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Deshalb haben die altnordischen Stämme, in deren urmenschlicher Seele das Faustische sich bereits zu regen begann, in grauer Vorzeit eine Segelschiffahrt erfunden, die sich vom Festland befreite.Sie reichte im 2. vorchristl. Jahrtausend von Island und der Nordsee über Kap Finisterre nach den Kanarischen Inseln und Westafrika, wovon die Atlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten. Das Reich von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein Mittelpunkt dieses Verkehrs gewesen zu sein. Vgl. L. Frobenius, Das unbekannte Afrika, S. 139. In irgendeinem Zusammenhang damit müssen die »Seevölker« gestanden haben, Wikingerschwärme, die nach langer Länderwanderung von Nord nach Süd im Schwarzen oder Agäischen Meer wieder Schiffe zimmerten und seit Ramses II. (1292-1225) gegen Ägypten vorbrachen. [Schon wenige Jahre später änderte Spengler, tiefer in die Materie eingedrungen, seine hier vorgetragenen Ansichten über die Frühgeschichte grundlegend und schied den seefahrenden »Alten Westen« von der jüngeren »nordischen« Frühkultur. Die Aufsätze »Zur Weltgeschichte des 2. vorchristlichen Jahrtausends« und über den Streitwagen (beides wiederabgedruckt in den »Reden und Aufsätzen« 1937, München, C. H. Beck) geben darüber Aufschluß. H. K. Die Ägypter kannten das Segel, aber sie zogen nur den Vorteil der Arbeitsersparnis daraus. Sie fuhren wie früher mit ihren Ruderschiffen die Küste entlang nach Punt und Syrien, ohne die Idee der Hochseefahrt, das Befreiende und Symbolische in ihr zu empfinden. Denn die Segelschiffahrt überwindet den euklidischen Begriff des Landes. Im Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgt beinahe gleichzeitig – und gleichzeitig mit der Ausbildung der Ölmalerei und des Kontrapunkts – die Erfindung des Schießpulvers und des Kompasses, der Fernwaffe und des Fernverkehrs also, die beide mit tiefer Notwendigkeit auch innerhalb der chinesischen Kultur erfunden worden sind. Es war der Geist der Wikinger, der Hanse, der Geist jener Urvölker, welche die Hünengräber als Male einsamer Seelen auf weiter Ebene aufschütteten – statt der häuslichen Aschenurne der Hellenen –, die ihre toten Könige auf brennendem Schiff in die hohe See treiben ließen, ein erschütterndes Zeichen jener dunklen Sehnsucht nach dem Grenzenlosen, die sie trieb, auf ihren winzigen Kähnen um 900, als die Geburt der abendländischen Kultur sich ankündigte, die Küste Amerikas zu erreichen, während die von Ägyptern und Karthagern bereits ausgeführte Umschiffung Afrikas die antike Menschheit völlig gleichgültig ließ. Wie statuenhaft deren Dasein auch hinsichtlich des Verkehrs war, bezeugt die Tatsache, daß die Nachricht vom ersten Punischen Kriege, einem der gewaltigsten der antiken Geschichte, nur wie ein dunkles Gerücht von Sizilien nach Athen drang. Selbst die Seelen der Griechen waren im Hades versammelt, ohne sich zu regen, als Schattenbilder (ειδωλα), ohne Kraft, Wunsch und Empfindung. Die nordischen Seelen aber gesellten sich dem »wütenden Heere« zu, das rastlos durch die Lüfte schweift.
