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Es bleibt noch ein Wort über die Morphologie der Philosophiegeschichte zu sagen.
Es gibt keine Philosophie überhaupt: jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden Kunst. Aus der Höhe und Ferne betrachtet, ist es sehr nebensächlich, zu welchen sprachlich ausgedrückten »Wahrheiten« diese Denker innerhalb ihrer Schulen überhaupt gelangt sind – denn Schule, Konvention und Formenschatz sind hier wie in jeder großen Kunst die grundlegenden Elemente. Unendlich viel wichtiger als die Antworten sind die Fragen, und zwar hinsichtlich ihrer Auswahl und inneren Form, denn die besondere Art, wie ein Makrokosmos vor dem verstehenden Auge des Menschen einer bestimmten Kultur daliegt, gestaltet im voraus die gesamte Not und Art des Fragens.
Die antike und faustische Kultur haben nicht weniger wie die indische und chinesische ihre eigne Art, und zwar werden ihre großen Fragen alle am Anfang gestellt. Es gibt kein modernes Problem, das nicht schon die Gotik gesehen und in Form gebracht hätte. Es gibt kein hellenistisches, das nicht in den altorphischen Tempellehren zuerst aufgetaucht sein muß.
Es ist Nebensache, ob diese Sitte des grüblerischen Denkens in mündlicher Tradition oder in Büchern zum Ausdruck kommt, ob diese Schriften persönliche Schöpfungen eines Ich sind wie in unserer Literatur, oder eine anonyme, beständig schwankende Textmasse wie in der indischen, ob eine Reihe begrifflicher Systeme entsteht oder die letzten Einsichten in den Ausdruck von Kunst und Religion verkleidet bleiben wie in Ägypten. Aber der Gang dieser Lebensläufe von Denkweisen ist überall der gleiche. Am Anfang jeder Frühzeit, verschwistert mit der großen Architektur und Religion, ist Philosophie der geistige Widerhall eines gewaltigen metaphysischen Erlebens und dazu bestimmt, die heilige Kausalität des gläubig geschauten Weltbildes kritisch zu bestätigen.Vgl. Bd. II, S. 881 ff., 927 ff. Nicht nur die naturwissenschaftlichen, sondern schon die philosophischen Grundunterscheidungen sind abhängig und abgelöst von den Elementen der zugehörigen Religion. In dieser Frühzeit sind die Denker Priester, nicht nur dem Geist, sondern selbst dem Stande nach. Das gilt von Scholastik und Mystik der gotischen und vedischen wie der homerischenVgl. Bd. II, S. 903f. Vielleicht ist der seltsame Stil Heraklits, welcher aus einem Priestergeschlecht des Tempels von Ephesus stammte, eine Probe der Form, in welcher die altorphische Weisheit mündlich überliefert wurde. und früharabischen Jahrhunderte.Vgl. Bd. II, S. 864 f. Erst mit Anbruch der Spätzeit wird die Philosophie städtisch und weltlich. Sie befreit sich aus der Dienstbarkeit der Religion und wagt es, diese selbst zum Objekt erkenntniskritischer Methoden zu machen. Denn das große Thema der brahmanischen, ionischen und Barockphilosophie ist das Erkenntnisproblem. Der städtische Geist wendet sich seinem eigenen Bilde zu, um festzustellen, daß es für das Wissen keine höhere Instanz gebe als ihn. Deshalb tritt das Denken nunmehr in die Nachbarschaft der höheren Mathematik, und statt der Priester finden wir Leute von Welt, Staatsmänner, Kaufherren, Entdecker, in hohen Stellungen und großen Aufgaben erprobt, deren »Denken über das Denken« sich auf einer tiefen Lebenserfahrung aufbaut. Das ist die Reihe großer Gestalten von Thales bis Protagoras, von Bacon bis Hume, die Reihe der vorkonfuzianischen und vorbuddhistischen Denker, von denen wir nicht viel mehr wissen, als daß sie dagewesen sind.
