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2

»Wenn das mit dem Engel nicht wäre, ich würde das Bild nicht malen«, sagte Francisco zu Juan Llorente, mit dem er auf einer Bank im Schatten einer Ulme saß, im Garten des Landhauses.

Der Kanonikus, nun auch ein Siebziger und ein wenig müde geworden, schrie nicht gerne und schrieb darum seinen Anteil an dem Gedankenaustausch auf Papier – bedächtig und sorgfältig, als arbeite er für den Druck: »Nur eines der vier Evangelien berichtet von dem Engel, aber die Szene ist immer so gemalt worden. Solche Lücken und Widersprüche machen der Theologie seit vielen Jahrhunderten zu schaffen, man könnte sagen: davon lebt sie.« Er liebte es noch immer, wenn ihn kein Amtsgenosse hören konnte, den Skeptiker zu spielen.

Nachdem er in dem von der Bank aufgenommenen schwarzen Buch geblättert hatte, fuhr er mit seinen Formulierungen fort: »Müßten wir Matthäus und Markus allein zugrunde legen, so wüßten wir nur vom Zittern und Zagen der in den Tod betrübten Seele, dem Schmerz, sich von den treuesten Jüngern verlassen zu sehen, weil sie nicht die Kraft aufbrachten zu wachen. Der Schluß wäre unabweislich, daß der Betende trotz dreimaliger Anrufung des Vaters sich ungetröstet erhoben hätte.«

»Johannes, sagst du, schweigt über die ganze Anfechtung?«

»Ja. Stell dir die Ratlosigkeit der Theologen vor. Die Evangelien sind inspiriert, berichten alle vier die reine göttliche Wahrheit. Johannes aber gibt die Erzählung so, als habe kein Gebet im Garten Gethsemane stattgefunden ... Man sagt, es handle sich vielleicht um ein Versehen der Abschreiber – der Urtext müsse einige Zeilen darüber enthalten haben. Eine interessante Frage übrigens, ob auch die Abschreiber unter dem Einfluß der Inspiration standen, unter Ausschluß von Kopierirrtümern also, oder ob alles von ihrer zufälligen Persönlichkeit abhing.«

Als er die Sätze Francisco zu lesen gab, beobachtete er die Wirkung nicht ohne eine Spur eitlen Lächelns, das zugleich zum Einstimmen in die skeptische Betrachtungsweise aufmuntern sollte, und war darum enttäuscht, als nur die sachliche Frage kam, was er selbst über die Lücke bei Johannes denke.

Seine einzige Antwort bestand in einem Achselzucken und einem geheimnisvollen Spiel der Spottfalten. Es gibt gewisse Dinge, über die ich auch mit dir nicht sprechen kann, schienen diese Gebärden wieder einmal andeuten zu wollen.

Das machte Francisco ein wenig ärgerlich, aber er hielt sich zurück und bemerkte trocken: »Ich halte mich also an Lukas.«

»Das wird nötig sein, da die beiden andern von dem Engel nichts erfahren haben oder aber nichts von ihm sagen wollen. Zweimal der gleiche Fehler der Kopisten – das würde nicht einleuchten. Was diesen Standpunkt des Nichtsagenwollens angeht, so vertritt ihn der, der hier eigentlich aus dem Spiel ist, Johannes, am Schluß seines Evangeliums in nachdrücklicher Weise, indem er sagt: Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat, wenn sie aber alle aufgezeichnet würden, so glaube ich, die Welt könnte die Bücher, die zu schreiben wären, nicht begreifen.«

Seltsam, wie sich sein Gesicht jetzt veränderte: hinter der Ironie des Intellekts kam plötzlich das Leuchten einer leidenschaftlichen Überzeugung zum Vorschein, die von einem Hauch mystischen Glaubens umflossen war. Und da er Franciscos Blick auf sich ruhen fühlte, schöpfte er nun auch Worte aus dieser Tiefe, ungehemmt von Rücksichten und Vorbehalten: »Jedesmal, wenn ich die Stelle lese, meine ich, es sei der Menschheit ein großes Unglück und Unrecht damit widerfahren, daß jene Bücher nicht geschrieben worden sind. Gerade unter dem, was der Evangelist als für die Welt unbegreiflich angesehen hat, müssen sich die aufschlußreichsten Lehren und Taten Jesu befunden haben. Was uns unwiederbringlich verloren ist durch den Urteilsspruch dieses Biographen, wäre geeignet gewesen, viele Zweifel aufzulösen und – dem Glauben zum beträchtlichen Teil einen anderen Inhalt zu geben. Aber hier liegt der entscheidende Punkt: schon zu jener Zeit muß es Dogmatiker gegeben haben, die den Glauben in eine ganz bestimmte Form zu pressen verstanden. Was irgendeinem Bischof nicht paßte, wurde als unbegreiflich ausgestrichen. Und was uns geblieben ist – schwankt.«

Während Francisco las, wiederholte Juan das Geschriebene mit der Sprache, als könne er so seiner Meinung größeres Gewicht geben. Dann schwieg er nachdenklich.