Auf der gleichen Kulturstufe wie die Entdeckungen der Spanier und Portugiesen des 14. erfolgte die große hellenische Kolonisation des 8. vorchristlichen Jahrhunderts. Aber während jene von der Abenteurersehnsucht nach ungemessenen Fernen und allem Unbekannten und Gefahrvollen besessen waren, ging der Grieche Punkt für Punkt vorsichtig hinter den bekannten Spuren der Phöniker, Karthager und Etrusker her, und seine Neugier erstreckte sich nicht im geringsten auf das, was jenseits der Säulen des Herkules oder der Landenge von Suez lag, so leicht erreichbar es ihm gewesen wäre. Man hörte in Athen ohne Zweifel von dem Weg in die Nordsee, nach dem Kongo, nach Sansibar, nach Indien; zur Zeit des Heron war die Lage der Südspitze Indiens und der Sundainseln bekannt; aber man verschloß sich dem so gut wie dem astronomischen Wissen des alten Ostens. Selbst als das heutige Marokko und Portugal römische Provinzen geworden waren, entstand kein neuer atlantischer Seeverkehr, und die Kanarischen Inseln blieben vergessen. Die Kolumbussehnsucht blieb der apollinischen Seele ebenso fremd wie die Sehnsucht des Kopernikus. Diese auf den Gewinn so versessenen hellenischen Kaufleute hatten eine tiefe metaphysische Scheu vor der Ausdehnung ihres geographischen Horizontes. Auch da hielt man sich an Nähe und Vordergrund. Das Dasein der Polis, jenes merkwürdige Ideal des Staates als Statue, war ja nichts als eine Zuflucht vor der »weiten Welt« jener Seevölker. Und dabei war die Antike unter allen bisher erschienenen Kulturen die einzige, deren Mutterland nicht auf der Fläche eines Kontinents, sondern um die Küsten eines Inselmeeres gelagert war und ein Meer als eigentlichen Schwerpunkt umschloß. Trotzdem hat nicht einmal der Hellenismus mit seinem Hang zu technischen Spielereien sich vom Gebrauch der Ruder befreit, welche die Schiffe an der Küste hielten. Die Schiffbaukunst konstruierte damals – in Alexandria – Riesenschiffe von 80 m Länge, und man hatte wieder einmal das Dampfschiff im Prinzip erfunden. Aber es gibt Entdeckungen von dem Pathos eines großen und notwendigen Symbols, die etwas sehr Innerliches offenbaren, und solche, die lediglich ein Spiel des Geistes sind. Das Dampfschiff ist für den apollinischen Menschen das letzte, für den faustischen das erste. Erst der Rang im Ganzen des Makrokosmos gibt einer Erfindung und ihrer Anwendung Tiefe oder Oberflächlichkeit.
Die Entdeckungen des Kolumbus und Vasco da Gama erweiterten den geographischen Horizont ins Ungemessene: das Weltmeer trat dem Festland gegenüber in das gleiche Verhältnis wie der Weltraum zur Erde. Jetzt erst entlud sich die politische Spannung des faustischen Weltbewußtseins. Für den Griechen war und blieb Hellas das wesentliche Stück der Erdfläche; mit der Entdeckung Amerikas wurde das Abendland zur Provinz in einem riesenhaften Ganzen. Von hier an trägt die Geschichte der abendländischen Kultur planetarischen Charakter.
