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Madrid stand ganz im Zeichen der Kriegsrüstung.
Darum vollzog sich die Rückkehr Franciscos in sein Hofamt fast unbemerkt.
Der König und die Königin empfingen ihn gemeinsam in Audienz und zeigten sich erfreut über sein gutes Aussehen. Carlos, im Glauben, er müsse seine laute Stimme noch steigern, brüllte geradezu und bemerkte in dieser wuchtigen Sprechweise, es sei viel besser, Don Francisco habe einen kleinen Schaden am Ohr davongetragen als einen am Auge oder an der Hand – wozu seine wasserhellen Augen wirklich freundlich blickten. Maria Luisa, tief dekolletiert wie bei allen Empfängen, fragte mit scharfer Stimme, die indes wohlwollend klingen sollte, nach dem Befinden der Herzogin von Alba.
»Wenn Sie ihr gelegentlich schreiben«, tönte ihre schrille Flöte, »so lassen Sie ruhig einfließen, daß wir sie bald wieder in Madrid zu sehen hoffen.«
Francisco war überrascht durch diese plötzliche Milde, die offenbar geneigt war, den größten Teil der Strafe zu erlassen – auch über die formlose Art, die ihn zum Übermittler wählte. Er fragte sich, ob die den Kriegsbeginn umflutende Welle patriotischer Gemeinsamkeit auch an so hoher Stelle die Feindschaften auslösche. Denn auch der Graf Floridablanca – man erzählte sich soeben die Neuigkeit – wurde aus der Haft in Pamplona entlassen und gnadenhalber wieder nach Murcia verbannt.
Als Francisco mit Moratin darüber sprach, gab der eine andere Deutung: »Man braucht für diesen Krieg viel Geld, und die Herzogin ist sehr reich.«
Er richtete noch am selben Tag an Cayetana einen Brief, in dem er sich darauf beschränkte, den Auftrag der Königin auszuführen und dieser finanziellen Vermutung Raum zu geben, und der mit dem Satz schloß: »Ob man ein förmliches Gnadengesuch erwartet, weiß ich nicht.«
Das für seine Radierungen nötige Werkzeug fand er einigermaßen in Ordnung, ließ das Fehlende von einem geschickten Handwerker ergänzen, kaufte Säuren, Wachs, Kupferplatten und Papier. Und dann entschloß er sich zur Flucht in eine einsame Arbeitsstätte: er mietete ein Dachzimmer mit gutem Licht, fern von seinem Atelier, fern auch von der Wohnung, die er nach der alten, inhaltslosen Gewohnheit mit Pepa teilte – vorläufig nur mit ihr, denn Javier befand sich bei Verwandten auf dem Land. Ein großer Tisch, ein Stuhl, ein Schrank für das Material, eine einfache Lagerstatt und ein Leuchter für fünf Kerzen bildeten die Einrichtung. Er hatte die Absicht, hier oben mitunter auch die Nacht über zu bleiben und den Schlupfwinkel niemandem zu verraten außer Agustin Esteve, der im Atelier sein Amt als Empfangsbeamter und Mittelsmann auch weiterhin auszuüben bereit war.
Während sich Francisco so für eine Zeit von allem, was seine Arbeit nicht förderte, abschloß, nahm der Krieg seinen Gang. Die spanischen Soldaten, Freiwillige zumeist, drangen über Frankreichs Grenze vor, um einen toten König zu rächen, der nicht der ihre war, und die Welt von Robespierre und den Jakobinern zu befreien. Eilige Boten trugen die Siegesnachrichten nach Madrid.
Doch allmählich kamen Rückschläge. Der Vormarsch stockte. Zwar taten die Soldaten weiterhin, was die Offiziere von ihnen verlangten. Aber man ließ ihre Uniformen und Schuhe zerlumpen und vertröstete sie mit dem Sold von einer Woche auf die andere. Die französische Armee war besser ausgerüstet und reorganisierte sich nach den ersten Überraschungsschlägen.
