Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Und nun erst, mit dem 16. Jahrhundert, geschieht in der abendländischen Malerei die entscheidende Wandlung. Die Vormundschaft der Architektur im Norden, der Skulptur in Italien erlischt. Die Malerei wird polyphon, »malerisch«, ins Unendliche schweifend. Die Farben werden Töne. Die Kunst des Pinsels verschwistert sich mit dem Stil der Kantate und des Madrigals. Die Ölfarbentechnik wird zur Grundlage einer Kunst, die den Raum erobern will, an den die Dinge sich verlieren. Mit Lionardo und Giorgione beginnt der Impressionismus.

Im Gemälde vollzieht sich damit eine Umwertung aller Elemente. Der bis dahin gleichgültig entworfene, als Füllung angesehene, als Raum fast verheimlichte Hintergrund gewinnt entscheidende Bedeutung. Eine Entwicklung setzt ein, die in keiner andern Kultur, auch nicht in der sonst vielfach nahe verwandten chinesischen, ihresgleichen hat: der Hintergrund als Zeichen des Unendlichen überwindet den sinnlich-greifbaren Vordergrund. Es gelingt endlich – das ist der malerische im Gegensatz zum zeichnerischen Stil –, das Tiefenerlebnis der faustischen Seele in die Bildbewegung zu bannen. Das »Raumrelief« Mantegnas mit seinen Flächenschichten löst sich zur Richtungsenergie bei Tintoretto. Der Horizont taucht im Bilde auf als großes Symbol des grenzenlosen Weltraums, der die sichtbaren Einzeldinge als Zufälle in sich begreift. Man hat seine Darstellung im Landschaftsgemälde als so selbstverständlich empfunden, daß man nie die entscheidende Frage gestellt hat, wo überall er fehlt und was dieses Fehlen bedeutet. Man wird aber weder im ägyptischen Relief noch im byzantinischen Mosaik noch auf antiken Vasenbildern und Fresken, nicht einmal denen des Hellenismus mit ihrer Vordergrundsräumlichkeit, eine Andeutung des Horizontes finden. Diese Linie, in deren unwirklichem Duft Himmel und Erde verschwimmen, der Inbegriff und das stärkste Symbol der Ferne, enthält das malerische Infinitesimalprinzip. Von der Ferne des Horizonts strömt die Musik des Bildes aus, und die großen Landschafter Hollands malen deshalb ganz eigentlich nur Hintergründe, nur Atmosphäre, wie umgekehrt »antimusikalische« Meister wie Signorelli und vor allem Mantegna nur Vordergründe – »Reliefs« – gemalt hatten. Im Horizont siegt die Musik über die Plastik, die Leidenschaft der Ausdehnung über ihre Substanz. Man darf sagen, daß es in keinem Gemälde Rembrandts ein »vorn« gibt. Im Norden, in der Heimat des Kontrapunkts, ist ein tiefes Verständnis für den Sinn des Horizontes und hell belichteter Fernen schon früh zu finden, während im Süden der flach abschließende Goldgrund arabisch-byzantinischer Bilder noch lange herrschend bleibt. In den gegen 1416 entstandenen Stundenbüchern des Herzogs von Berry – dem von Chantilly und dem von Turin – und bei frührheinischen Meistern taucht das reine Raumgefühl zuerst auf und erobert sich langsam das Tafelbild.

Denselben symbolischen Sinn haben die Wolken, deren künstlerische Behandlung der Antike gleichfalls völlig versagt war und die von den Malern der Renaissance mit einer gewissen spielerischen Oberflächlichkeit behandelt wurden, während der gotische Norden sehr früh ganz mystische Fernblicke auf und durch Wolkenmassen schafft und die Venezianer, vor allem Giorgione und Paul Veronese, den vollen Zauber der Wolkenwelt, der von schwebenden, ziehenden, geballten, tausendfarbig belichteten Wesen erfüllten Himmelsräume erschlossen und Grünewald wie die Niederländer ihn bis zum Tragischen steigerten. Greco hat die große Kunst der Wolkensymbolik nach Spanien gebracht.

