Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Damit aber ist – darüber täusche sich niemand – die westeuropäische Physik nahe an die Grenzen ihrer inneren Möglichkeiten gelangt. Der letzte Sinn ihrer geschichtlichen Erscheinung war, das faustische Naturgefühl in begriffliche Erkenntnis, die Gestalten eines frühzeitlichen Glaubens in mechanische Formen eines exakten Wissens zu verwandeln. Daß die einstweilen noch gewaltig zunehmende Gewinnung praktischer oder auch nur gelehrter Ergebnisse – beides gehört an sich zur Oberflächengeschichte einer Wissenschaft; zur Tiefe gehört allein die Geschichte ihrer Symbolik und ihres Stils – mit der raschen Zersetzung ihres Wesenskerns nichts zu tun hat, braucht kaum gesagt zu werden. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts erfolgen alle Schritte in der Richtung einer inneren Vollendung, einer wachsenden Reinheit, Schärfe und Fülle des dynamischen Naturbildes; von da an, wo ein Optimum von Deutlichkeit im Theoretischen erreicht ist, beginnen sie plötzlich auflösend zu wirken. Das geschieht nicht absichtlich; das kommt den hohen Intelligenzen der modernen Physik nicht einmal zum Bewußtsein. Darin liegt eine unabwendbare historische Notwendigkeit. Die antike Physik hatte sich in demselben Stadium, um 200 v. Chr., innerlich vollendet. Die Analysis kam mit Gauß, Cauchy und Riemann zum Ziel und füllt heute nur noch die Lücken ihres Gebäudes aus.

Daher erheben sich plötzlich vernichtende Zweifel an Dingen, die noch gestern das unbestrittene Fundament der physikalischen Theorie bildeten, am Sinne des Energieprinzips, am Begriff der Masse, des Raumes, der absoluten Zeit, des kausalen Naturgesetzes überhaupt. Das sind nicht mehr jene schöpferischen Zweifel des frühen Barock, die einem Erkenntnisziel entgegenführen; diese Zweifel gelten der Möglichkeit einer Naturwissenschaft überhaupt. Welche tiefe und von ihren Urhebern offenbar gar nicht gewürdigte Skepsis liegt allein in der rasch zunehmenden Benützung abzählender, statistischer Methoden, die nur eine Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse erstreben und die absolute Exaktheit der Naturgesetze, wie man sie früher hoffnungsvoll verstand, ganz aus dem Spiele lassen!

Wir nähern uns dem Augenblick, wo man die Möglichkeit einer geschlossenen und in sich widerspruchslosen Mechanik endgültig aufgibt. Ich hatte gezeigt, wie jede Physik am Bewegungsproblem scheitern muß, in welchem die lebendige Person des Erkennenden in die anorganische Formenwelt des Erkannten methodisch hereinragt. Aber alle neuesten Hypothesen enthalten diese Verlegenheit in einer nach dreihundertjähriger Denkarbeit erzielten äußersten Zuspitzung, die keine Täuschung mehr zuläßt. Die Gravitationstheorie, seit Newton eine unumstößliche Wahrheit, ist als eine zeitlich beschränkte und schwankende Annahme erkannt worden. Das Prinzip der Erhaltung der Energie hat keinen Sinn, wenn die Energie unendlich in einem unendlichen Raume gedacht wird. Die Annahme des Prinzips läßt sich mit keiner Art von dreidimensionaler Struktur des Weltraums, weder der unendlichen euklidischen, noch (unter den nichteuklidischen Geometrien) der sphärischen mit ihrem unbegrenzten, aber endlichen Volum vereinen. Seine Gültigkeit wird also auf ein »nach außen abgeschlossenes System von Körpern« beschränkt, eine künstliche Begrenzung, die es in Wirklichkeit nicht gibt und nicht geben kann. Aber das Weltgefühl des faustischen Menschen, aus dem diese grundlegende Vorstellung – die Unsterblichkeit der Weltseele, mechanistisch und extensiv umgedacht – hervorging, hatte gerade die symbolische Unendlichkeit ausdrücken wollen. So fühlte man, aber das Erkennen vermochte daraus kein reines System zu gestalten. Es war ferner der Lichtäther ein ideales Postulat der modernen Dynamik, die zu jeder Bewegung die Vorstellung eines Bewegten forderte. Aber jede denkbare Hypothese über die Beschaffenheit des Äthers wurde sofort durch innere Widersprüche widerlegt. Insbesondere hat Lord Kelvin mathematisch nachgewiesen, daß es eine einwandfreie Struktur dieses Lichtträgers nicht geben kann. Da Lichtwellen nach der Interpretation der Versuche Fresnels transversal sind, müßte der Äther ein fester Körper (mit wahrhaft grotesken Eigenschaften) sein, aber in diesem Falle würden die Elastizitätsgesetze für ihn gelten, und die Lichtwellen wären demnach longitudinal. Die Maxwell-Hertzschen Gleichungen der elektromagnetischen Lichttheorie, die in der Tat reine, unbenannte Zahlen von unzweifelhafter Gültigkeit sind, schließen jede Deutung durch irgendeine Mechanik des Äthers aus. Man hat nun den Äther, vor allem unter dem Eindruck von Folgerungen aus der Relativitätstheorie, als das reine Vakuum definiert, was doch nicht viel andres als eine Zerstörung des dynamischen Urbildes bedeutet.