An ihrem Ende stehen Kant und Aristoteles.Dies ist die scholastische Seite der Spätzeit; die mystische, welcher Pythagoras und Leibniz nicht fern standen, erreicht ihren Gipfel in Plato und Goethe und hat sich von Goethe über die Romantiker, Hegel und Nietzsche fortgesetzt, während die Scholastik, die ihre Aufgaben erschöpft hatte, jenseits von Kant – und Aristoteles – zu einer Kathederphilosophie mit fachwissenschaftlichem Betrieb herabsinkt. Was nach ihnen beginnt, ist Philosophie der Zivilisation. Es gibt in jeder großen Kultur ein aufsteigendes Denken, das die Urfragen am Anfang stellt und sie mit steigender Gewalt des geistigen Ausdrucks in immer neuen Antworten erschöpft – Antworten, wie gesagt, von ornamentaler Bedeutung –, und ein absteigendes, für das die Erkenntnisprobleme irgendwie fertig, überholt, bedeutungslos geworden sind. Es gibt eine metaphysische Periode, zuerst von religiöser, zuletzt von rationalistischer Fassung, wo das Denken und Leben noch Chaos in sich hat und aus einer Überfülle heraus weltgestaltend wirkt, und eine ethische, in welcher das großstädtisch gewordene Leben sich selbst fragwürdig erscheint und den Rest philosophischer Gestaltungskraft auf seine eigne Haltung und Erhaltung verwenden muß. In der einen offenbart sich das Leben; die zweite hat das Leben zum Gegenstand. Die eine ist »theoretisch«, schauend im großen Sinne, die andre notgedrungen praktisch. Noch das kantische System ist in seinen tiefsten Zügen geschaut und danach erst logisch und systematisch formuliert und geordnet worden.
Ein Beweis ist Kants Verhältnis zur Mathematik. Wer nicht in die Formenwelt der Zahlen eingedrungen ist, wer sie nicht als Symbole in sich erlebt hat, ist kein echter Metaphysiker. In der Tat waren es die großen Denker des Barock, welche die Analysis geschaffen haben, und das Entsprechende gilt von den Vorsokratikern und Plato. Descartes und Leibniz sind neben Newton und Gauß, Pythagoras und Plato neben Archytas und Archimedes Gipfel der mathematischen Entwicklung. Aber schon Kant ist als Mathematiker bedeutungslos. Er ist in die letzten Feinheiten der damaligen Infinitesimalrechnung so wenig eingedrungen, als er Leibnizens Axiomatik sich zu eigen gemacht hat. Darin gleicht er seinem »Zeitgenossen« Aristoteles, und von nun an zählt kein Philosoph in der Mathematik mehr mit. Fichte, Hegel, Schelling und die Romantiker sind völlig unmathematisch, so gut wie Zenon und Epikur. Schopenhauer ist auf diesem Gebiet schwach bis zur Borniertheit, von Nietzsche ganz zu schweigen. Mit der Formenwelt der Zahlen ging eine große Konvention verloren. Seitdem fehlt es nicht nur an einer Tektonik der Systeme, es fehlt auch an dem, was man den großen Stil des Denkens nennen darf. Schopenhauer hat sich selbst einen Gelegenheitsdenker genannt.
Die Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie hinausgewachsen. Von nun an ist sie die Philosophie, welche die andern Gebiete sich einverleibt; das praktische Leben rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Leidenschaft des reinen Denkens sinkt. Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zur Dienerin von heute. Sie hat nur noch das Fundament zu liefern, das eine praktische Gesinnung trägt. Und das Fundament wird immer überflüssiger. Man vernachlässigt, man verspottet das Metaphysische, das Unpraktische, die »Steine statt des Brotes«. Bei Schopenhauer ist es das vierte Buch, um dessentwillen die drei ersten da sind. Kant glaubte nur, daß es bei ihm ebenso sei. In der Tat ist ihm noch die reine, nicht die praktische Vernunft Mittelpunkt der Schöpfung. Genau so scheidet sich die antike Philosophie vor und nach Aristoteles: dort ein groß aufgefaßter Kosmos, kaum bereichert durch eine formale Ethik, hier die Ethik selbst als Programm, als Not, auf der Basis einer nebenher und flüchtig konzipierten Metaphysik. Und man fühlt, daß die logische Gewissenlosigkeit, mit der zum Beispiel Nietzsche solche Theorien schnell hinwirft, gar nicht imstande ist, den Wert seiner eigentlichen Philosophie herabzusetzen.
