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4

Carlos der Dritte mußte erkennen, daß der Himmel seinen täglichen Jagdpartien ein Ende gesetzt habe. Er lag im Sterben.

Der Thronfolger verließ das Zimmer des Kranken, in dem er eine Viertelstunde lang geweilt hatte. Die hohen Prälaten und Hofbeamten wußten aus den Nebenräumen genügend zu lauschen, um sich alsbald den Inhalt des Gesprächs zwischen Vater und Sohn zuflüstern zu können: Der Sterbende hat dem künftigen Herrscher mit seiner letzten Kraft ans Herz gelegt, keinen der im Amt befindlichen Minister zu entlassen, sondern aus ihrem erprobten Rat so lange wie möglich Gewinn zu ziehen. Der Prinz von Asturien hat die Befolgung des Wunsches gelobt.

Sofort bildeten sich Parteien unter den Hofleuten, denn es gab nun Sichergewordene und Enttäuschte. Die Ministeranwärter unter den Anwesenden bekamen zu spüren, daß man sich weniger für sie interessierte, während die mit einem amtierenden Kabinettsmitglied Befreundeten sich plötzlich einer zunehmenden Wärme der Höflichkeiten erfreuen durften.

Der aus dem Sterbezimmer Tretende, man nannte ihn schon den neuen Herrn, stand vor der Vollendung des vierzigsten Lebensjahres. Die wasserblauen gutmütig-einfältigen Augen und die fetten Züge bemühten sich in dieser Stunde noch mehr als sonst um den Anschein ernster Würde, und die Haltung des Körpers beteiligte sich daran, so gut es ging: da der Infant zuviel zu essen pflegte, waren auch Rumpf und Glieder keineswegs straff trotz der leidenschaftlichen und regelmäßigen Ausübung der Jagd. Der Hof wußte, daß diese Betonung der Würde in gelegentlichen Wutausbrüchen und in Raufereien mit Bauern oder Stallknechten, auch in manchen anderen im Zeremoniell nicht vorgesehenen Handlungen ihre Grenze fand, aber im ganzen genommen erwartete man von Carlos, der sich nun binnen kurzem der Vierte wird nennen dürfen, keine Überraschungen. Selbst Uhren sammelte er wie der Vater. Nichts wird sich in Spanien verändern.

Fast alle hohen Beamten und Würdenträger dachten so. Sie waren schlechte Propheten.

 

In der Nähe des Sterbenden stehen einige seiner Lieblingsuhren. Jetzt beginnt ihm davor zu grauen, daß jede von ihnen in einer ihrer Ziffern das Signal seiner letzten Stunde bereit hält. Er kann das Vorrücken der Zeiger nicht ertragen und befiehlt mit schwacher Stimme, die Uhren wegzubringen. Kammerdiener huschen.

Aus dem Kreis der erneut um sein Lager Gescharten, denen sich auch der Prinz von Asturien wieder beigesellt hat – sie alle tragen Galauniform –, tritt der Patriarch von Indien an das Bett. Die von dem König gewünschten Reliquienschreine sind herbeigeschafft worden. Sie enthalten die Gebeine des heiligen Isidro und der heiligen Maria de Cabeza: zwei tote Heilige am Lager des Sterbenden. Der Kardinal führt behutsam die Hand, die die Schreine berühren will. Der König betet inbrünstig.

Dann bemüht er sich nochmals, zu Ohren des Kardinals, dem er vor einigen Stunden die Beichte abgelegt hat, das Fazit der religiösen Bemühungen seines Lebens zu ziehen. Das Gesicht vermag er dem Beichtiger nicht mehr zuzuwenden, weil ihn das Rot des Gewandes in den Augen schmerzt. Von den Kirchen und Klöstern, die er gebaut, von den Riesensummen, die er ihnen zugewandt hat, braucht er nicht mehr zu sprechen – das war in Ordnung. Und vieles andere auch. Aber zwei Fragen beschäftigten ihn immer von neuem.