Jede Kultur besitzt ihren eignen Begriff von Heimat und Vaterland, schwer greifbar, kaum in Worte zu fassen, voller dunkler metaphysischer Beziehungen, aber trotzdem von unzweideutiger Tendenz. Das antike Heimatgefühl, das den einzelnen ganz leibhaft und euklidisch an die Polis band, steht hier jenem rätselhaften Heimweh des Nordländers gegenüber, das etwas Musikhaftes, Schweifendes und Unirdisches hat. Der antike Mensch empfindet als Heimat nur, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann. Wo der Horizont von Athen endet, beginnt die Fremde, der Feind, das »Vaterland« der andern. Der Römer selbst der letzten republikanischen Zeit hat unter patria niemals Italien, auch nicht Latium, stets nur die Urbs Roma verstanden. Die antike Welt löst sich mit steigender Reife in eine Unzahl vaterländischer Punkte auf, unter denen ein körperliches Absonderungsbedürfnis in Gestalt eines Hasses besteht, der den Barbaren gegenüber nie in dieser Stärke zum Vorschein kommt; und nichts kann das endgültige Erlöschen des antiken und den Sieg des magischen Weltgefühls nach dieser Seite hin schärfer kennzeichnen als die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle Provinzialen durch Caracalla (212)Vgl. Bd. II, S. 636. Damit war der antike, statuenhafte Begriff des Bürgers aufgehoben. Es gab ein »Reich«, es gab folglich auch eine neue Art von Zugehörigkeit. Bezeichnend ist der entsprechende römische Begriff des Heeres. Es gab in echt antiker Zeit kein »römisches Heer«, wie man vom preußischen Heere spricht; es gab nur Heere, d. h. durch Ernennung eines Legaten als solche, als begrenzte und sichtbar-gegenwärtige Körper bestimmte Truppenteile (»Truppenkörper«), einen exercitus Scipionis, Crassi, aber keinen exercitus Romanus. Erst Caracalla, der durch den erwähnten Erlaß den Begriff des civis Romanus tatsächlich aufhob, der die römische Staatsreligion durch Gleichsetzung der städtischen Gottheiten mit allen fremden auslöschte, hat auch den – unantiken, magischen – Begriff des kaiserlichen Heeres geschaffen, das durch die einzelnen Legionen in Erscheinung tritt, während altrömische Heere nichts bedeuten, sondern ausschließlich etwas sind. Von nun an ändert sich auf den Inschriften der Ausdruck fides exercituum in fides exercitus; an Stelle körperlich empfundener Einzelgottheiten (der Treue, des Glücks der Legion), denen der Legat opferte, war ein allgemein geistiges Prinzip getreten. Dieser Bedeutungswandel hat sich auch im Vaterlandsgefühl des östlichen Menschen der Kaiserzeit – nicht nur des Christen – vollzogen. Heimat ist dem apollinischen Menschen, solange ein Rest seines Weltgefühls wirksam ist, im ganz eigentlichen, körperhaften Sinne der Boden, auf dem seine Stadt erbaut ist. Man wird sich hier der »Einheit des Ortes« attischer Tragödien und Statuen erinnern. Dem magischen Menschen, dem Christen, Perser, Juden, »Griechen«,Das heißt Anhänger der synkretistischen Kulte, vgl. Bd. II, S. 769. Manichäer, Nestorianer, Islamiten ist sie nichts, was mit geographischen Wirklichkeiten zusammenhängt. Uns ist sie eine ungreifbare Einheit von Natur, Sprache, Klima, Sitte, Geschichte; nicht Erde, sondern »Land«, nicht punktförmige Gegenwart, sondern geschichtliche Vergangenheit und Zukunft, nicht eine Einheit von Menschen, Göttern und Häusern, sondern eine Idee, die sich mit rastloser Wanderschaft, mit tiefster Einsamkeit und mit jener urdeutschen Sehnsucht nach dem Süden verträgt, an der von den Sachsenkaisern bis auf Hölderlin und Nietzsche die Besten zugrunde gegangen sind.
Die faustische Kultur war deshalb im stärksten Maße auf Ausdehnung gerichtet, sei sie politischer, wirtschaftlicher oder geistiger Natur; sie überwand alle geographisch-stofflichen Schranken; sie suchte ohne jeden praktischen Zweck, nur um des Symbols willen, Nord- und Südpol zu erreichen; sie hat zuletzt die Erdoberfläche in ein einziges Kolonialgebiet und Wirtschaftssystem verwandelt. Was von Meister Eckart bis auf Kant alle Denker wollten, die Welt »als Erscheinung« den Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen, das taten von Otto dem Großen bis auf Napoleon alle Führer. Das Grenzenlose war das eigentliche Ziel ihres Ehrgeizes, die Weltmonarchie der großen Salier und Staufer, die Pläne Gregors VII. und Innocenz' III., jenes Reich der spanischen Habsburger, »in dem die Sonne nicht unterging«, und der Imperialismus, um den heute der noch lange nicht beendigte Weltkrieg geführt wird. Der antike Mensch konnte aus einem inneren Grunde kein Eroberer sein, trotz des Alexanderzuges, der als romantische Ausnahme und mehr noch durch den inneren Widerstand der Begleiter lediglich die Regel bestätigt. In den Zwergen, Nixen und Kobolden hat die nordische Seele Wesen geschaffen, die mit einer unstillbaren Sehnsucht aus dem bindenden Element erlöst sein wollen, einer Sehnsucht nach dem Fernen und Freien, die den griechischen Dryaden und Oreaden ganz unbekannt ist. Die Griechen gründeten Hunderte von Pflanzstädten am Küstensaum des Mittelmeeres, aber man findet nicht den geringsten Versuch, erobernd ins Hinterland zu dringen.
