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In einer berühmt gewordnen Rede sagte Helmholtz 1869: »Das Endziel der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen zugrunde liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik aufzulösen.« In Mechanik, das bedeutet die Zurückführung aller qualitativen Eindrücke auf unveränderliche quantitative Grundwerte, auf Ausgedehntes also und dessen Ortsveränderung; das bedeutet weiterhin, wenn man sich des Gegensatzes von Werden und Gewordnem, Erlebtem und Erkanntem, von Gestalt und Gesetz, Bild und Begriff erinnert, die Zurückführung des gesehenen Natur bildes auf das vorgestellte Bild einer einheitlichen, zahlenmäßigen Ordnung von meßbarer Struktur. Die eigentliche Tendenz aller abendländischen Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung durch Messung; sie ist deshalb genötigt, das Wesen der Erscheinung in einem System konstanter, der Messung restlos zugänglicher Elemente zu suchen, deren wichtigstes nach der Definition von Helmholtz mit dem – der täglichen Lebenserfahrung entnommenen – Worte Bewegung bezeichnet wird.
Dem Physiker erscheint diese Definition unzweideutig und erschöpfend; dem Skeptiker, der die Psychologie dieser wissenschaftlichen Überzeugung verfolgt, nichts weniger als das. Dem einen ist die gegenwärtige Mechanik ein folgerichtiges System von klaren eindeutigen Begriffen und ebenso einfachen wie notwendigen Beziehungen, dem andern ist sie ein die Struktur des westeuropäischen Geistes kennzeichnendes Bild, allerdings von höchster Konsequenz des Aufbaus und stärkster Überzeugungskraft. Daß durch alle praktischen Erfolge und Entdeckungen nichts für die » Wahrheit« der Theorie, des Bildes bewiesen wird, versteht sich von selbst.Vgl. Bd. II, S. 1184, und F. Lenard, Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation (1920), S. 20 ff. Den meisten erscheint »die« Mechanik allerdings als die selbstverständliche Fassung von Natureindrücken, aber sie scheint es nur. Denn was ist Bewegung? Daß alles Qualitative auf die Bewegung unveränderlicher, gleichartiger Massenpunkte zurückführbar sei – ist das nicht schon ein rein faustisches, kein allgemein menschliches Postulat? Archimedes z. B. fühlte durchaus nicht das Bedürfnis, mechanische Einsichten in die Vorstellung von Bewegungen umzudenken. Ist Bewegung überhaupt eine rein mechanische Größe? Ist sie ein Wort für eine Erfahrung des Auges oder ein davon abgezogener Begriff? Bezeichnet sie die Zahl, welche durch Messung experimentell hervorgerufener Tatsachen ermittelt worden ist, oder das ihr unterlegte Bild? Und wenn es der Physik wirklich eines Tages gelänge, ihr vermeidliches Ziel zu erreichen und alles sinnlich Erfaßbare in ein lückenloses System gesetzmäßig fixierter »Bewegungen« und der hinter ihnen als wirkend vorgestellten Kräfte zu bringen, wäre sie damit im »Erkennen« dessen, was vorgeht, auch nur um einen Schritt vorwärts gekommen? Ist die Formensprache der Mechanik darum weniger dogmatisch? Enthält sie nicht vielmehr den Mythos der Urworte, welche die Erfahrung gestalten statt aus ihr hervorzugehen, gerade in seiner schärfsten Fassung? Was ist Kraft? Was ist eine Ursache? Was ist ein Prozeß? Ja – hat die Physik überhaupt, selbst auf Grund ihrer eigenen Definitionen, eine eigentliche Aufgabe? Besitzt sie ein durch alle Jahrhunderte gültiges Endziel? Besitzt sie, um ihre Resultate auszusprechen, auch nur eine unanfechtbare Gedankengröße?