Bekanntlich ist SchopenhauerNeue Paralipomena § 656. nicht von seiner Metaphysik zum Pessimismus, sondern vom Pessimismus, der ihn in seinem 17. Jahre überfiel, zur Entwicklung seines Systems gekommen. Shaw, ein sehr merkwürdiger Zeuge, macht im Ibsenbrevier darauf aufmerksam, daß man bei Schopenhauer – wie er sich ausdrückt – sehr wohl seine Philosophie annehmen kann, während man seine Metaphysik ablehnt. Damit ist ganz richtig das gesondert, wodurch er der erste Denker der neuen Zeit war, und das, was einer veralteten Tradition nach damals noch zu einer vollständigen Philosophie gehörte. Niemand würde diese Trennung bei Kant vornehmen. Sie würde auch nicht gelingen. Bei Nietzsche aber läßt sich leicht feststellen, daß seine »Philosophie« durchaus ein inneres, sehr frühes Erlebnis war, während er seinen Bedarf an Metaphysik an der Hand einiger Bücher schnell und oft mangelhaft genug deckte und nicht einmal seine ethische Lehre exakt darzustellen vermocht hat. Genau dieselbe Überlagerung einer lebendigen, zeitgemäßen, ethischen und einer von der Gewohnheit geforderten, entbehrlichen metaphysischen Gedankenschicht läßt sich bei Epikur und den Stoikern nachweisen. Diese Erscheinung gestattet über das Wesen einer zivilisierten Philosophie keinen Zweifel.
Die strenge Metaphysik hat ihre Möglichkeiten erschöpft. Die Weltstadt hat das Land endgültig überwunden, und ihr Geist bildet sich jetzt eine eigne, notwendigerweise nach außen gerichtete, mechanistische, seelenlose Theorie. Mit einem gewissen Recht sagt man von nun an Gehirn statt Seele. Und da im westeuropäischen »Gehirn« der Wille zur Macht, die tyrannische Richtung auf die Zukunft, auf Organisation der Gesamtheit nach praktischem Ausdruck verlangt, so nimmt die Ethik, je mehr sie ihre metaphysische Vergangenheit aus den Augen verliert, sozialethischen und nationalökonomischen Charakter an. Die von Hegel und Schopenhauer ausgehende Philosophie der Gegenwart, soweit sie den Geist der Zeit repräsentiert – was Lotze und Herbart z. B. nicht tun –, ist Gesellschaftskritik.
Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper zuwendet, widmet der abendländische Denker dem Gesellschaftskörper. Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins Ethische, und zwar ins Imperativische umgewandte Nationalökonomie. Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb die Nationalökonomie eine Wissenschaft. Sobald »Philosophie« gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der Mathematik als Unterlage des Weltdenkens. Darin liegt die Bedeutung von Cousin, Bentham, Comte, Mill und Spencer.