Sich fern der Küste ansiedeln hieße die Heimat aus den Augen verlieren; sich allein niederlassen, wie es den Trappern der amerikanischen Prärien als Ideal vorschwebte und lange vorher schon den Helden der isländischen Sagas, liegt völlig außerhalb der Möglichkeiten antiken Menschentums. Ein Schauspiel wie die Auswanderung nach Amerika – jeder einzelne auf eigene Faust und mit einem tiefen Bedürfnis, allein zu bleiben –, die spanischen Konquistadoren, der Strom der kalifornischen Goldsucher, der unbändige Wunsch nach Freiheit, Einsamkeit, ungemessener Selbständigkeit, diese gigantische Verneinung eines noch irgendwie begrenzten Heimatgefühls ist allein faustisch. Das kennt keine andre Kultur, auch die chinesische nicht.
Der hellenische Auswanderer gleicht dem Kinde, das sich an der Mutter Schürze hält: aus der alten Stadt in eine neue ziehen, die samt Mitbürgern, Göttern und Gebräuchen das genaue Ebenbild der alten ist, das gemeinsam befahrene Meer immer vor Augen; dort auf der Agora die gewohnte Existenz des ξωον πολιτιχον weiterführen – darüber hinaus durfte der Szenenwechsel eines apollinischen Daseins nicht getrieben werden. Uns, die wir Freizügigkeit wenigstens als Menschenrecht und Ideal nicht vermissen können, würde das die ärgste aller Sklavereien bedeutet haben. Unter diesem Gesichtspunkt hat man die leicht mißzuverstehende römische Expansion aufzufassen, die von einer Ausdehnung des Vaterlandes weit entfernt ist. Sie hält sich genau innerhalb des Bereiches, das von Kulturmenschen schon in Besitz genommen war und jetzt ihnen als Beute zufiel. Von dynastischen Weltmachtplänen im Hohenstaufen- oder Habsburgerstil, von einem mit der Gegenwart vergleichbaren Imperialismus ist nie die Rede gewesen. Die Römer haben keinen Versuch gemacht, ins innere Afrika zu dringen. Sie haben ihre späteren Kriege nur geführt, um ihren Besitz sicherzustellen, ohne Ehrgeiz, ohne einen symbolischen Drang nach Ausbreitung, und sie haben Germanien und Mesopotamien ohne Bedauern wieder aufgegeben.
Fassen wir all dies zusammen, den Aspekt der Sternenräume, zu dem sich das Weltbild des Kopernikus erweitert hat, die Beherrschung der Erdoberfläche durch den abendländischen Menschen im Gefolge der Entdeckung des Kolumbus, die Perspektive der Ölmalerei und der tragischen Szene und das durchgeistigte Heimatgefühl; fügen wir die zivilisierte Leidenschaft des schnellen Verkehrs, die Beherrschung der Luft, die Nordpolfahrten und die Ersteigung kaum zugänglicher Berggipfel hinzu, so taucht aus allem das Ursymbol der faustischen Seele auf, der grenzenlose Raum, als dessen Ableitungen wir die besonderen, in dieser Form rein westeuropäischen Gebilde des Seelenmythos: den »Willen«, die »Kraft«, die »Tat« aufzufassen haben.