»Seltsam, daß du das Heil gerade in dem erblicken willst, was du nicht besitzest«, erwiderte Francisco. Er sah des Freundes abweisende Miene, die zeigte, wie sehr er sich mißverstanden fühlte, besorgte zudem, man könnte jetzt allzuweit von dem Gegenstand abkommen, der ihm in diesem Augenblick der wichtigste von allen war. Und so fügte er bei: »Die Erscheinung jenes Engels mag von Johannes zu den unbegreiflichen Ereignissen gerechnet und darum verschwiegen worden sein – überliefert ist sie immerhin.«

Juan brauchte ein paar Augenblicke, um zurückzufinden. Etwas nervös knöpfte er an seiner gut geschnittenen Soutane herum. »Auch bei Lukas«, schrieb er dann, »gibt es noch eine Seltsamkeit. Nach dem Vers nämlich ›Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn‹ setzt sich der Leidenskampf fort, noch heftiger als zuvor: es wird von einem Ringen mit dem Tod und von blutigen Schweißtropfen gesprochen. Es ist, als sei die Stärkung durch den Engel plötzlich wieder vergessen.«

»Einerlei«, rief Francisco mit Leidenschaft, »er hat den Engel gesehen und das Licht, in dem er kam. Von diesem Licht scheint nichts beim Evangelisten zu stehen, aber ein Engel kann nicht anders als im Licht, im blendenden Licht erscheinen. Nachher mag sich ereignet haben, was will, selbst ein neuer Ausbruch der Verzweiflung – siegen wird das Wissen, daß das Licht da ist und daß es möglich sein muß, zu diesem Licht zu gelangen.«

Juan Llorente schaute ihn erstaunt an. Eher hätte er erwartet, Francisco werde von Dämonen reden als den geheimen Urhebern jeglicher Anfechtung. »Ich begreife«, sagte er dann sehr laut, des Schreibens nun doch überdrüssig, »du brauchst das Licht, sonst kannst du die Szene nicht malen.«

»Ich habe in diesem Augenblick nicht ans Malen gedacht. Verstehst du nicht, wie wichtig es ist, daß er das Licht schaut oder sich des Lichtes wieder erinnert?«

Llorente deutete ein Kopfnicken an, das als von Bedenken nicht ganz freies Einverständnis aufgenommen werden wollte.

Francisco aber glitt scheu und schnell auf Juans Betrachtungsebene hinüber und bestätigte, daß das Licht und der Engel für das Bild von ausschlaggebender Bedeutung seien, der Maler vermöchte dem Thema sonst nicht beizukommen.

»So werde ich also den Bescheid bringen«, sagte Juan, indem er sich erhob, »daß du den Auftrag annimmst.«

»Und daß ich ihn sofort ausführen werde.«

 

Dem Bild, Bestellung eines Bürgers, der es der Kirche San Antonio Abad zu stiften beabsichtigte, gab Francisco bescheidenen Umfang, um jede Äußerlichkeit der Wirkung sicher zu vermeiden. Er schilderte weder die Jünger noch kaum den Garten, nur dies:

In tiefer Finsternis kniet Jesus, das Antlitz spiegelt abgründige Verzweiflung des Menschenschicksals, der Mund ist halb geöffnet, die Arme breiten sich aus, die Augen richten sich in letzter, wilder Hoffnung empor. Von links oben bricht der Lichtstrom herein, schräg auf ihn zu, der Lichtstrom mit dem Engel, der ihm den Kelch entgegenstreckt.

Der Besteller, von der Gewalt des Werkes angerührt und stolz auf den Beifall der Geistlichkeit von San Antonio Abad, gewann Francisco durch den Kanonikus Llorente für ein zweites Werk, das dieselbe Kirche schmücken sollte. Er wünschte sich die Darstellung einer legendären Begebenheit aus dem Leben des heiligen Joseph von Calasanz, des Stifters frommer Schulen, und Francisco wählte die die Stunde vor dem Tod, die Darreichung der letzten Kommunion.