Die Antwort kann vorweggenommen werden. Die heutige Physik, als Wissenschaft ein ungeheures System von Kennzeichen in Gestalt von Namen und Zahlen, das es gestattet, mit der Natur wie mit einer Maschine zu arbeiten,Vgl. Bd. II, S. 928, 1183 f. mag ein genau bestimmbares Endziel haben; als ein Stück Geschichte mit allen Schicksalen und Zufällen im Leben der beteiligten Personen und im Gang des Forschens selbst ist die Physik nach Aufgabe, Methode und Resultat Ausdruck und Verwirklichung einer Kultur, ein organisch sich entwickelnder Zug ihres Wesens, jedes ihrer Ergebnisse ein Symbol. Was die Physik, die ja lediglich im Wachsein lebender Kulturmenschen vorhanden ist, durch diese zu finden vermeint, lag der Art und Weise ihres Suchens schon zugrunde. Ihre Entdeckungen sind dem bildhaften Gehalt nach, außerhalb der Formeln, selbst im Kopf so vorsichtiger Forscher, wie es J. R. Mayer, Faraday und Hertz waren, rein mythischer Natur. Angesichts aller physikalischen Exaktheit unterscheide man in jedem Naturgesetz wohl zwischen unbenannten Zahlen und deren Benennung, zwischen einer bloßen GrenzsetzungVgl. Bd. I, S. 76. und deren theoretischer Deutung. Die Formeln stellen allgemein logische Werte dar, reine Zahlen, objektive Raum- und Grenzelemente also, aber Formeln sind stumm. Der Ausdruck s = ½gt2 bedeutet gar nichts, solange man bei den Buchstaben nicht an bestimmte Worte und deren Bildsinn zu denken vermag. Kleide ich die toten Zeichen aber in solche Worte, gebe ich ihnen Fleisch, Körper, Leben, eine sinnliche Weltbedeutung überhaupt, so habe ich die Schranken einer bloßen Ordnung überschritten. Θεωρία heißt Bild, Vision. Erst sie macht aus einer mathematischen Formel ein wirkliches Naturgesetz. Alles Exakte an sich ist sinnlos; jede physikalische Beobachtung ist so beschaffen, daß ihr Ergebnis etwas beweist nur unter der Voraussetzung einer Anzahl von bildhaften Annahmen, die von nun an überzeugender wirken. Abgesehen davon besteht das Ergebnis nur aus leeren Ziffern. Aber wir können von solchen Annahmen gar nicht absehen. Selbst wenn ein Forscher alle ihm als solche bewußten Hypothesen beiseite setzt, so kann er doch, sobald er denkend an diese Aufgabe herantritt, die unbewußte Form dieses Denkens nicht beherrschen – sie beherrscht ihn! –, da er stets als Mensch einer Kultur, eines Zeitalters, einer Schule voller Tradition lebend tätig ist. Glaube und »Erkenntnis« sind nur zwei Arten von innerer Gewißheit, aber der Glaube ist älter und meistert alle Bedingungen eines noch so exakten Wissens. Und eben die Theorien, nicht die reinen Zahlen sind die Träger aller Naturerkenntnis. Die unbewußte Sehnsucht jeder echten Wissenschaft, die – es sei noch einmal gesagt – lediglich im Geiste von Kulturmenschen vorhanden ist, richtet sich auf das Begreifen, das Durchdringen und Umfassen des Weltbildes der Natur, nicht auf die messende Tätigkeit an sich, die immer nur eine Freude unbedeutender Köpfe gewesen ist. Zahlen sollten stets nur der Schlüssel zum Geheimnis sein. Um der Zahlen selbst willen hätte kein bedeutender Mensch jemals Opfer gebracht.
Zwar sagt Kant an einer bekannten Stelle: »Ich behaupte, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« Gemeint ist die reine Grenzsetzung in der Sphäre des Gewordnen, insofern sie als Gesetz, Formel, Zahl, System erscheint, aber ein Gesetz ohne Worte, eine Zahlenreihe als bloße Ablesung der Angaben von Meßinstrumenten ist als geistige Handlung in vollkommener Reinheit nicht einmal vorstellbar. Jedes Experiment, jede Methode, jede Beobachtung wächst aus einer mehr als mathematischen Gesamtanschauung hervor. Jede gelehrte Erfahrung ist, sie mag sonst sein was sie will, auch ein Zeugnis symbolischer Vorstellungs arten. Alle in Worte gefaßten Gesetze sind belebte, durchseelte Ordnungen, vom innersten Gehalt einer und nur einer Kultur erfüllt. Will man von Notwendigkeit reden, da sie eine Forderung aller exakten Forschung ist, so liegt eine doppelte vor: eine Notwendigkeit im Seelischen und Lebendigen, denn es ist Schicksal, ob, wann und wie sich die Geschichte jeder einzelnen Forschung abspielt; und eine Notwendigkeit innerhalb des Erkannten für die uns Westeuropäern der Name Kausalität geläufig ist. Mögen die reinen Zahlen einer physischen Formel eine kausale Notwendigkeit darstellen; das Vorhandensein, die Entstehung, die Lebensdauer einer Theorie ist ein Schicksal.
