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Der jugendliche Torero Pepe Hillo, in seinem Fach noch unberühmt, auch noch nicht zu allen Feinheiten des Könnens aufgestiegen, hatte dem Stier das erste Paar Banderillas in den Nacken gestoßen – jene kurzen, mit einem Widerhaken versehenen und mit bunten Bändern geschmückten Stäbe, die, nur äußerlich verwundend, das Tier zugleich reizen und ermüden sollen. Gegen die Regel hielt der Stier nicht erstaunt still, sondern machte sich blitzschnell daran, seinen Peiniger mit gesenkten Hörnern zu verfolgen.
Pepe Hillo, in diesem Augenblick der Schaustellung völlig unbewaffnet, kam in die schlimmste Lage, mochte man auch dem noch nicht völlig ausgewachsenen Stier weniger Kraft und Wut zutrauen als einem alten Bullen. Der Abstand bis zur nächsten Schranke, hinter der sich der Torero in Sicherheit bringen konnte, betrug wohl zehn Schritte.
Da stürzte einer der zur Cuadrilla gehörigen Gehilfen herbei, um das Tier mit dem roten Mantel abzulenken. Und wirklich – es ging auf die Finte ein: zwei-, dreimal stieß es mit den Hörnern unter den ausgestreckten Armen durch in den roten Vorhang und dahinter ins Leere. Dann stand es still, versuchte die Banderillas abzuschütteln und hatte den Angreifer vergessen.
Händeklatschen prasselte von allen Seiten nieder: von den Fenstern und Balkonen der Gebäude, die den Marktplatz dieser valencianischen Provinzstadt umgaben, von der kleinen Tribüne und hinter den Holzzäunen hervor, mit denen die Straßenzugänge verrammelt und Teile des Platzes abgeschrankt waren. Der Retter stand beiseite, nur die stolz aufgerichtete Haltung seines Kopfes verriet, daß er den Beifall auf sich bezog. Dabei fühlte er seine unordentliche Kleidung: aus dem ärmlichen Vorrat der Cuadrilla hatte es für ihn nur zu einem zerschlissenen und abgebleichten grünen Samtjäckchen gereicht, das er zu seinen Alltagshosen tragen mußte.
Dieser Stierkämpfergehilfe war Francisco Goya.
Bei Freunden und Verwandten hatte er eine kleine Summe zusammengebracht, die für die bescheidenste Überfahrt nach Italien ausreichen mochte. Aber wie in eine Hafenstadt gelangen? Die Freunde legten ein Netz von Spionage aus und brachten es in kürzester Frist fertig, ihm seinen aragonischen Landsmann Pepe Hillo zuzuführen, der mit einer kleinen Stierfechtergruppe durchs Reich zog – dem Süden, der Küste zu. Francisco, der keinen Stierkampf versäumte und des öfteren mit Toreros umging, redete ihm sogleich wunder was über seine Erfahrungen in diesem Handwerk vor und ließ einfließen, daß er Anlaß habe, sich für einige Monate von Madrid zu entfernen. Da fand Pepe, daß er einen weiteren Mann wohl brauchen könne, und nahm ihn mit – erst auf Probe, gegen Essen und Nachtlager, später sollte dann ein kleiner Anteil am Reinverdienst dazukommen.
Das war nun keine leichte Arbeit. Viel Unrat und Handlangerei, Fußreisen auf heißen, staubigen Straßen oder bei Nacht, wenn andere Menschen schliefen. Denn meist stand nur ein Esel mit einem Karren zur Verfügung, auf dem außer dem Fuhrmann Pepe Hillo gerade das Berufsgerät, die Schlafdecken und das bißchen Privatgepäck der sechs Cuadrillamitglieder Platz fanden.