Es steht dem Philosophen nicht frei, seine Stoffe zu wählen, so wenig die Philosophie immer und überall dieselben Stoffe hat. Es gibt keine ewigen Fragen; es gibt nur Fragen, die aus einem bestimmten Dasein heraus gefühlt und gestellt werden. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« – das gilt auch von jeder echten Philosophie als dem geistigen Ausdruck dieses Daseins, als der Verwirklichung seelischer Möglichkeiten in einer Formenwelt von Begriffen, Urteilen und Gedankenbauten, zusammengefaßt in der lebendigen Erscheinung ihres Urhebers. Eine jede ist vom ersten bis zum letzten Wort, vom abstraktesten Thema bis zum persönlichsten Charakterzug ein Gewordnes, aus der Seele in die Welt, aus dem Reiche der Freiheit in das der Notwendigkeit, aus dem unmittelbar Lebendigen ins Räumlich-Logische hinübergespiegelt und mithin vergänglich, von bestimmtem Tempo, von bestimmter Lebensdauer. Deshalb liegt eine strenge Notwendigkeit in der Wahl des Themas. Jede Epoche hat ihr eignes, das für sie und keine andre bedeutend ist. Hier sich nicht zu vergreifen, kennzeichnet den geborenen Philosophen. Der Rest der philosophischen Produktion ist belanglos, bloße Fachwissenschaft, langweilige Häufung systematischer und begrifflicher Subtilitäten.
Und deshalb ist die kennzeichnende Philosophie des 19. Jahrhunderts nur Ethik, nur Gesellschaftskritik in produktivem Sinne und nichts außerdem. Deshalb sind, von Praktikern abgesehen, Dramatiker – das entspricht der faustischen Aktivität – ihre bedeutendsten Vertreter, neben denen kein einziger Kathederphilosoph mit seiner Logik, Psychologie oder Systematik in Betracht kommt. Nur dem Umstande, daß diese Unbedeutenden, bloße Gelehrte, immer auch die Geschichte der Philosophie – und was für eine Geschichte! eine Sammlung von Daten und »Ergebnissen« – geschrieben haben, verdankt man es, daß niemand heute weiß, was Geschichte der Philosophie ist und was sie sein könnte.
Die tiefe organische Einheit im Denken dieser Epoche ist deshalb noch nie durchschaut worden. Man kann ihren philosophischen Kern dadurch auf eine Formel bringen, daß man sich fragt, inwiefern Shaw der Schüler und Vollender Nietzsches ist. Diese Beziehung ist durchaus nicht ironisch gemeint. Shaw ist der einzige Denker von Rang, der konsequent in der Richtung des echten Nietzsche fortgeschritten ist, nämlich als produktiver Kritiker der abendländischen Moral, wie er andrerseits als Dichter die letzten Konsequenzen Ibsens zog und den Rest künstlerischer Gestaltung in seinen Stücken zugunsten praktischer Diskussionen aufgab.
Nietzsche ist in allem und jedem, soweit nicht der verspätete Romantiker in ihm Stil, Klang und Haltung seiner Philosophie bestimmt hat, ein Schüler materialistischer Jahrzehnte gewesen. Was ihn an Schopenhauer leidenschaftlich anzog, ohne daß es ihm oder irgend jemand anders zum Bewußtsein gekommen wäre, ist dasjenige Element seiner Lehre, durch welches er die Metaphysik großen Stils zerstört, durch das er seinen Meister Kant unfreiwillig parodiert hat, die Wendung aller tiefen Begriffe des Barock ins Handgreifliche und Mechanistische. Kant redet in unzulänglichen Worten, hinter denen sich eine gewaltige, schwer zugängliche Intuition verbirgt, von der Welt als Erscheinung; Schopenhauer nennt das die Welt als Gehirnphänomen. In ihm vollzieht sich die Wendung der tragischen Philosophie zum philosophischen Plebejertum. Es genügt, eine Stelle zu zitieren. In der »Welt als Wille und Vorstellung« (II, Kapitel 19) heißt es: »Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Akzidenz unseres Wesens; denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängigen Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt reguliert.« Das ist genau die Grundansicht des seichtesten Materialismus. Nicht umsonst war Schopenhauer wie einst Rousseau, zu den englischen Sensualisten in die Lehre gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der großstädtischen, aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen. Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben,Auch der moderne Gedanke, daß die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken, während der Intellekt es nur zu stümperhaften Leistungen bringt, findet sich bei ihm (Bd. II, Kap. 30). als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine groteske dramatische FormIn »Mensch und Übermensch«. gebracht hat, dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der ihn beim Erscheinen von Darwins Hauptwerk (1859) mit einem Schlage zum Modephilosophen machte. Er war im Gegensatz zu Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen metaphysische Formeln dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine Klarheit, auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich als Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus, dem die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem Buche »Über den Willen in der Natur« (1835) finden wir schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die unbewußte WahlIm Kapitel »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe« (II, 44) ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der Gattung in vollem Umfang vorweggenommen. aus biologischem Interesse.