Jede Tatsache, selbst die einfachste, enthält bereits eine Theorie. Eine Tatsache ist ein einmaliger Eindruck auf ein wachendes Wesen, und alles hängt davon ab, ob es ein Mensch der Antike oder des Abendlandes, der Gotik oder des Barock ist, für den sie da ist oder da war. Man überlege sich, wie ein Blitz auf einen Sperling oder auf einen gerade beobachtenden Naturforscher wirkt, und was in der »Tatsache« für diesen mehr enthalten ist als in der »Tatsache« für jenen. Der Physiker von heute vergißt zu leicht, daß schon Worte wie Größe, Lage, Prozeß, Zustandsänderung, Körper spezifisch abendländische Bilder darstellen, mit einem in Worte nicht mehr zu fassenden Bedeutungsgefühl, das dem antiken oder arabischen Denken und Fühlen gänzlich fremd ist, das aber den Charakter der wissenschaftlichen Tatsachen als solcher, die Art des Erkanntwerdens vollkommen beherrscht, ganz zu schweigen von so verwickelten Begriffen wie Arbeit, Spannung, Wirkungsquantum, Wärmemenge, Wahrscheinlichkeit,Etwa im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in der Fassung Boltzmanns: »Der Logarithmus der Wahrscheinlichkeit eines Zustandes ist proportional der Entropie dieses Zustandes.« Hier enthält jedes Wort eine vollständige und nur nach zufühlende, nicht zu beschreibende Naturanschauung. welche jeder für sich einen wirklichen Natur mythos enthalten. Wir empfinden derartige gedankliche Bildungen als Resultat einer vorurteilsfreien Forschung, unter Umständen als endgültige. Ein feiner Kopf aus der Zeit des Archimedes würde nach gründlichem Studium der modernen theoretischen Physik versichert haben, es sei ihm unbegreiflich, wie jemand so willkürliche, groteske und verworrene Vorstellungen als Wissenschaft und noch dazu als notwendige Folgerungen aus den vorliegenden Tatsachen ansprechen könne. Wissenschaftlich gerechtfertigte Folgerungen seien viel mehr – und er würde seinerseits auf Grund derselben »Tatsachen«, der mit seinem Auge gesehenen und in seinem Geist gestalteten Tatsachen nämlich, Theorien entwickelt haben, denen unsre Physiker mit erstauntem Lächeln zugehört hätten.
Welches sind denn die Grundvorstellungen, die sich im Gesamtbilde der heutigen Physik mit innerer Folgerichtigkeit entwickelt haben? Polarisierte Lichtstrahlen, wandernde Ionen, die fliehenden und geschleuderten Gasteilchen der kinetischen Gastheorie, magnetische Kraftfelder, elektrische Ströme und Wellen – sind das nicht sämtlich faustische Visionen, faustische Symbole von engster Verwandtschaft mit der romanischen Ornamentik, dem Hinaufstreben gotischer Bauten, den Wikingerfahrten in unbekannte Meere und der Sehnsucht des Kolumbus und Kopernikus? Ist diese Formen- und Bilderwelt nicht in genauem Einklang mit den gleichzeitigen Künsten, der perspektivischen Ölmalerei und der Instrumentalmusik erwachsen? Ist das nicht unser leidenschaftliches Gerichtetsein, das Pathos der dritten Dimension, das wie im Seelenbilde, so auch im vorgestellten Bilde der Natur zu symbolischem Ausdruck gelangt ist?