Francisco hatte seine Eltern, ehemalige Dorfbauern, die nun in Zaragoza einen Kramladen führten, brieflich gebeten, ihm zu Händen eines entfernt verwandten Weinhändlers in Alicante Geld zu schicken, dort wollte er die Cuadrilla heimlich verlassen und sich nach Italien einschiffen. Viel konnten sie nicht entbehren, das wußte er, und es wäre an der Zeit, daß Pepe einmal herausrückte. Auch daran dachte er während des Beifallsregens.
Der Spektakel nahm seinen Fortgang. Pepe Hillo brachte das zweite Paar Banderillas an, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Als ihm das dritte Paar gebracht wurde, hob er es hoch, ging lächelnd damit auf Francisco zu und überreichte es ihm mit ritterlicher Geste. Sturm des Beifalls: der Matador hatte seinem Retter, um ihn vor allem Volk zu ehren, das Recht abgetreten, diese Banderillas dem Stier in den Nacken zu stoßen.
Dieses Recht war zugleich ein Zwang. Ablehnung wäre ausgepfiffen, Francisco aus der Arena und seinem Aushilfsbereich gejagt worden. Er verspürte auch gar keine Lust abzulehnen. Die Gefahr reizte ihn. Jeden Tag hatte er gewünscht, wenn er schon einmal in der Arena stände, aus den Reserve- und Aushilfsstellungen herauszukommen. Jetzt war Gelegenheit, das Können zu zeigen.
Dieses Können saß freilich nur im Kopf, in der Beobachtung, in den Griffen und Stößen, die seine Einbildungskraft, nicht aber seine Hand vollführt hatte. Aber die Einbildungskraft des Künstlers ist lebensnah, eigenlebendig, darum empfand er es kaum als einen Unterschied, ob seine Finger in der Vorstellung oder in der Wirklichkeit die bunten Spieße früher schon umklammert hatten.
Er warf den roten Mantel einem Gehilfen zu – nun war es sein Gehilfe – und näherte sich mit ruhigen Schritten dem Stier. Der ließ ihn nicht aus den Augen. Es saß noch viel Kraft in diesem wuchtigen Nacken. Francisco wechselte den Standort – der Stier wandte den Kopf nach ihm. Das geschah zweimal, dreimal, zehnmal. Es war schwer, heranzukommen.
Verdammt, dieses Zögern. Hunderte von Menschen warteten. Er wußte von Hunderten von Blicken, die sich alle in ihm trafen, um ihn kreisten, ihn abtasteten. Er durchschnitt Blicke, zertrat Blicke, triumphierte, daß sie ihn nicht aufhalten konnten. Er war hier der Herr, konnte bestimmen, was geschah. Dutzendmal hatte er es erlebt, daß der Banderillero geraume Zeit verstreichen lassen mußte, bis er seine Aufgabe erfüllen konnte.
Für eine Sekunde sah er über dem Stier grellbesonnte Häuserfronten vor kobaltblauer Luft, Balkone mit stark farbigen Decken, Sonnensegel, leichtbewegte Fächer. Merkwürdig puppenhaft kamen ihm die Menschen vor. Das müßte man einmal malen ...
Der Pfiff eines Mißvergnügten. Beifallsklatschen übertönt ihn. Der Stier rührt sich nicht mehr. Er scheint müd.
Francisco geht mit rhythmischen, fast tanzenden Schritten näher, wie er es bei einem berühmten Meister gesehen und bewundert hat, eilt mit ein paar Sätzen an dem Stier vorüber und stößt ihm mit jeder Hand eine Spitze in den Nackenwulst. Die Stäbe haften, fallen über, bleiben hängen – neben den vier anderen. Der Stier hat ein wenig gezuckt, sich aber nicht von der Stelle bewegt. Wieder prasselnder Beifall.
Ein wenig Blut tropft von dem Stier auf das oberflächlich mit Sand bestreute Steinpflaster. Francisco sieht es, freut sich über die gute Arbeit, die er geleistet, weiß nichts von der Pein des Tieres. Niemand hat ihm je davon gesprochen. Keiner von all den Hunderten hier weiß davon. Niemand hat ihnen je davon gesprochen.