Es ist die Ansicht, welche Darwin auf dem Umweg über Malthus mit unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat. Die nationalökonomische Herkunft des Darwinismus wird bewiesen durch die Tatsache, daß dieses System, von der Menschenähnlichkeit höherer Tiere aus gedacht, schon auf die Pflanzenwelt nicht mehr paßt und in Albernheiten ausartet, wenn man es mit seiner Willenstendenz (Zuchtwahl, mimicry) auch auf primitive organische Formen ernsthaft anwenden will.Vgl. Bd. II, S. 591 f. Beweisen nennt der Darwinist, eine Auswahl von Tatsachen so ordnen und bildhaft so erklären, daß sie seinem historisch-dynamischen Grundgefühl »Entwicklung« entspricht. Der »Darwinismus«, d. h. jene Summe sehr verschiedenartiger und einander widersprechender Ansichten, deren Gemeinsames lediglich die Anwendung des Kausalprinzips auf Lebendiges, also Methode, nicht Resultat ist, war schon im 18. Jahrhundert in allen Einzelheiten bekannt. Die Affentheorie verteidigt Rousseau schon 1754. Von Darwin stammt nur das manchesterliche System, dessen Volkstümlichkeit sich aus dem latenten politischen Gehalt erklärt.
Hier offenbart sich die geistige Einheit des Jahrhunderts. Von Schopenhauer bis zu Shaw haben alle, ohne es zu ahnen, dasselbe Prinzip in Form gebracht. Sie werden alle vom Entwicklungsgedanken geleitet, auch die, welche wie Hebbel nichts von Darwin wußten, und zwar nicht in seiner tiefen Goetheschen, sondern in seiner flachen zivilisierten Fassung, mag sie nun nationalökonomisches oder biologisches Gepräge tragen. Auch innerhalb der Entwicklungsidee, die durch und durch faustisch ist, die im strengsten Gegensatz zur zeitlosen aristotelischen Entelechie einen leidenschaftlichen Drang der unendlichen Zukunft entgegen offenbart, einen Willen, ein Ziel, die a priori die Form unserer Naturanschauung darstellt und als Prinzip gar nicht erst entdeckt zu werden brauchte, weil sie dem faustischen Geist – und ihm allein – immanent ist, vollzog sich die Wandlung von der Kultur zur Zivilisation. Bei Goethe ist sie erhaben, bei Darwin flach, bei Goethe organisch, bei Darwin mechanisch, bei jenem Erlebnis und Sinnbild, bei diesem Erkenntnis und Gesetz. Dort heißt sie innere Vollendung, hier »Fortschritt«. Darwins Kampf ums Dasein, den er in die Natur hinein, nicht aus ihr herauslas, ist nur die plebejische Fassung jenes Urgefühls, das in Shakespeares Tragödien die großen Wirklichkeiten gegeneinander bewegt. Was dort als Schicksal innerlich angeschaut, gefühlt und in Gestalten verwirklicht wurde, das wurde hier als Kausalzusammenhang begriffen und in ein Oberflächensystem von Zweckmäßigkeiten gebracht. Und dieses System, nicht jenes Urgefühl, liegt den Reden Zarathustras, der Tragik der »Gespenster«, der Problematik des Nibelungenrings zugrunde. Nur daß Schopenhauer, an den Wagner sich hielt, als der erste der Reihe seine eigne Erkenntnis entsetzt wahrnahm – dies ist die Wurzel seines Pessimismus, der in der Tristanmusik den höchsten Ausdruck fand –, während die Späteren, Nietzsche voran, sich an ihr, etwas gewaltsam zuweilen, begeisterten.