Seit Newton besaß die Annahme einer konstanten Masse – das Gegenstück der konstanten Kraft – unbestrittene Gültigkeit. Die Quantentheorie von Planck und die daraus entwickelten Schlüsse von Niels Bohr auf die Feinstruktur der Atome, welche auf Grund von experimentellen Erfahrungen notwendig geworden waren, haben diese Annahme zerstört. Jedes abgeschlossene System besitzt neben der kinetischen Energie noch die Energie der strahlenden Wärme, die nicht von ihr trennbar und deshalb durch den Begriff der Masse nicht rein darstellbar ist. Denn wird die Masse durch die lebendige Energie definiert, so ist sie im Hinblick auf den thermodynamischen Zustand nicht mehr konstant. Indessen will die Einordnung des elementaren Wirkungsquantums in den Kreis von Annahmen der klassischen Barockdynamik nicht gelingen, und zugleich mit dem Grundsatz der Stetigkeit aller kausalen Zusammenhänge wird das von Newton und Leibniz begründete Fundament der Infinitesimalrechnung bedroht.M. Planck, Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie (1920), S. 17, 25. Aber weit über diese Zweifel hinaus greift die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese von zynischer Rücksichtslosigkeit, in den Kern der Dynamik ein. Auf die Versuche von Michelson gestützt, wonach die Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung des durchdrungenen Körpers unabhängig bleibt, von Lorentz und Minkowski mathematisch vorbereitet, enthält sie als ihre eigentliche Tendenz die Zerstörung des Begriffs der absoluten Zeit. Sie kann, worüber man sich heute bedenklich täuscht, durch astronomische Befunde weder bestätigt noch widerlegt werden. Richtig und falsch sind überhaupt nicht Begriffe, womit man über solche Annahmen zu urteilen hat; es handelt sich darum, ob sie in dem Chaos verwickelter und künstlicher Vorstellungen, das sich durch die zahllosen Hypothesen der radioaktiven und thermodynamischen Forschung herausgebildet hat, sich als brauchbar durchsetzt oder nicht. Aber so, wie sie ist, hat sie die Konstanz aller physikalischen Größen aufgehoben, in deren Definition die Zeit eingegangen ist, und die abendländische Dynamik besitzt im Gegensatz zur antiken Statik nur solche Größen. Absolute Längenmaße und starre Körper gibt es nicht mehr. Damit fällt auch die Möglichkeit absoluter quantitativer Bestimmungen und also der klassische Begriff der Masse als das konstante Verhältnis von Kraft und Beschleunigung – nachdem das elementare Wirkungsquantum, ein Produkt aus Energie und Zeit, soeben als neue Konstante aufgestellt worden war.

Macht man sich klar, daß die Atomvorstellungen von Rutherford und BohrDie vielfach zu der Einbildung geführt haben, die »wirkliche Existenz« von Atomen sei nunmehr bewiesen, ein sonderbarer Rückfall in den Materialismus des vorigen Jahrhunderts. nichts bedeuten, als daß man das zahlenmäßige Ergebnis von Beobachtungen plötzlich mit einem Bilde unterlegt, das eine Planetenwelt im Innern des Atoms darstellt, während man bis jetzt die Vorstellung von Atomschwärmen vorzog; achtet man darauf, wie schnell heute Kartenhäuser aus ganzen Hypothesenreihen aufgeführt werden, so daß man jeden Widerspruch durch eine neue, schnell entworfene Hypothese überdeckt; bedenkt man, wie wenig Sorge man sich um die Tatsache macht, daß diese Bildermengen sich untereinander und dem strengen Bild der Barockdynamik widersprechen, so gelangt man endlich zu der Überzeugung, daß der große Stil des Vorstellens zu Ende ist und wie in Architektur und bildender Kunst einer Art Kunstgewerbe der Hypothesenbildung Platz gemacht hat; nur die äußerste Meisterschaft der experimentellen Technik, die dem Jahrhundert entspricht, vermag den Verfall der Symbolik zu verdecken.


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