»Die Jesuiten«, flüstert er, »das war richtig gehandelt, das sind keine Mönche, keine wahren Priester gewesen.«

»Der Heilige Vater hat Eurer Majestät recht gegeben, wir wissen es alle«, beruhigt ihn der Patriarch, »hier ist keine Sünde!«

»Aber die unbefleckte Empfängnis ... ich habe nicht erreicht ... daß sie Dogma wurde ... mein Streben war zu lässig ... ich habe nicht die richtigen Gesandten ausgewählt ... ich hätte selbst nach Rom pilgern müssen ...«

»Die Festlegung der Dogmen liegt in den Händen des Heiligen Vaters und der Hohen Konzile. Kein Laie, auch der höchstgestellte nicht, hat die Pflicht, auf diese Gestaltung einzuwirken. Darum kann auch keinen Laien, weder vor den Menschen noch vor dem Thron des allmächtigen Gottes, der Vorwurf treffen, er habe in dieser Hinsicht eine Unterlassung begangen. Auch hier ist keine Sünde, mein Sohn!«

Nun dreht Carlos doch nochmals den Blick zu ihm und sagt leise mit fast heiterer Miene: »Ich habe die Rolle des Königs gespielt – diese Komödie ist zu Ende.«

Die Hofchargen senken den Blick, als wolle einer vor dem andern verbergen, daß er diese Worte gehört hat.

Während der Prälat zurücktritt, ohne zu antworten, schweifen Carlos' Augen, so gut sie es noch vermögen, im Halbkreis durchs Zimmer – gequält und flackernd. »Warum ... laßt ihr mich ... nicht allein sterben?« flüstert er. »Kein Reh ... läßt sich zusehen ...«

Hört es niemand oder will es niemand hören? Ohne ausdrücklichen Gegenbefehl des Prinzen von Asturien hat jeder einzelne die Pflicht der Anwesenheit.

Der König scheint einzuschlummern.

Aber man täuscht sich. Er wartet nur, schlägt die Augen wieder auf. »Ich, der König ...« Er vermag den Befehl nicht zu Ende zu sprechen.

Wieder scheint er zu schlafen. Wieder kehrt ein Funke Kraft zurück. »Wenigstens diese ... soll gehen ...« Dieses Flüstern ist deutlicher, die Richtung des Blickes eindeutig. Er zeigt auf die Prinzessin von Asturien.

Dieser Blick ist des Hasses, des Abscheus nicht mehr fähig. Aber Ablehnung jeder Gemeinschaft mit dieser Frau liegt darin, Ablehnung aus einer Seele heraus, die ganz einfach geworden ist und keine Maske mehr kennt. Die Augen reißen sich auf, der Blick sieht nun durch die Menschen hindurch, als seien sie Rauch, und füllt sich mit einem starken schmerzlichen Licht, das wie ein Widerschein aus den Hintergründen des Schicksals ist. Und wird langsam wieder stumpf.

Niemand rührt sich. Maria Luisa selbst verändert keine Miene. Aber es wagt auch niemand, laut zu atmen.

Der Thronfolger ist wohl der einzige, der nicht begriffen hat, durch das Gespräch mit dem Vater weich geworden, bedenkt er, es sei seine Pflicht, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. »Wir haben dich nicht verstanden, Vater«, sagt er, in der intimen Anrede die Umgebung vergessend.

In diesem Augenblick tritt der Apostolische Nuntius ein, um den Sterbenden im Namen des Papstes Pius des Sechsten zu segnen.

 

Carlos der Dritte lag noch keine vierundzwanzig Stunden tot, als den Ministern, die sämtlich im Schloß anwesend waren, die Botschaft zuging, Ihre Majestät die Königin ersuche die Herren, sich binnen dreißig Minuten im Beratungszimmer zu versammeln.

Ihre Majestät die Königin ... Carlos starb als Witwer, es gab nur eine einzige Königin: die neue ... Keiner unter den Ministern unterließ es, den Kammerdiener darauf hinzuweisen, daß er sich wohl versprochen habe. Aber es stellte sich heraus, daß kein Irrtum vorlag.

