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Es war verabredet, daß die Herzogin zwar in kleiner Begleitung, bestehend aus einem Haushofmeister, einem Kurier, zwei Kammerzofen, einem Koch, einem Lakaien und den Kutschern, doch in einer ihrem Stand entsprechenden Aufmachung, mit drei großen Wagen also, einem sechs- und zwei vierspännigen, die Reise antreten, Francisco jedoch die Stadt zur Vermeidung überflüssigen Aufsehens vierundzwanzig Stunden später zu Pferd verlassen werde. In Toledo wollte man dann zusammentreffen, um von dort aus gemeinsam zu reisen. Franciscos Gepäck wurde unauffällig schon in Madrid in den herzoglichen Fuhren mit verladen.
Don José, der Marqués, bat seine Gattin etwas verlegen dafür um Verzeihung, daß er, jedenfalls vorläufig, zurückbleibe. Seine Musikstudien ließen sich in San Lúcar de Barrameda schlecht weiterführen, brachte er vor, es würde ihm dort an Anregung, vor allem am Umgang mit Musikern von Fach fehlen. Außerdem werde seine Anwesenheit am Hof die Ausbreitung des Klatsches verhüten und könne auch ihr, Cayetana, nur nützlich sein. »Schließlich hast du dir den unangenehmen Zwischenfall selbst zuzuschreiben, meine Liebe, ich würde dir, hättest du mich ins Vertrauen gezogen, von der Sache abgeraten haben. Übrigens gestehe ich, daß ich ihre Zusammenhänge und Hintergründe noch immer nicht recht durchschaue ... Gewiß, ganz wie du willst: sprechen wir nicht mehr davon.«
Er riet dann auch von dem sechsspännigen Wagen ab, denn es gab eine Verordnung, die das Vorspannen von sechs Pferden oder Maultieren ausschließlich den Majestäten vorbehalte.
Cayetana erklärte, sie bedaure, seine Begleitung entbehren zu müssen, habe aber keinen Augenblick damit gerechnet. Was den sechsspännigen Wagen anlange, so gelte jenes Verbot nur für Madrid und die anderen Hofresidenzen, da sie aber Madrid und den Hof verlasse – worüber gerade die Majestäten nicht im Zweifel seien –, könne sie auch acht- oder zehnspännig fahren, falls es ihr beliebe.
Sie hoffte, der Königin durch diese großspurige Abreise noch einen Nadelstich versetzen zu können.
Der Schlaf war kurz, der Ritt scharf und lange. Toledo, seit einer Stunde auf der kahlen, verbrannten Ebene aufgetaucht, stand steil über eine mächtige Felstafel gewölbt vor dem Reiter – finster trotz der mildernden Abendsonne des klaren Herbsttages.
Langsam lenkte er das Pferd durch staubige, schmutzige Vorstadtgassen und ritt, nach kurzer Verhandlung mit den Wächtern, müde durch ein von zwei schweren Türmen flankiertes, nach maurischer Art hufeisenförmig gewölbtes Tor ein, das sich Sonnentor nannte. Das Katzenkopfpflaster war zu solcher Glätte abgeschliffen, daß er absteigen und das Pferd am Zügel führen mußte.
Er erkundigte sich, wo die Herzogin Quartier genommen habe, und erfuhr, sie wohne im Adler von Kastilien, doch seien ihre Wagen, für die sich die holprigen Straßen von Toledo nicht eigneten, vor einem anderen Stadttor in der Herberge Zum Blut Christi untergestellt. Man gab ihm einen Knaben mit, der ihm das Gasthaus Zum Adler von Kastilien zeigen sollte.
Sie durchschritten gewundene Gassen zwischen vielstöckigen, durch ihre Fensterarmut unheimlichen Häusern, da und dort ließ einer der dicht mit Nägeln beschlagenen Türflügel einen Blick frei auf die arabischen Säulen und grünenden blühenden Pflanzen der Höfe. Dann kamen Mann, Knabe und Pferd an sehr hohen, aus dunklen Backsteinen gefügten Klostermauern vorüber und an Kirchen, deren Türme aus Hufeisenfenstern fremdartig herniederblickten.
Der Wirt des nicht eben üppigen Gasthauses empfing den Herrn Kammermaler von Goya mit vielen Bücklingen und vielen Entschuldigungen wegen der Bescheidenheit seines Hauses, da indes gerade jetzt eine sehr hochgestellte Dame, die sich hinter dem Namen einer Marquesa Soundso verberge, vorliebnehme, werde gewiß auch Seine Exzellenz ... und wie das so weiterging.
