Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16

Endlich sei eine persönliche Bemerkung gestattet. Im Jahre 1911 hatte ich die Absicht, über einige politische Erscheinungen der Gegenwart und die aus ihnen möglichen Schlüsse für die Zukunft etwas aus einem weiteren Horizont zusammenzustellen. Der Weltkrieg – als die bereits unvermeidlich gewordene äußere Form der historischen Krisis – stand damals unmittelbar bevor, und es handelte sich darum, ihn aus dem Geiste der voraufgehenden Jahrhunderte – nicht Jahre – zu begreifen. Im Verlauf der ursprünglich kleinen ArbeitSie ist jetzt in Bd. II, S. 1081f., 1122f., 1190f. aufgegangen. drängte sich die Überzeugung auf, daß zu einem wirklichen Verständnis der Epoche der Umfang der Grundlagen viel breiter gewählt werden müsse, daß es völlig unmöglich sei, eine Untersuchung dieser Art auf eine einzelne Zeit und deren politischen Tatsachenkreis zu beschränken, sie im Rahmen pragmatischer Erwägungen zu halten und selbst auf rein metaphysische, höchst transzendente Betrachtungen zu verzichten, wenn man nicht auch auf jede tiefere Notwendigkeit der Resultate Verzicht leisten wollte. Es wurde deutlich, daß ein politisches Problem nicht von der Politik selbst aus begriffen werden kann und daß wesentliche Züge, die in der Tiefe mitwirken, oft nur auf dem Gebiete der Kunst, oft sogar nur in Gestalt weit entlegener wissenschaftlicher und rein philosophischer Gedanken greifbar in Erscheinung treten. Selbst eine politisch-soziale Analyse der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, eines Stadiums gespannter Ruhe zwischen zwei mächtigen, weithin sichtbaren Ereignissen, dem einen, das durch die Revolution und Napoleon das Bild der westeuropäischen Wirklichkeit für hundert Jahre bestimmt hat, und einem andern von mindestens der gleichen Tragweite, das sich mit wachsender Geschwindigkeit näherte, erwies sich als unausführbar, ohne daß zuletzt alle großen Probleme des Seins in ihrem vollen Umfang einbezogen wurden. Denn es tritt im historischen wie im naturhaften Weltbilde nicht das geringste hervor, ohne daß in ihm die ganze Summe aller tiefsten Tendenzen verkörpert wäre. So erfuhr das ursprüngliche Thema eine ungeheure Erweiterung. Eine Unzahl überraschender, großenteils ganz neuer Fragen und Zusammenhänge drängte sich auf. Endlich war es vollkommen klar, daß kein Fragment der Geschichte wirklich durchleuchtet werden könne, bevor nicht das Geheimnis der Weltgeschichte überhaupt, genauer das der Geschichte des höheren Menschentums als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur klargestellt war. Und eben das war bisher nicht entfernt geleistet worden.

Von diesem Augenblick an traten in wachsender Fülle die oft geahnten, zuweilen berührten, nie begriffenen Beziehungen hervor, welche die Formen der bildenden Künste mit denen des Krieges und der Staatsverwaltung verbinden, die tiefe Verwandtschaft zwischen politischen und mathematischen Gebilden derselben Kultur, zwischen religiösen und technischen Anschauungen, zwischen Mathematik, Musik und Plastik, zwischen wirtschaftlichen und Erkenntnis-Formen. Die tiefinnerliche Abhängigkeit der modernsten physikalischen und chemischen Theorien von den mythologischen Vorstellungen unsrer germanischen Ahnen, die vollkommene Kongruenz im Stil der Tragödie, der dynamischen Technik und des heutigen Geldverkehrs, die zuerst bizarre, dann selbstverständliche Tatsache, daß die Perspektive der Ölmalerei, der Buchdruck, das Kreditsystem, die Fernwaffe, die kontrapunktische Musik einerseits, die nackte Statue, die Polis, die von den Griechen erfundene Geldmünze andrerseits identische Ausdrücke eines und desselben seelischen Prinzips sind, wurde unzweifelhaft deutlich, und weit darüber hinaus rückte die Tatsache ins hellste Licht, daß diese mächtigen Gruppen morphologischer Verwandtschaften, von denen jede einzelne eine besondere Art Mensch im Gesamtbilde der Weltgeschichte symbolisch darstellt, von streng symmetrischem Aufbau sind. Erst diese Perspektive legt den wahren Stil der Geschichte bloß. Sie läßt sich, da sie selbst wiederum Symptom und Ausdruck einer Zeit, und erst heute und nur für den westeuropäischen Menschen innerlich möglich und damit notwendig ist, nur mit gewissen Anschauungen der modernsten Mathematik auf dem Gebiete der Transformationsgruppen entfernt vergleichen. Es waren dies Gedanken, die mich seit langen Jahren beschäftigt hatten, aber dunkel und unbestimmt, bis sie aus diesem Anlaß in greifbarer Gestalt hervortraten.