Graf Floridablanca wurde von mehreren seiner Mitarbeiter beiseite genommen, sie fragten ihn unruhig, ob er wisse, was das zu bedeuten habe. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte er jedem einzelnen und verschwieg, daß auch er nicht orientiert war.

Pünktlich zur angesagten Zeit wurde die Flügeltür des Saales, in dem das Kabinett vollzählig wartete, aufgerissen. Doña Maria Luisa, von ihren Damen bis zur Schwelle geleitet, trat ohne Gefolge ein und schlug sofort mit energischer Bewegung den Trauerschleier zurück. Graf Floridablanca empfing sie ehrfürchtig, während die Tür sich schloß, sie nahm seinen Arm: er hatte sie zu führen. Und der gewandte Höfling stutzte einen Augenblick, zögerte ... Aber sie zog ihn mit, während sie sicheren Schrittes auf den mit der Königskrone geschmückten Prunksessel zuging, der den Beratungstisch von der Mitte aus beherrschte, und ließ sich nieder.

»Ich bitte die Exzellenzen, Platz zu nehmen.« Sie sagte es, als habe sie hundertmal Ministerbesprechungen vorgesessen.

Unter stummen Bücklingen ließ sich das Kabinett nieder.

Die Königin begann: »Es hat Gott gefallen, Seine Katholische Majestät Don Carlos den Dritten in die Ewigkeit abzuberufen.«

Die Minister, einen Nachruf erwartend, erhoben sich. Aber Maria Luisa, nach einem Augenblick ernsten Schweigens, bedeutete ihnen, sich wieder zu setzen. Und fuhr fort: »Vom Gesetz und von Gottes Gnade berufen, hat Seine Katholische Majestät Don Carlos der Vierte den Thron von Spanien und Indien bestiegen. So unaussprechlich tief des Königs Schmerz ist, so wünscht er doch im Interesse des Reiches und der Untertanen, daß die Staatsgeschäfte nicht unterbrochen werden. Dies ist der Grund, weshalb ich um Ihre Anwesenheit gebeten habe. Im Einverständnis mit dem König lade ich daher die Minister ein, sich viermal wöchentlich, montags, dienstags, donnerstags und samstags, zum Vortrag einzufinden. Die Besprechungen werden um fünfeinhalb Uhr des Nachmittags abgehalten, in der ersten Zeit mit sämtlichen Herren gemeinsam.«

Trotz dem knappen, trockenen Inhalt sprach sie die Sätze in einem etwas schnippischen Ton, der zugleich die Verblüffung der Angeredeten fast unmerklich verhöhnte. Sie wartete noch ab, bis sich das Kabinett in ergebener Entgegennahme des Befehls verbeugt hatte, dann erhob sie sich, grüßte: »Auf morgen, Exzellenzen!« und verließ den Saal.

Die Minister standen zunächst da wie ein Rudel Knaben, die alle eine bittere Arznei verschluckt haben und sich scheuen, einander die Peinlichkeit des Geschmacks einzugestehen. Nicht nur Form und Inhalt der Mitteilung hatten ihre Gedärme beleidigt, sondern auch die Kürze, die Unvollständigkeit. Sie hätten zum mindesten erwarten dürfen, daß ihnen erklärt würde, weshalb der König nicht selbst zu ihnen gesprochen hatte.

Auch empfanden sie alle sofort: die Szene, die sie eben erlebt hatten, war ein Symbol für vieles Künftige, für alles Künftige vielleicht, das sich unter der Regierung des neuen Königs ereignen würde, sie war die Ankündigung einer veränderten Arbeitsmethode, wenn nicht geradezu einer neuen Regierungsform.

Keiner wagte den Anfang damit zu machen, was in der Luft hing, in Worte zu fassen. Kritik an der Person Ihrer Majestät konnte man sich wohl gegenüber dem einen oder anderen Kollegen unter vier Augen leisten, aber im Plenum trauten die Herren einander nicht ganz. So flüchteten sie alle in eine ernstbetretene Miene, zu der der Tod des bisherigen Herrschers ja sowieso verpflichtete.