Nachdem er in einem Waschzuber gebadet hatte, ließ sich Francisco feierlich bei der Herzogin melden, die ihn längst hatte ankommen sehen.
»Wir werden ein unbändiges Maß von Freiheit haben«, sagte sie strahlenden Gesichts, faßte ihn bei beiden Ohren und küßte ihn auf den Mund.
Das erste, wovon sie lachend erzählte, waren die Wanzen, die ihr nachts den Schlaf sauer gemacht hatten, und die Geschichte der Beschwerde beim Wirt. Alfonso nämlich, der Haushofmeister, sei, um sich höflich gewissermaßen auf eine Andeutung zu beschränken, wegen der Belästigung seiner Herrin durch Flöhe vorstellig geworden und habe schließlich dem Wirt, der ihn entrüstet zurückwies, zwei zerdrückte Insekten unter die Augen gehalten. »Stell dir vor, was der stolze Caballero zur Antwort gab! ›Das sind Wanzen, Señor, einfache Wanzen! Flöhe gibt es in meinem Hause nicht!‹«
Dann brannte sie unverzüglich eine seit vierundzwanzig Stunden vorbereitete Überraschung wie einen Feuerwerkskörper ab: aus dem Nebenzimmer, wo sie von den Zofen betreut worden waren, liefen, ein wenig schüchtern noch, zwei vielleicht fünfjährige, mit nichts als einem grellgelben Höschen bekleidete Negerkinder auf sie zu. Den Knaben legte sie Francisco in die Arme, das Mädchen drückte sie zärtlich an sich. Zwillinge seien sie und Waisen aus Oran, der vor kurzem von einem Erdbeben zerstörten Stadt, von frommen Schwestern nach Spanien gebracht. Sie habe die Kinder auf der Straße spielen sehen und sich entschlossen, sie aufzuziehen. Zu diesem Zweck nehme sie sie vorerst einmal mit nach San Lúcar.
Francisco war von dem Kontrast zwischen Cayetanas hellen, edelgeformten Händen und dem schwarzen strampelnden Wesen hingerissen.
Der folgende Tag war ein Sonntag, und die Herzogin bestand darauf, vor der Weiterreise die Messe zu besuchen. Francisco begleitete sie.
Als sie sich der Kathedrale näherten, sahen sie entzückt den ebenmäßigen Turm mit den drei einander überkrönenden Strahlenkränzen seines Helms. Tiefblau war die Luft.
Dann umfing sie der Kirchenraum mit dem riesigen Mantel seiner farbengesättigten Dämmerung, in die durchsonnte Glasbilder hineinblendeten, so daß das Auge zuerst kaum etwas anderes als die dunkle Zeichnung edlen Gitterwerks unterschied. Unter silbernen Ampeln schritten sie zwischen den Betern auf den mächtigen Hochaltar zu. Golden glänzten die Baldachine seiner Holzfiguren, golden die schweren Gitter und die Rippen des ihn überdachenden Gewölbes, golden die Stickereien der von hoch oben herabhängenden blauseidenen Fahnen und der priesterlichen Meßgewänder. Bläulicher Weihrauch dämpfte den Schimmer mit dem geheimnisvollen Schleier seiner zerstreuten Schwaden. Eine Orgel klang in die Gesänge des Hochamts hinein.
Cayetana, in eine schwarze Spitzenmantilla gehüllt, kniete nieder. Francisco trat ein wenig zurück, um ihre schöne, auch in der demütigen Gebärde stolze Gestalt auf dem goldbunten Hintergrund zu betrachten. Die Einfachheit dieses Schwarz, obwohl sie sie mit vielen andern Frauen teilte, schien ihm vornehm, königlich. Er wünschte sich ihr Gesicht, ihre Hände in das Bild hinein, aber sie wandte sich nicht um.
Langsam nahm ihn der gottesdienstliche Ritus gefangen: die gemessenen Bewegungen der Priester, die ehrwürdigen Meßbücher, die feierlichen, in ihrer Unveränderlichkeit wie eine Reihe silberner Statuen vorüberziehenden Worte, ihm seit der Kindheit vertraut, die Musik, die unter Kerzen funkelnde Sonne der Monstranz, die geheiligte Form des Kelches ...