Diesen Todeskampf, das letzte Ringen eines Leidenden, der jetzt nichts ist als Mensch, schilderte er als fast beendet, es ist nur noch der abgezehrte Körper, der kämpft. Während die um das Schmerzenslager gescharten Freunde vor Mitangst und Mitleiden aufgewühlt werden und ein Priester die Hostie, Stärkung und Wegzehrung, bringt, hat der Geist des Sterbenden schon gesiegt: er sieht das Licht.

Um dieses Lichtes willen befaßte er sich mit dem Heiligen. Denn der Kampf zwischen den Mächten des Lichtes und des Dunkels war für ihn nicht mehr durch einen Sieg des Dunkels entschieden: er sah jene Sendboten der Vernichtung vor dem Lichtbewußtsein sich abwenden und zerrinnen. In hundert Erscheinungen hatte er den Jammer der Menschheit festgehalten. Jetzt wollte er ein zweitesmal, in gewichtiger Sprache, für den Sieg des Lichtes zeugen.

Doch er zweifelte, ob er in dem Lichtstrom eine überirdische Gestalt sichtbar machen sollte. Die Legende besagte, der Sterbende habe den Himmel offen gesehen. Was hätte sich da anderes als hergebrachtes kirchliches Schema, als die ärmlichen Gestalten üblicher Paradiesesversprechungen malen lassen? In seinem tiefsten Innern fand er eine ferne, ferne Anschauung von Lichtwesen, unfaßbar jeglicher Gestaltung. Er entschied, daß, selbst wenn es möglich sei, sich ihnen zu nähern, für ihre Wiedergabe als Form keine Ausdrucksmittel daseien. Dämonen lassen sich malen, leichter als gut ist – Engel, Lichtgenien, Gottwesen sind undarstellbar. Aus dem Engel von Gethsemane ist eine helle Menschengestalt geworden, von feuriger, stürmischer Bereitschaft zu helfen, aber – sind so Engel?

Und so ließ er denn nichts als Licht, so rein und so geheimnisvoll in seinem Ursprung er es immer zu malen vermochte, auf den Heiligen einströmen – auch diesmal schräg von oben.

Leicht, befreit legte er die Pinsel beiseite.

 

Es war ein heißer Sommer und die Zisterne im Garten bis zum Grund ausgeschöpft. Ein Wasserträger schaffte morgens und abends zwei aus einer Quelle gefüllte Eimer herbei. Francisco sah ihn kommen und rief ihm, da niemand im Haus war, aus dem Fenster, er möge seine Last in der Küche abstellen und ihm einen Krug Wasser in die Werkstatt bringen.

Der Mann kam und bat, während Francisco den Krug ohne Umstände an den Mund setzte, um die Erlaubnis, das auf der Staffelei stehende Bild zu betrachten. Es dauerte nicht lange, bis er den Gegenstand in sich aufgenommen hatte, und nun senkte er sich, ohne ein Wort zu sprechen, in die Knie nieder. Er ließ das Bild nicht aus den Augen, und es schien nicht, daß er betete – jedenfalls bewegte er die Lippen nicht, es war nichts anderes, als daß das Bild ihn andächtig stimmte, ergriff und daß Andacht und Ergriffenheit ihm keine andere Haltung als die des Kniens erlaubten.

Dann kam ihm wohl der Ort und des Malers Gegenwart zum Bewußtsein: er erhob sich und bat mit einem kaum verlegenen, für Francisco unhörbaren Wort um Entschuldigung – vielleicht fand er es nachträglich ungehörig, in einem fremden Zimmer niederzuknien.

»Das ist sehr schön und fromm«, sagte er dann, »es muß sehr schön sein, so etwas malen zu können.« Er erinnerte sich jetzt, als er Franciscos unsicheres Gesicht sah, an dessen Taubheit und wiederholte den letzten Satz sehr laut.

Da schaute das Gesicht sehr zufrieden drein und nickte.

Mit einem Gruß entfernte sich der Wasserträger. Francisco rief ihm nach, er habe noch kein Geld für sein Wasser bekommen.

»Heute nicht, Señor«, kam es zurück, »es war genug Bezahlung!«

Francisco verstand ihn aus den Gebärden.

»Es ist mein schönster Erfolg«, sagte er glücklich zu Leocadia, die gleich darauf in ihrer unruhigen Art das Haus betrat.

Aber sie begriff nicht, was er an der Meinung eines Wasserträgers finden konnte.


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