Graf Floridablanca rettete die Situation. Er sagte, ohne daß man sich wieder formell zu einer Sitzung niederließ, er wolle der Meinung der Herren nicht vorgreifen, aber ihm erscheine es selbstverständlich, daß für einen Diener der Krone Spaniens nichts anderes als eine Ehre darin liegen könne, von Ihrer Majestät der Königin Anweisungen entgegenzunehmen. Es lag ein leiser Spott in diesem Satz, wie man das von dem Grafen gewohnt war, aber ob sich der Spott gegen Maria Luisa richtete oder gegen die Mitarbeiter, die sich so leicht aus dem Gleichgewicht bringen ließen – das war nicht sicher zu entscheiden.

Die Herren neigten zu der ihnen günstigen Annahme, fanden überhaupt die Wendung sehr glücklich und fühlten die erste Erleichterung. Dieses wohltuende Gefühl steigerte sich bis zur gehobenen Stimmung, als der Präsident nochmals das Wort nahm und ausführte, das Kabinett dürfe sich wohl durch den soeben vernommenen königlichen Befehl implizite und ohne formellen Akt als in den Ämtern bestätigt betrachten ... Das war nun doch die Hauptsache. Man fühlte sich sicher im Sattel, brauchte vorläufig keine Intrigen zu fürchten. Was bedeutete demgegenüber eine kleine Komplikation der formellen Arbeitsbedingungen?

Zufrieden ging man auseinander, um sich wieder unter die flüsternden Gruppen zu mischen, die in den Vorräumen der den Toten beherbergenden Schloßkapelle voll geschäftiger Trauer umherstanden. All diese Vornehmen und Zugelassenen hatten hier zwar keinerlei Verrichtung, aber sie wollten einer vom andern gesehen werden, durchwärmt von dem Bewußtsein: Wo der tote König von Spanien aufgebahrt liegt, da habe ich nach Rang und Stand das Recht, anwesend zu sein ...

Unter denen, die an den flüsternden Gruppen vorüber in die Kapelle eintraten, war auch der stellvertretende Direktor der Akademie San Fernando, begleitet von seiner Gattin. Francisco schaute lange in das stille Gesicht des Königs, und der Anblick bewegte ihn sehr. Seltsam, seltsam, dachte er und sprach es beinahe vor sich hin: nun gleichst du doch deinem Bruder!

Was mag es sein, das die Züge der Toten veredelt? Es war das erstemal, daß diese Frage so deutlich auf ihn eindrang. Ist es nur die Erlösung vom Schmerz, das milde Ende des Erdenlebens – oder ist es der Anfang eines Neuen? Prägt ein Unsterbliches dem Körper in dem Augenblick, da es ihn abstößt, noch für die letzten Stunden vor seinem Zerfall das Merkmal einer höheren Bestimmung des Menschen auf? Vielleicht wird dem friedlich Sterbenden ein Anblick zuteil, der ihn noch in der letzten kurzen Lebensspanne beglückt – ein Anblick, so groß, daß ihn der noch mitten im Erdendasein Stehende nicht ertrüge ...

Er mochte Pepa den Gedanken nicht mitteilen, weil er eine verständnislose Antwort fürchtete – und da war man nun auch schon wieder mitten in der nüchternen Gegenwart mit ihren gesellschaftlichen und geschäftlichen Verpflichtungen. Es ließ sich nicht umgehen, der und jener wichtigen Persönlichkeit mit einem stummen oder geflüsterten Gruß zu huldigen: den Ministern, denen man vorgestellt war, und unter den Granden vor allem dem Herzog und der Herzogin von Osuna, den neuen Auftraggebern. Don Pedro Tellez Girón y Pacheco, Marqués de Panafiel. Duque de Osuna mit seiner offenen, fast burschikosen Freundlichkeit paßte schlecht in die Trauerstimmung, seine Kusine und Gattin, Doña Maria Josefa Girón y Borja, Condesa Duquesa de Benavente y Osuna, fühlte sich überall wohl, wo man Menschen traf. Sie war die ziemlich preziöse Seele des gastlichen Madrider Winterpalastes wie des vor den Toren der Hauptstadt gelegenen Sommersitzes Alameda und hielt darauf, jeden Maler, Dichter, Musiker von Bedeutung in ihrem Salon und bei ihren Festen zu sehen.