Er hielt jede gedankliche Anschauung der religiösen Dinge von sich fern und gönnte seinen Sinnen ein Fest. Es waren ja die Sinne des Künstlers, nicht die des Gläubigen. So kam es zu einer seltsamen Antwort, als ihn Cayetana beim Verlassen der Kirche fragte, ob er heidnische Gedanken gehabt habe. »Vielleicht bin ich Atheist«, sagte er, »aber einer mit katholischen Augen.«
Kurz danach passierte der sechsspännige Reisewagen der Herzogin, denen der Dienerschaft in gemessenem Abstand folgend, die Alcántara-Brücke, die, von Wehrtürmen geschützt, das Schluchtbett des trägen, grünen Tajoflusses mit einem einzigen gewaltigen Bogen übersprang. Düsterer, steiler noch als bei der Einfahrt bot sich Toledo dar, die alte Hochburg kirchlicher Macht.
Cayetana gegenüber saß Francisco.
Einige Tage später verließen sie am Morgen das ganz in Weingärten eingebettete Städtchen Santa Cruz de Mudela, um zu guter Stunde die Paßhöhe des Morenagebirges und noch am selben Abend eines der Dörfer zu erreichen, die vor einigen Jahrzehnten deutsche Kolonisten am Abstieg nach Andalusien anzulegen begonnen hatten. Wie auf der ganzen Reise war die Dienerschaft vorausgeschickt worden, um die Quartiere einigermaßen in Ordnung zu bringen und mit den unterwegs eingekauften Lebensmitteln selbst die Küche zu bestellen.
Der Tag war klar und kühl. Langsam zogen die sechs Maultiere auf der anfangs gutgehaltenen, später aber immer holprigeren Straße den schweren Wagen bergan.
Mittags ließ man halten. Die Tiere wurden an einem Bach getränkt. Cayetana und Francisco lagerten sich im Freien an einer sonnigen blumenbestandenen Halde zwischen Wäldern und Felsen und hielten ihr Mittagsmahl. Beglückt von Luft und Landschaft, verweilten sie lange, schliefen schließlich in Decken gehüllt unter einer Buche. Der Kutscher mußte zum Aufbruch mahnen.
Bald stieg die Straße steiler, als die Reisenden in Rechnung gestellt hatten. Man kam nur mit Schwierigkeiten voran. Der Abend sank, und die Paßhöhe war noch nicht gewonnen.
Der Kutscher glaubte sich ihr schon nahe, als ein plötzlicher, von starkem Kreischen der Räder begleiteter Ruck den Wagen anhielt. Francisco stieg aus, der Kutscher und der Bediente schwangen sich vom Bock. Nach einigem Suchen stellten sie im letzten Licht des Tages eine starke Verbiegung der Vorderachse fest.
Ein kalter Wind blies. Die Aussicht, hier oben nächtigen zu müssen, war peinlich. Wohin sich wenden? Ein paar Meilen zurück lag wohl ein Haus, aber es war unbewohnt. Wieviel die Entfernung zu den deutschen Dörfern betrug, wußte niemand so recht; nahe waren sie sicher nicht. Die beiden anderen Wagen befanden sich in unerreichbarer Ferne, damit, daß der Haushofmeister in der Nacht zurückführe, um nach den Ausbleibenden zu suchen, konnte man nicht rechnen.
Also sich selbst helfen, den Wagen in Ordnung bringen ... Der Kutscher erklärte das für völlig unmöglich, die Ausbesserung könne nur in einer Schmiede vorgenommen werden. In Francisco regten sich Widerspruchsgeist, Kraftgefühl und der Wunsch, Cayetana aus der mißlichen Lage zu befreien. Er ordnete an, daß die Achse abgenommen werde. Murrend fügten sich Kutscher und Bedienter, Francisco half dabei, das Vorderteil des Wagens zu heben und mit Steinbrocken zu stützen. Es war eine mühsame, schwere, langwierige Arbeit.
Sie entzündeten ein Feuer, nachdem sie glücklicherweise, von Laternenschein unterstützt, unweit vom Wege genügende Mengen trockenen Holzes aufgefunden hatten. Cayetana saß in Mantel und Decke gehüllt auf einem Stein und schaute zu.
Nachdem es gelungen war, die verbogene Achse abzunehmen, steckte sie Francisco in die lodernden Flammen, bis das Eisen schließlich zu glühen anfing. Nun bemühte er sich unter dem Kopfschütteln der beiden anderen Männer, es mittels einer Zange und eines Hammers, die der Kutscher mit sich führte, auf dem Steinblock geradezuschmieden. Alle Versuche mißlangen, er hatte die Kraft des Feuers, die der Werkzeuge und seine eigene überschätzt. Mißmutig, sehr erhitzt, ging er hin und her, während die Herzogin den Schutz des Wagens aufsuchte.