In Nietzsches Bruch mit Wagner, diesem letzten Ereignis des deutschen Geistes, über dem Größe liegt, verbirgt sich sein Wechsel des Lehrmeisters, sein unbewußter Schritt von Schopenhauer zu Darwin, von der metaphysischen zur physiologischen Formulierung desselben Weltgefühls, von der Verneinung zur Bejahung des Aspekts, den beide anerkennen, nämlich des Willens zum Leben, der mit dem Kampf ums Dasein identisch ist. In »Schopenhauer als Erzieher« bedeutet Entwicklung noch inneres Reifen; der Übermensch ist das Produkt einer mechanischen »Evolution«. So ist der »Zarathustra« ethisch aus einem unbewußten Widerspruch gegen den »Parsifal«, künstlerisch durchaus von diesem bestimmt, aus der Eifersucht eines Verkünders auf den andern entstanden.
Aber Nietzsche war auch Sozialist, ohne es zu wissen. Nicht seine Schlagworte, seine Instinkte waren sozialistisch, praktisch, auf das physiologische »Heil der Menschheit« gerichtet, woran Goethe und Kant nie gedacht hatten. Materialismus, Sozialismus, Darwinismus sind nur künstlich und an der Oberfläche trennbar. So war es möglich, daß Shaw den Tendenzen der Herrenmoral und der Züchtung des Übermenschen nur eine kleine und sogar folgerichtige Wendung zu geben brauchte, um im dritten Akt von »Mensch und Übermensch«, einem der wichtigsten und bezeichnendsten Werke am Ausgang der Epoche, die eigentliche Maxime seines Sozialismus zu erhalten. Shaw hat da nur ausgesprochen, aber rücksichtlos, klar, mit dem vollen Bewußtsein einer Trivialität, was ursprünglich, mit aller Theatralik Wagners und aller Verschwommenheit der Romantik, in den nicht ausgeführten Teilen des Zarathustra gesagt werden sollte. Man muß nur die notwendigen praktischen, aus der Struktur des gegenwärtigen öffentlichen Lebens folgenden Voraussetzungen und Konsequenzen der Gedankengänge Nietzsches zu finden wissen. Er bewegt sich in unbestimmten Wendungen wie »neue Werte«, »Übermensch«, »Sinn der Erde« und hütet oder fürchtet sich, das genauer zu fassen. Shaw tut es. Nietzsche bemerkt, daß die darwinistische Idee des Übermenschen den Begriff der Züchtung heraufruft, aber er bleibt bei dem klangvollen Ausdruck stehen. Shaw fragt weiter – denn es hat keinen Zweck, darüber zu reden, wenn man nichts tun will –, wie das zu geschehen hat, und er kommt dazu, die Verwandlung der Menschheit in ein Gestüt zu verlangen. Aber das ist lediglich die Konsequenz Zarathustras, zu der er selbst nur nicht den Mut, sei es auch den Mut der Geschmacklosigkeit, hatte. Wenn man von planmäßiger Züchtung redet, einem vollkommen materialistischen und utilitarischen Begriff, so ist man eine Antwort darauf schuldig, wer zu züchten hat, wen, wo und wie. Allein Nietzsches romantische Abneigung, die sehr prosaischen sozialen Folgerungen zu ziehen, seine Furcht, poetische Gedanken durch Gegenüberstellung mit nüchternen Tatsachen einer Kraftprobe auszusetzen, ließen ihn darüber schweigen, daß seine ganze Lehre, wie sie aus dem Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und zwar den sozialistischen Zwang als Mittel voraussetzt; daß jeder systematischen Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng sozialistische Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese »dionysische« Idee, da es sich um eine gemeinsame Aktion und nicht um eine Privatsache abseits lebender Denker handelt, demokratisch ist, mag man sie wenden, wie man will. Damit hat die ethische Dynamik des »Du sollst« ihren Gipfel erreicht: um der Welt die Form seines Willens aufzuerlegen, opfert der faustische Mensch sich selbst. Die Züchtung des Übermenschen folgt aus dem Begriff der Zucht wahl. Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, unbewußt ein Schüler Darwins, aber Darwin selbst hatte den Entwicklungsgedanken des 18. Jahrhunderts durch nationalökonomische Tendenzen umgeprägt, die er von seinem Lehrer Malthus nahm und in das höhere Tierreich projizierte. Malthus hatte die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles Geschichte der englischen Zivilisation (1857).