In der ebenfalls damals, zugleich mit der Ölmalerei und dem Kontrapunkt herangereiften Gartenkunst erscheinen dementsprechend die langgestreckten Teiche, Buchengänge, Alleen, Durchblicke, Galerien, um auch im Bilde der freien Natur dieselbe Tendenz zum Ausdruck zu bringen, welche die von den frühen Niederländern als Grundaufgabe ihrer Kunst empfundene und von Brunellesco, Alberti und Piero della Francesca theoretisch behandelte Linearperspektive im Gemälde darstellt. Man wird finden, daß sie als die mathematische Weihe des durch den Rahmen seitlich abgegrenzten und in die Tiefe mächtig gesteigerten Bildraumes – sei er Landschaft oder Interieur – gerade damals mit einer gewissen Absichtlichkeit zum Vortrag gebracht wurde. Das Ursymbol kündigt sich an. Im Unendlichen liegt der Punkt, in dem die perspektivischen Linien zusammentreffen. Weil sie ihn vermied, weil sie die Ferne nicht anerkannte, besaß die antike Malerei keine Perspektive. Folglich ist auch der Park, die bewußte Gestaltung der Natur im Sinne räumlicher Fernwirkung, innerhalb der antiken Künste unmöglich. Es gab in Athen und Rom keine irgendwie bedeutende Gartenkunst. Erst die Kaiserzeit fand an orientalischen Anlagen Geschmack, deren kurze und betonte Abschlüsse jeder Blick auf die erhaltenen Pläne offenbart.Svoboda, Römische und romanische Paläste (1919); Rostowzew, Pompejanische Landschaften und römische Villen (Röm. Mitt. 1904). Der erste Gartentheoretiker des Abendlandes, L. B. Alberti, lehrte denn auch um 1450 schon die Beziehung der Anlage auf das Haus, d. h. auf die Betrachter in ihm, und von seinen Entwürfen bis zu den Parks der Villen Ludovisi und Albani zeigt sich ein immer stärkeres Hervortreten perspektivischer Fernblicke. Frankreich hat dem seit Franz I. die langen Wasserstreifen hinzugefügt (Fontainebleau).

Das bedeutsamste Element im abendländischen Gartenbilde ist mithin der point de vue der großen Rokokoparks, auf den sich ihre Alleen und beschnittenen Laubgänge öffnen und durch den sich der Blick in weite schwindende Fernen verliert. Er fehlt selbst der chinesischen Gartenkunst. Aber er hat ein vollkommenes Gegenstück in gewissen hellen, silbernen »Fernfarben« der pastoralen Musik des beginnenden 18. Jahrhunderts, bei Couperin z. B. Erst der point de vue gibt den Schlüssel zum Verständnis dieser seltsamen menschlichen Art, die Natur der symbolischen Formensprache einer Kunst zu unterwerfen. Die Auflösung endlicher Zahlengebilde in unendliche Reihen ist ein verwandtes Prinzip. Wie hier die Formel des Restgliedes den letzten Sinn der Reihe, so ist es dort der Blick ins Grenzenlose, der dem Auge des faustischen Menschen den Sinn der Natur erschließt. Wir waren es und nicht die Hellenen, nicht die Menschen der Hochrenaissance, welche die unbegrenzten Fernsichten vom Hochgebirge aus schätzten und suchten. Das ist eine faustische Sehnsucht. Man will allein mit dem unendlichen Raume sein. Dies Symbol bis zum Äußersten zu steigern, war die große Tat der nordfranzösischen Gartenbaumeister, nach der epochemachenden Schöpfung Fouquets in Vaux-le-Vicomte vor allem Lenôtres. Man vergleiche den Renaissancepark der mediceischen Zeit mit seiner Übersichtlichkeit, seiner heitren Nähe und Rundung, dem Kommensurablen seiner Linien, Umrisse und Baumgruppen, mit diesem geheimen Zug in die Ferne, der alle Wasserkünste, Statuenreihen, Gebüsche, Labyrinthe bewegt, und man findet in diesem Stück Gartengeschichte das Schicksal der abendländischen Ölmalerei wieder.