Man konnte wirklich nur ein paar Worte flüstern, und so fiel auch Pepa nicht aus dem Rahmen, die in solcher Umgebung selten etwas zu sagen wußte und sich darum meist zurückgesetzt fühlte, aber auf keine höfische Veranstaltung verzichten wollte.

Als die beiden das Schloß verließen, stieg die Herzogin von Alba aus ihrem Wagen. In ihrer Trauerkleidung ließ sich gewiß kein eigentlicher Verstoß gegen die Etikette entdecken, aber es waren jede Bauschung, jeder Besatz vermieden, die die Linienführung ihrem schönen Körper entlang unterbrochen hätten, und ein dünnerer Schleier ließ sich nicht leicht wählen. Sie schlug ihn auch noch zurück, wie damals in der Kirche, und forderte Francisco und Pepa auf, sie zu besuchen.

Francisco behielt das leichte, fremdartige Parfüm, das sie ausströmte, beim Weitergehen gegenwärtig – auch den Schnitt ihres Gesichtes, das vielleicht nicht schön war im strengen Sinn, aber von einer lebendigen bewußten Eigenheit. Dafür, daß er einmal Unmut über ihre Art empfunden hatte, nannte er sich jetzt einen Dummkopf.

 

Als die Minister am folgenden Abend das Beratungszimmer betraten, war neben dem Prunksessel des Königs ein zweiter aufgestellt.

Die Königin nahm an der Sitzung teil. Und das Kabinett vermochte sich nicht zu verhehlen, daß sie eine kluge Frau war. Der Ton ihrer Fragen war unbekümmert bis zur Dreistigkeit, doch was sie fragte, hatte Hand und Fuß, während der König meist schweigend zuhörte oder aber Bemerkungen fallen ließ, die ein beunruhigendes Unverständnis gegenüber dem Gegenstand der Beratung bekundeten.

Maria Luisa enthielt sich der ausdrücklichen Meinungsäußerung, schien sich nur orientieren zu wollen. Aber jeder wußte, daß das nur ein kurzer Übergang sei. Und sie fanden sich, auch Floridablanca, als von der königlichen Gewalt berufene und besoldete Diener der Krone damit ab, daß der einzige, jedenfalls der sicherste Weg, beim König etwas zu erreichen, über diese Frau gehe. Nun galt es zu erkunden, womit man sich am schnellsten bei ihr beliebt zu machen vermöge. Die Prinzessin von Asturien kannte man wenig. Die Königin von Spanien wird man bald durch und durch kennen. Eigentlich ein ganz amüsanter Dienst ...

Nach dieser ersten Kabinettssitzung empfing die Königin einen Kammerherrn, der ihr vertrauenswürdig und zugleich indiskret genug erschien, und legte ihm die Verpflichtung auf, ihr zweimal wöchentlich über den gesamten Hofklatsch Bericht zu erstatten.

Don Carlos aber pflog eine Besprechung mit dem Oberjägermeister, die ihm sehr am Herzen lag.

Oft genug hatte er sich beim Jagen in der Nähe der Hauptstadt darüber geärgert, daß man auf die bebauten Felder Rücksicht nehmen mußte. Zertrampelte man die Saat oder was es sonst war, so hatte man Scherereien. Die Bauern stellten unmäßige Forderungen, und was schlimmer war, sie wurden rebellisch. Natürlich, man kann sie einsperren, aber für einen fortschrittlichen Monarchen, der sich nicht als Tyrannen verschreien lassen will, ist das doch nicht die richtige Lösung.

Und da hatte er sich denn ein ausgezeichnetes System ausgedacht. Der verstorbene König wollte zwar nichts davon wissen, unverständlicherweise – aber jetzt befand man sich gerade in der richtigen Jahreszeit, um die Sache zu ordnen. Februar: auf den Feldern war noch wenig geschehen.