Ich sah die Gegenwart – den sich nähernden Weltkrieg – in einem ganz andern Licht. Das war nicht mehr eine einmalige Konstellation zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen und wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen, denen der Historiker durch irgendein kausales Schema politischer oder sozialer Natur den Anschein der Einheit und sachlichen Notwendigkeit aufprägt: das war der Typus einer historischen Zeitwende, die innerhalb eines großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen biographisch seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz hatte. Eine Unsumme leidenschaftlichster Fragen und Einsichten, die heute in tausend Büchern und Meinungen, aber zerstreut, vereinzelt, aus dem beschränkten Horizont eines Spezialgebietes zutage traten und deshalb reizen, bedrücken und verwirren, aber nicht befreien konnten, bezeichnet die große Krisis. Man kennt sie, aber man übersieht ihre Identität. Ich nenne die in ihrer letzten Bedeutung gar nicht begriffenen Kunstprobleme, die dem Streit um Form und Inhalt, um Linie oder Raum, um das Zeichnerische oder Malerische, dem Begriff des Stils, dem Sinn des Impressionismus und der Musik Wagners zugrunde liegen; den Niedergang der Kunst, den wachsenden Zweifel am Werte der Wissenschaft; die schweren Fragen, welche aus dem Sieg der Weltstadt über das Bauerntum hervorgehen: die Kinderlosigkeit, die Landflucht; den sozialen Rang des fluktuierenden vierten Standes; die Krisis im Materialismus, im Sozialismus, im Parlamentarismus; die Stellung des einzelnen zum Staate; das Eigentumsproblem, das davon abhängende Eheproblem; auf scheinbar ganz anderm Gebiete die massenhaften völkerpsychologischen Arbeiten über Mythen und Kulte, über die Anfänge der Kunst, der Religion, des Denkens, die mit einem Male nicht mehr ideologisch, sondern streng morphologisch behandelt wurden – Fragen, die alle das eine, nie mit hinreichender Deutlichkeit ins Bewußtsein tretende Rätsel der Historie überhaupt zum Ziel hatten. Hier lagen nicht unzählige, sondern stets ein und dieselbe Aufgabe vor. Hier hatte jeder etwas geahnt, aber keiner von seinem engen Standpunkte aus die einzige und umfassende Lösung gefunden, die seit den Tagen Nietzsches in der Luft lag, der alle entscheidenden Probleme bereits in Händen hielt, ohne daß er als Romantiker gewagt hätte, der strengen Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.

Darin liegt aber auch die tiefe Notwendigkeit der abschließenden Lehre, die kommen mußte und nur zu dieser Zeit kommen konnte. Sie ist kein Angriff auf das Vorhandene an Ideen und Werken. Sie bestätigt vielmehr alles, was seit Generationen gesucht und geleistet wurde. Dieser Skeptizismus stellt den Inbegriff dessen dar, was auf allen Einzelgebieten, gleichviel in welcher Absicht, an wirklich lebendigen Tendenzen vorliegt.