Und so stammt die »Herrenmoral« dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus, den Nietzsche als Renaissance-Erscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit Darwins Begriff der mimicry man nicht übersehen sollte, war tatsächlich der im »Kapital« von Marx – dem andern berühmten Jünger von Malthus – behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie der Herrenmoral. Der »Wille zur Macht«, ins Reale, Politische, Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten Ausdruck in Shaws »Major Barbara«. Sicherlich ist Nietzsche als Persönlichkeit der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht Shaw, der Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und die großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten als je durch einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser besten Komödie Shaws ist Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der Romantiker, sein Ideal nicht wiedererkannt. Er sprach stets von einer Umwertung aller Werte, von einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der westeuropäischen und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft, aber wenn seine immer in dionysischer Ferne verschwimmenden Gedanken sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten, so erschien ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht von Streiks und der Energie des Geldes. Trotzdem hat er erzählt, daß die Idee ihm zuerst im Kriege von 1870 und beim Anblick preußischer Regimenter, die zur Schlacht marschierten, aufgegangen sei.
Das Drama dieser Epoche ist nicht mehr Dichtung im alten, im Kultursinne, sondern eine Form der Agitation, Debatte und Beweisführung: die Schaubühne wurde durchaus »als moralische Anstalt« betrachtet. Selbst Nietzsche neigte wiederholt zu dramatischer Fassung seiner Gedanken. Richard Wagner hat in seiner Nibelungendichtung, vor allem in der frühesten Fassung um 1850, seine sozialrevolutionären Ideen niedergelegt, und Siegfried ist auf dem Umweg über künstlerische und außerkünstlerische Einwirkungen noch im vollendeten »Ring« ein Sinnbild des vierten Standes, der Fafnirhort eines des Kapitalismus, Brünhilde das des »freien Weibes« geblieben. Die Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl, deren Theorie, die »Abstammung der Arten«, 1859 erschien, findet sich eben damals im dritten Akte des Siegfried und im Tristan. Es ist kein Zufall, daß Wagner, Hebbel und Ibsen beinahe gleichzeitig die Dramatisierung des Nibelungenstoffes unternahmen. Hebbel, als er in Paris Schriften von Friedrich Engels kennenlernt, drückt sein Erstaunen darüber aus (Brief vom 2. April 1844), daß er das soziale Prinzip der Zeit, wie er es eben damals in einem Drama »Zu irgend einer Zeit« darstellen wollte, ganz ebenso aufgefaßt habe wie der Verfasser des kommunistischen Manifestes, und bei seiner ersten Bekanntschaft mit Schopenhauer (Brief vom 29. März 1857) überrascht ihn auch die Verwandtschaft der »Welt als Wille und Vorstellung« mit wichtigen Tendenzen, die er seinem Holofernes und »Herodes und Mariamne« zugrunde gelegt hatte. Hebbels Tagebücher, deren wichtigster Teil zwischen 1835 und 1845 niedergeschrieben wurde, sind eine der tiefsten philosophischen Leistungen des Jahrhunderts, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre. Man würde nicht erstaunt sein, ganze Sätze von ihm wörtlich bei Nietzsche zu finden, der ihn nie gekannt und nicht immer erreicht hat.