Aber Ferne – das ist zugleich eine historische Empfindung. In der Ferne wird der Raum zur Zeit. Der Horizont bedeutet die Zukunft. Der Barockpark ist der Park der späten Jahreszeit, des nahen Endes, der fallenden Blätter. Ein Renaissancepark ist für den Sommer und den Mittag gedacht. Er ist zeitlos. Nichts in seiner Formensprache erinnert an Vergänglichkeit. Erst die Perspektive ruft die Ahnung von etwas Vergehendem, Flüchtigem, Letztem wach.

Schon das Wort »Ferne« hat in der abendländischen Lyrik aller Sprachen einen wehmütig herbstlichen Akzent, den man in der griechischen und lateinischen vergebens sucht. Man findet ihn schon in den ossianischen Gesängen Macphersons, bei Hölderlin, dann in Nietzsches Dionysos-Dithyramben, endlich bei Baudelaire, Verlaine, George und Droem. Die späte Poesie der welkenden Alleen, der endlosen Straßenzüge unserer Weltstädte, der Pfeilerreihen eines Domes, der Gipfel einer fernen Gebirgskette verrät noch einmal, daß das Tiefenerlebnis, das uns den Weltraum schafft, im letzten Grunde die innere Gewißheit eines Schicksals, einer vorbestimmten Richtung, der Zeit, des Unwiderruflichen ist. Hier, im Erlebnis des Horizontes als der Zukunft, tritt die Identität der Zeit mit der »dritten Dimension« des erlebten Raumes, des lebendigen Sichdehnens, unmittelbar zutage. Wir haben zuletzt auch das Straßenbild der großen Städte diesem Schicksalszuge des Versailler Parkes unterworfen und mächtige geradlinige, in der Ferne verschwindende Straßenfluchten angelegt, selbst unter Aufopferung althistorischer Viertel – deren Symbolik jetzt die geringere geworden war –, während antike Weltstädte mit ängstlicher Sorgfalt das Gewirr krummer Gäßchen vorschoben, damit der apollinische Mensch sich in ihnen als Körper unter Körpern fühle.Vgl. Bd. II, S. 672ff. Das praktische Bedürfnis war hier wie immer nur die Maske eines tiefinnerlichen Zwanges.