Vor allem aber fand sich endlich der Gegensatz, aus dem allein das Wesen der Geschichte erfaßt werden kann: der von Geschichte und Natur. Ich wiederhole: der Mensch ist als Element und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern auch Glied der Geschichte, eines zweiten Kosmos von andrer Ordnung und andrem Gehalte, der von der gesamten Metaphysik zugunsten des ersten vernachlässigt worden ist. Was mich zum ersten Nachdenken über diese Grundfrage unsres Weltbewußtseins brachte, war die Beobachtung, daß der heutige Historiker, an den sinnlich greifbaren Ereignissen, dem Gewordenen herumtastend, die Geschichte, das Geschehen, das Werden selbst bereits ergriffen zu haben glaubt, ein Vorurteil aller nur verstandesmäßig Erkennenden, nicht auch Schauenden,Die Philosophie dieses Buches verdanke ich der Philosophie Goethes, der heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches. Die Stellung Goethes in der westeuropäischen Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden. Man nennt ihn nicht einmal, wenn von Philosophie die Rede ist. Unglücklicherweise hat er seine Lehre nicht in einem starren System niedergelegt; deshalb übersehen ihn die Systematiker. Aber er war Philosoph. Er nimmt Kant gegenüber dieselbe Stellung ein wie Plato gegenüber Aristoteles, und es ist ebenfalls eine mißliche Sache, Plato in ein System bringen zu wollen. Plato und Goethe repräsentieren die Philosophie des Werdens, Aristoteles und Kant die des Gewordnen. Hier steht Intuition gegen Analyse. Was verstandesmäßig kaum mitzuteilen ist, findet sich in einzelnen Vermerken und Gedichten Goethes wie den Orphischen Urworten, Strophen wie »Wenn im Unendlichen« und »Sagt es niemand«, die man als Ausdruck einer ganz bestimmten Metaphysik zu betrachten hat. An folgendem Ausspruch möchte ich nicht ein Wort geändert wissen: »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordnen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze« (zu Eckermann). Dieser Satz enthält meine ganze Philosophie. das schon die großen Eleaten stutzig gemacht hatte, als sie behaupteten, daß es, für den Erkennenden nämlich, kein Werden, nur ein Sein (Gewordensein) gebe. Mit anderen Worten: man sah die Geschichte als Natur, im Objektsinne des Physikers, und behandelte sie danach. Von hierher schreibt sich der folgenschwere Mißgriff, die Prinzipien der Kausalität, des Gesetzes, des Systems, also die Struktur des starren Seins in den Aspekt des Geschehens zu legen. Man verhielt sich, als gebe es eine menschliche Kultur, etwa wie es Elektrizität oder Gravitation gibt, mit den im wesentlichen gleichen Möglichkeiten der Analyse; man hatte den Ehrgeiz, die Gewohnheiten des Naturforschers zu kopieren, so daß man wohl gelegentlich fragte, was denn die Gotik, der Islam, die antike Polis sei, nicht aber, warum diese Symbole eines Lebendigen gerade damals und dort auftauchen mußten, in dieser Form und für diese Dauer. Man begnügte sich, sobald eine der zahllosen Ähnlichkeiten räumlich und zeitlich weit getrennter Geschichtsphänomene zutage trat, sie einfach zu registrieren, mit einigen geistvollen Bemerkungen über das Wunderbare des Zusammentreffens, über Rhodos als das »Venedig des Altertums« oder Napoleon als den neuen Alexander, statt gerade hier, wo das Schicksalsproblem als das eigentliche Problem der Historie (das Problem der Zeit nämlich) hervortritt, den höchsten Ernst wissenschaftlich geregelter Physiognomik einzusetzen und die Antwort auf die Frage zu finden, welche ganz anders geartete Notwendigkeit, der kausalen ganz und gar fremd, hier am Werke ist. Daß jede Erscheinung auch dadurch ein metaphysisches Rätsel aufgibt, daß sie zu einer niemals gleichgültigen Zeit auftritt, daß man sich auch noch fragen muß, was für ein lebendiger Zusammenhang neben dem anorganisch-naturgesetzlichen im Weltbilde besteht – das ja die Ausstrahlung des ganzen Menschen und nicht, wie Kant meinte, nur die des erkennenden ist –, daß eine Erscheinung nicht nur Tatsache für den Verstand, sondern auch Ausdruck des Seelischen ist, nicht nur Objekt, sondern auch Symbol, und zwar von den höchsten religiösen und künstlerischen Schöpfungen an bis zu den Geringfügigkeiten des Alltagslebens, das war philosophisch etwas Neues.

Endlich sah ich die Lösung deutlich vor mir, in ungeheuren Umrissen, mit voller innerer Notwendigkeit, eine Lösung, die auf ein einziges Prinzip zurückführt, das zu finden war und bisher nicht gefunden wurde, etwas, das mich seit meiner Jugend verfolgt und angezogen hatte und das mich quälte, weil ich es als vorhanden, als Aufgabe empfand, aber nicht fassen konnte. So ist aus dem etwas zufälligen Anlaß das vorliegende Buch entstanden, als der vorläufige Ausdruck eines neuen Weltbildes, mit allen Fehlern eines ersten Versuchs behaftet, ich weiß es wohl, unvollständig und sicher nicht ohne Widersprüche. Dennoch enthält es meiner Überzeugung nach die unwiderlegliche Formulierung eines Gedankens, der, ich sage es noch einmal, nicht bestritten werden wird, sobald er einmal ausgesprochen ist.

Das engere Thema ist also eine Analyse des Unterganges der westeuropäischen, heute über den ganzen Erdball verbreiteten Kultur. Das Ziel aber ist die Entwicklung einer Philosophie und der ihr eigentümlichen, hier zu prüfenden Methode der vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte. Die Arbeit zerfällt naturgemäß in zwei Teile. Der erste, »Gestalt und Wirklichkeit«, geht von der Formensprache der großen Kulturen aus, sucht bis zu den letzten Wurzeln ihres Ursprungs vorzudringen und gewinnt so die Grundlagen einer Symbolik. Der zweite, »Welthistorische Perspektiven«, geht von den Tatsachen des wirklichen Lebens aus und versucht aus der historischen Praxis der höheren Menschheit die Quintessenz der geschichtlichen Erfahrung zu erhalten, auf Grund deren wir die Gestaltung unserer Zukunft in die Hand nehmen können.

Die folgenden Tafeln geben einen Überblick über das, was das Ergebnis der Untersuchung war. Sie mögen zugleich einen Begriff von der Fruchtbarkeit und Tragweite der neuen Methode geben.


 << zurück weiter >>