Als der Stier, nachdem er mit dem Scharlachtuch nochmals gereizt und ermattet worden ist, vom dritten Degenstoß des Matadors zu Tode getroffen wird, erlöscht ein verzweifelter und anklagender Blick, den nicht ein einziger dieser Menschen in sich aufgenommen und erkannt hat. Auch Francisco nicht. Wohl beginnen seine Augen mehr zu sehen als die der andern – Formen, Farben, Harmonien, Kontraste, Menschengesichter, Menschenhände. Aber sein Geist ist noch jung und denkt, was die andern denken. Der Geist wird wachsen und die Augen mit ihm. Sie werden den Wesensgrund der Menschen sehen, die Schicksalslast des ganzen Menschengeschlechts, die Niedertracht der Mächtigen, das Elend der Unterdrückten, das Grauen des Lebens, das Grauen der Gespensterreiche, das Grauen des Todes. Aber der Qual der Kreatur werden sie bis zu einer späten Stunde verschlossen bleiben ...
Zum Abend betrat Francisco eine dunkle, von großen Fässern eingeengte Kneipe, setzte sich am Ende eines leeren Tisches nieder und ließ eine Kerze zu sich heranrücken. Auch mußte der Wirt die Tischplatte abtrocknen und Tinte und einen Federkiel herbeischaffen. Francisco zog einen Bogen Papier aus der Tasche. Er mochte heute abend keine Gesellschaft leiden und fühlte trotzdem den Druck des Alleinseins, so schaffte er sich durch einen Brief Verbindung mit vertrauten Menschen.
Am Nebentisch wurde laut debattiert. Der Wirt griff ängstlich ein: es sei verboten, über Politik zu sprechen. Man lachte ihn aus.
Auch Franciscos Tisch bekam Gäste, es war Sonntag, und die Berufsklassen, denen werktags der Besuch von Schenken verboten war, nützten die Zeit. Hier schimpfte man, daß dem Bürger seine harmlosen Vergnügen genommen werden, das Karten- und Würfelspiel. Der Wirt, dem dieses Verbot nicht das schlechteste schien, weil die Spieler am längsten hockten, selten viel tranken, aber um so mehr stritten, spottete: »Geht zum Billard, wenn ihr durchaus spielen müßt.« Da schlug einer mit der Faust auf den Tisch, daß Francisco ein krummer Schnörkel unterlief, und rief: »Roßäpfel sind mir lieber als die Kugeln des Königs.« Das Billard war nämlich ein Reservat des Königs, das er verpachtete.
Der Wirt bat wieder um Mäßigung. Als ihm ein Schlagfertiger entgegenhielt, er möge doch die Tür schließen, dann höre man draußen nichts, wandte er sich achselzuckend ab. Auch hierauf lag ein Verbot. Schlug der Wirt die Tür zu, schloß ihm die Polizei seine Kneipe, nicht einmal ein Vorhang war erlaubt. Die Zeiten waren ärgerlich.
Francisco war dabei, ein paar Sätze über seine Tüchtigkeit als Torero niederzuschreiben – lustig und etwas eitel –, als ihn einer der Gäste erkannte: »Schaut, ein gelehrter Stierfechter – meine Bewunderung, Caballero!« Man trank ihm zu. Er bat um Geduld, er habe eine wichtige Sache zu erledigen, und zeichnete mitten in den Brief mit ein paar Strichen einen Stier und einen Banderillero, der etwas von seiner eigenen Haltung hatte. Dann kam er zum Schluß und verlieh sich feierlich den Stieradel, indem er unterschrieb: Francisco de los Toros.
Er faltete das Blatt, siegelte es mit einem Ring, adressierte es an Don Martín Zapater y Clavería in Zaragoza und erkundigte sich nach der besten Möglichkeit der Beförderung.
Dann nahm er die weiteren Huldigungen der Bürger entgegen.