Der Horizont sammelt von nun an die tiefere Form, die volle metaphysische Bedeutung des Bildes in sich. Der greifbare und durch die Überschrift wiederzugebende Inhalt, der von der Renaissancemalerei betont und anerkannt worden war, wird nun zum Mittel, zum bloßen Träger der mit Worten nicht mehr zu erschöpfenden Bedeutung. Bei Mantegna und Signorelli hätte der gezeichnete Entwurf, auch ohne die farbige Ausführung, als Bild bestehen können. In einzelnen Fällen möchte man wünschen, es wäre bei den Kartons geblieben. In statuenhaften Entwürfen ist die Farbe lediglich eine Zugabe; Tizian aber mußte von Michelangelo den Vorwurf hören, daß er nicht zu zeichnen verstünde. Der »Gegenstand«, eben das, was sich durch Umrißzeichnung festhalten läßt, das Nahe, Stoffliche, hat seine künstlerische Wirklichkeit verloren, und von nun an herrscht in der Kunsttheorie, die unter Eindrücken der Renaissance stehen blieb, jener seltsame, nie endende, Streit um »Form« und »Inhalt« im Kunstwerk. Die Formulierung beruht auf einem Mißverständnis und hat den sehr bedeutenden Sinn der Frage verdeckt. Ob die Malerei plastisch oder musikalisch aufgefaßt werden solle, als Statik von Dingen oder als Dynamik des Raumes – denn darin liegt der tiefere Gegensatz von Fresko- und Öltechnik –, ist das erste, der Gegensatz apollinischen und faustischen Formgefühls das zweite, was zu erwägen war. Umrisse begrenzen Stoffliches, Farbentöne interpretieren Raum.In der antiken Malerei sind Licht und Schatten zuerst von Zeuxis einheitlich angewandt worden, aber nur als Schattierung der Dinge selbst, um die Plastik der gemalten Leiber vom Reliefmäßigen zu befreien, und also ganz ohne die Beziehung des Schattens zur Tageszeit. Dagegen sind schon bei den frühesten Niederländern Licht und Schatten Farbentöne und haften am Atmosphärischen. Aber das eine ist von unmittelbar sinnlicher Natur. Es erzählt. Der Raum ist seinem Wesen nach transzendent. Er spricht zur Einbildungskraft. Für eine Kunst, die unter seiner Symbolik steht, ist die erzählende Seite eine Herabsetzung und Verdunkelung der tieferen Tendenz, und ein Theoretiker, der hier ein geheimes Mißverständnis fühlt, aber nicht begreift, klammert sich an den oberflächlichen Gegensatz von Inhalt und Form. Das Problem ist ein rein abendländisches und es enthüllt in seltener Weise die vollkommene Umkehrung, die sich in der Bedeutung der Bildelemente mit dem Abschluß der Renaissance und der Heraufkunft einer instrumentalen Musik großen Stils vollzogen hat. Die Antike konnte ein Problem wie das von Form und Inhalt in diesem Sinne gar nicht besitzen. Für eine attische Statue ist beides vollkommen identisch: der menschliche Leib. Der Fall der Barockmalerei wird noch verwickelter durch den Widerstreit des volkstümlichen und des höheren Empfindens. Alles Euklidisch-Greifbare ist auch populär, und das »Altertum« mithin die populäre Kunst im eigentlichen Sinne. Die Ahnung davon ist nicht zum wenigsten der unbeschreibliche Reiz, den alles Antike auf faustische Geister ausübt, die ihren Ausdruck erkämpfen, ihn der Welt abringen müssen. Für uns ist der Anblick des antiken Kunstwollens die große Erholung. Hier braucht nichts erobert zu werden. Es gibt sich von selbst. Und etwas Verwandtes hat der antigotische Zug in Florenz wirklich hervorgerufen. Raffael ist in manchen Seiten seines Schaffens populär, Rembrandt kann es nicht sein. Seit Tizian ist die Malerei immer esoterischer geworden, auch die Dichtung, auch die Musik. Die Gotik – Dante, Wolfram – war es von Anfang an gewesen. Die große Menge der Kirchenbesucher war niemals imstande, die Messen Ockeghems, Palestrinas oder gar Bachs zu verstehen. Sie langweilt sich bei Mozart und Beethoven. Sie läßt Musik lediglich auf die Stimmung wirken. In Konzerten und Galerien redet man sich nur Interesse an diesen Dingen ein, seit die Aufklärung die Phrase von der Kunst für alle geprägt hat. Aber eine faustische Kunst ist nicht für alle. Das gehört zu ihrem innersten Wesen. Wenn die neuere Malerei sich nur noch an einen kleinen Kreis von Kennern wendet, der immer enger wird, so entspricht das der Abwendung vom gemeinverständlichen Gegenstande. Damit ist dem »Inhalt« der Eigenwert aberkannt und die eigentliche Wirklichkeit dem Raume zugesprochen, durch den – nach Kant – erst die Dinge sind. Es ist seitdem ein schwer zugängliches metaphysisches Element in die Malerei gekommen, das sich dem Laien nicht preisgibt. Aber bei Phidias würde das Wort Laie keinen Sinn haben. Seine Plastik wendet sich ganz an das leibliche, nicht an das geistige Auge. Eine raumlose Kunst ist a priori unphilosophisch.


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