»Wir haben schon öfters darüber gesprochen, mein lieber van Ypersele«, sagte er zu dem kräftigen, blonden Oberjägermeister, der flämischer Abstammung war, »ich will, daß man jetzt sogleich ernsthaft daran geht, den Bauern in der Umgebung von Madrid nahezulegen, von der Anpflanzung ihrer Grundstücke abzulassen. Sie wissen, wie sehr diese Äcker bei der Jagd stören. Wir wollen das Übel bei der Wurzel fassen. Gar nicht erst anfangen mit diesen überflüssigen Arbeiten. Brachliegen lassen in diesem Jahr. Im nächsten auch. Und immer so weiter, bis niemand mehr was anderes weiß.«

Herr van Ypersele brachte in aller Ehrfurcht seine begeisterte Zustimmung zum Ausdruck.

»Wissen Sie, mein lieber Don Jaime, ich bin auch dahintergekommen, daß die Bebauung des Bodens der Vermehrung und Ausbreitung der Hasen und Kaninchen großen Eintrag getan hat. Die Tiere sind verängstigt worden, und man hat sie ihrer natürlichen Lebensbedingungen beraubt.«

»Der Wildstand wird durch diese weise Maßregel gewaltig steigen, und das ist es, was wir brauchen.« Don Jaime fühlte, daß sein Amt unter dem neuen Herrn noch an Bedeutung gewinnen werde. Gewonnen hatte.

»Natürlich bezahlt man die Leute, bezahlt sie gut«, fuhr Carlos der Vierte in jovialem Ton fort. »So wissen wir auch von vornherein, wie wir mit den Entschädigungen daran sind, müssen uns nicht zufälligen Forderungen unterwerfen. Ich will nicht, daß Zwang ausgeübt wird. Nur gut zureden. Aber welcher Bauer wird nicht lieber sein Geld ohne Arbeit einstecken? Denken Sie, was das für die Leute bedeutet! Bisher mußten sie arbeiten, um zu verdienen. Jetzt trägt der Boden ohne Arbeit!«

»Gewissermaßen eine neue Form der Landwirtschaft, Eure Majestät!«

»Gut gesagt, lieber van Ypersele. Sie werden sehen, wie schnell wir in großer Nähe ein anständiges Jagdgebiet bekommen.«

»Es wird eine persönliche Schöpfung Eurer Majestät sein.«

»Nun, ich rechne auf Ihre Mitwirkung. Machen Sie's gut. Ich habe eine Auszeichnung für Sie vorgesehen.«

Carlos redete nicht immer so fließend, aber diese Sache versetzte ihn in Feuer.

Herr van Ypersele fühlte sich für heute in Gnaden entlassen und bat noch, während er sich erhob, alleruntertänigst, Seiner Majestät ein Dokument zur Ausfertigung unterbreiten zu dürfen, das dem Finanzminister die Anweisung der erforderlichen Gelder anbefehle.

»So – halten Sie das für nötig?« fragte Carlos erstaunt.

Don Jaime formulierte mit einer Gewandtheit, die man dem Naturburschen gar nicht zugetraut hätte, auf einem Blatt Papier die Order an das Finanzministerium.

Und Don Carlos unterzeichnete: Ich, der König.

Er kannte die ganze Staatsmaschinerie schon seit geraumer Zeit aus der Nähe. Aber heute erfüllte es ihn doch mit unmittelbarerer Zufriedenheit als bisher, daß für jede Art von Wunsch ein besonderer Beamter da war, der wieder seine Leute unter sich hatte. Und daß alles an einer einzigen Stelle zusammenlief. An dieser Stelle stand jetzt er, nach Gottes Willen. Er dachte wirklich: nach Gottes Willen. Und fühlte trotz ernsthafter Trauer Genugtuung darüber, daß der Wille des Vaters jetzt dem seinigen keinen Riegel mehr vorschieben konnte. In dieser soeben geordneten Angelegenheit nicht und in keiner andern.

Mit sich und dem Leben zufrieden, ging der König zur Abendtafel.


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