Das Feuer sank in sich zusammen, und Franciscos Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Er sah die Sterne so klar, wie er sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu haben, in einem dunklen Rahmen von Wänden und Zacken – aus dem Grund eines steinernen Kessels heraus. Die Milchstraße spannte sich quer über das knappe Himmelsfeld, ihr Scheitelbogen schnitt fast den Zenit. Er suchte sich zu orientieren, Leandro Moratin hatte ihm ein paarmal die wichtigsten Sternbilder gewiesen, aber bei dieser Reinheit der Luft war es schwer, die bekannten Figuren aus den verwirrend vermehrten Haufen herauszulösen. Zu seinen Häupten fand er die Zickzacklinie der Cassiopeia und weiter östlich den spitzen Winkel des Stierkopfes mit dem roten Aldebaran, dazu den diamantenen Stern Capella.
Es war das erstemal, daß er in der einsamen Nacht einer Gebirgshöhe stand, und die Größe der Sicht rührte ihn stark an. Durch das Verschwinden der Einzelheiten nicht im Unsicheren, sondern in einer fast atmosphärelosen Klarheit wurde das Auge und wurden die inneren Sinne zum Erfassen der gewaltigen Weite gezwungen. Dies sind die großen Umrisse der Welt, dachte Francisco und fühlte seine Schöpferkräfte in sich brausen, niemals kann man mehr schaffender Künstler sein als an solchem Ort und in solcher Stunde: niemals bescheidener, weil die Grenzen von Leinwand und Papier einschrumpfen, niemals stolzer – aus dem Bewußtsein der Verwandtschaft mit nächtlichen Berggipfeln und Sternen.
Der Wind blies, Francisco tauchte aus dem Hochgefühl in die Kälte, zwang sich aus der Kälte wieder zur Schau der Nacht. Doch das Funkeln der Gestirnwelten schien ihm bald zu frostig, als sei es das Glitzern von Eiskristallen. Er hörte die Maultiere schnauben und sah sie dampfen.
Dieses Lebendige zog ihn in die Gegenwart zurück. Er wußte wieder, daß er nur wenige Schritte von Cayetana getrennt sei, es war einen Augenblick lang wie eine süße, neue Entdeckung. Er stieg in den Wagen. Sie hatte, von Decken umhüllt, schon zu schlummern begonnen.
In rascher Steigerung pfiff der Sturm. Sie riefen den Kutscher und den Bedienten, die in großen Schritten die Straße auf und ab gingen, zu sich in den geschützten Raum. Die beiden Männer begannen mit Entschuldigungen, daß sie störten, und schimpften dann einige Zeit über das schlechte Material und die schlechte Straße, bis ihr Brummen in Schnarchen überging ...
Francisco fröstelte noch immer und glaubte gegen Morgen Fieber zu fühlen, einigemal glitt er für Minuten in unruhigen Halbschlaf. Als er durchs Fenster die Sichel des abnehmenden Mondes hinter einer Felsspitze heraufschweben sah, erschrak er und weckte Cayetana. Sie lachte aus der Schlaftrunkenheit und genoß das Schauspiel.
Bei Tagesanbruch entschlossen sich die Herzogin und Francisco, den Weg zum Dorf und zu den beiden anderen Wagen auf Maultieren zurückzulegen. Der Bediente begleitete sie, seinem Tier war auch die Achse übergehängt. Der Kutscher mußte bei dem lahmen Wagen, dem Gepäck und den drei anderen Mäulern Wache halten.
Gleich jenseits der von schroffen Schieferfelsen gebildeten Schlucht des Passes trafen sie auf Alfonso, der ihnen in großer Besorgnis entgegengeritten kam.
In dem kleinen Dorf Santa Elena gab es ordentliche Betten.
Nach vierundzwanzig Stunden konnte die Reise fortgesetzt werden – freilich nicht in dem beschädigten Wagen, an dem sich bei Tageslicht noch ein weiteres Übel herausstellte. Man fand ein bescheidenes Fuhrwerk zu kaufen und behalf sich, die Herzogin ordnete an, daß die Geschwindigkeit der Weiterfahrt durch mehrmaligen Wechsel der Zugtiere so sehr als möglich beschleunigt werde, denn Francisco fühlte sich krank.
Er begann unter Ohrenschmerzen zu leiden. Das drückte ihn nieder, er sprach davon, daß er als Fünfzehnjähriger eine lästige Ohrenkrankheit durchgemacht habe und daß damals die Sache erst nach längeren Wochen wieder in Ordnung gekommen sei.