein mechanisches System von Objekten. Die furchtbaren Seelenkämpfe Pascals sind die eines tiefinnerlichen Menschen, der zugleich geborener Mathematiker war und der die letzten und ernstesten Fragen der Seele gleichzeitig den großen Intuitionen eines inbrünstigen Glaubens und der abstrakten Präzision einer ebenso großen mathematischen Anlage unterwerfen wollte. Dies gab der Schicksalsidee, religiös gesprochen der Vorsehung Gottes, die schematische Form des Kausalitätsprinzips, die kantische Form der Verstandestätigkeit also, denn das bedeutet Prädestination, in der nun allerdings die von aller Kausalität freie, lebendige und nur als innere Gewißheit zu erlebende Gnade wie eine Naturkraft erscheint, die an unwiderrufliche Gesetze gebunden ist und das religiöse Weltbild in einen starren und düsteren Mechanismus verwandelt. Und war es nicht doch wieder ein Schicksal – für sie wie für die Welt –, wenn die englischen Puritaner von dieser Überzeugung erfüllt, nicht einer tatenlosen Ergebung verfielen, sondern der tatenfrohen Gewißheit, daß ihr Wille der Wille Gottes sei?