Ich gebe hier eine Übersicht über die wirkliche Philosophie des 19. Jahrhunderts, deren einziges und eigenstes Thema der Wille zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen, ethischen oder sozialen Gestalt, als Wille zum Leben, als Lebenskraft, als praktisch-dynamisches Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw abgeschlossene Periode entspricht der antiken zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer zu reden, Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren.
1819 Schopenhauer, »Die Welt als Wille und Vorstellung«: der Wille zum Leben zum ersten Mal als einzige Realität (»Urkraft«) in den Mittelpunkt gestellt, aber noch unter dem Eindruck des voraufgegangenen Idealismus zur Verneinung empfohlen.
1836 Schopenhauer, »Über den Willen in der Natur«: Antizipation des Darwinismus, aber metaphysisch verkleidet.
1840 Proudhon, »Qu'est-ce que la propriété?«: Grundlage des Anarchismus. – Comte, »Cours de philosophie positive«: die Formel »ordre et progrès«.
1841 Hebbel, »Judith«: erste dramatische Konzeption des »neuen Weibes« und des Übermenschen (Holofernes). – Feuerbach, »Wesen des Christentums«.
1844 Engels, »Umriß einer Kritik der Nationalökonomie«: Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung. – Hebbel, »Maria Magdalena«: das erste soziale Drama.
1847 Marx, »Misère de la Philosophie« (Synthese von Hegel und Malthus). Diese Jahre sind die entscheidende Epoche, mit welcher die Nationalökonomie die Sozialethik und Biologie zu beherrschen beginnt.
1848 Wagner, »Siegfrieds Tod«: Siegfried als sozialethischer Revolutionär, der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus.
1850 Wagner, »Kunst und Klima«: das Sexualproblem.
1850-58 Wagners, Hebbels und Ibsens Nibelungendichtungen.
1859 ein symbolisches Zusammentreffen: Darwin, »Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« (Anwendung der Nationalökonomie auf die Biologie) und Wagner, »Tristan und Isolde«. – Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«.
1863 J. St. Mill, »Utilitarianism«.
1865 Dühring, »Wert des Lebens«, selten genannt, aber von höchstem Einfluß auf die nächste Generation.
1867 Ibsen, »Brand« und »Das Kapital« von Marx.
1878 Wagner, »Parsifal«: erste Auflösung des Materialismus in Mystizismus.
1879 Ibsen, »Nora«.
1881 Nietzsche, »Morgenröte«: Übergang von Schopenhauer zu Darwin, die Moral als biologisches Phänomen.
1883 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«: der Wille zur Macht, aber romantisch verkleidet.
1886 Ibsen, »Rosmersholm« (die »Adelsmenschen«) und Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«.
1887/88 Strindberg, »Vater« und »Fräulein Julie«.
1890 der nahende Abschluß der Epoche: die religiösen Werke Strindbergs, die symbolistischen Ibsens.
1896 Ibsen, »John Gabriel Borkman«: der Übermensch.
1898 Strindberg, »Nach Damaskus«.
Seit 1900 die letzten Erscheinungen.
1903 Weininger, »Geschlecht und Charakter«: der einzige ernste Versuch, Kant durch Beziehung auf Wagner und Ibsen innerhalb dieser Epoche wiederzubeleben.
1903 Shaw, »Mensch und Übermensch«: letzte Synthese von Darwin und Nietzsche.
1905 Shaw, »Major Barbara«: der Typus des Übermenschen auf seinen wirtschaftspolitischen Ursprung zurückgeführt.
Damit hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch die ethische erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel, Humboldt vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er bereits im Stadium der Wiederholungen angelangt, und das 20. Jahrhundert hat unter Beibehaltung des Wortes Sozialismus, an Stelle einer ethischen Philosophie, die nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis wirtschaftlicher Tagesfragen gesetzt. Die ethische Weltstimmung des Abendlandes wird eine »sozialistische« bleiben, aber ihre Theorie hat aufgehört, Problem zu sein. Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand einer Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.