In der Heimat besann sich indessen der Hof auf die Notwendigkeit, Feste zu feiern. War in der verflossenen Zeit die Abwicklung der vorgeschriebenen Zeremonien fast der einzige Inhalt höfischer Veranstaltung gewesen – jetzt verspürte man den Drang zu Zerstreuung und Ausgelassenheit, um so mehr, als in diesem Jahr gewisse ländliche Freiheiten wegfielen oder sich verzögerten: der König verließ Madrid vorläufig nicht.
Der allmächtige Ministerpräsident selbst hatte die Vorbereitungen für ein historisches Kostümfest in die Hand genommen, dessen Höhepunkt ein pompöses Reiterspiel bildete: dreihundert Adelige produzierten sich im Hof des Königsschlosses in neuen, auf Staatskosten angeschafften Offiziersuniformen aus der Zeit Felipes des Zweiten, die besten Pferde des königlichen Marstalls standen dafür zur Verfügung, während niemand auf den Gedanken gekommen wäre, auch nur ein einziges davon für den Feldzug auszuheben. Die dreihundert huldigten dem Königspaar. Manuel Godoy saß mit den beiden auf dem Balkon und heimste so auch seinen Teil der Apotheose ein.
Den Hofbeamten stand eine Flucht von Fenstern zur Verfügung, auch Francisco war unter den Zuschauern.
Er überdachte die Skizze zu einer Radierung: Zwei blöde und verkommene Männer mit entleerten Schädeln, mit Ohren, die durch große Vorlegeschlösser verschlossen sind, mit schlafenden Augen, Degen und Rosenkranz in den Händen, durch ihre mit riesigen Wappen bestickten Heroldsjacken als Adelige kenntlich – sie sperren den Mund auf und werden von einer zerlumpten Figur gefüttert, die um die Augen eine Binde und oberhalb der Binde Eselsohren trägt.
Unter die Zeichnung wird er schreiben: Faultiere.
Daß die dritte Gestalt das spanische Volk darstelle, wird er vielleicht unterlassen besonders zu bemerken. Das wäre etwas von der Vorsicht, zu der ihn die Freunde zu ermahnen pflegen – die wenigen Freunde, denen er seine bissigen Blätter zugänglich macht: Moratin, Bermúdez, Maiquez, Esteve. Im allgemeinen lacht er ja nur, sagt, die Sache komme vorläufig nicht an die Öffentlichkeit, und sammelt Platten und Abzüge in einer verschlossenen Lade ...
Das Volk von Madrid aber drängte sich an den Gittertoren des Schloßhofs, um ein paar Augen voll von dem Schauspiel des Adels zu erhaschen, sie waren so töricht, zu glauben, das sei ein kostenloses Vergnügen. Kehrten sie in ihre Häuser und in die Gassen zurück, so fühlten sie wieder ihre leeren Taschen, in denen höchstens etwas Papiergeld knisterte. Gold und Silber schwanden aus dem Verkehr, und mit den Papierfetzen kam es so, wie die mißtrauischen Bürger es vorausgeahnt hatten: sie sanken von Woche zu Woche im Wert. Dafür stiegen die Preise selbst der allernötigsten Waren.
Für diese am eigenen Leib verspürten Übel und für die schlechten Zustände auf dem Kriegsschauplatz – die von der Front abgeschobenen Kranken und Krüppel sagten durch ihr bloßes Aussehen genug, auch wenn sie aus Angst vor der Polizei schwiegen – für dies alles schob der Handwerker, Gemüsekrämer, Wasserträger, Bauarbeiter, Wollscherer, Kutscher, aber auch der kleine Beamte oder Kaufmann die Schuld einem einzelnen zu: Manuel Godoy. Den König und Maria Luisa nahmen sie als gottgewollte Obrigkeit hin und die Bekriegung der französischen Revolution als einen gottgefälligen Kreuzzug. Aber den Ministerpräsidenten schimpften die in den Kneipen – trotz allem Verbot politischer Gespräche – nicht nur einen Dummkopf und Schmarotzer, sondern auch einen Verbrecher, der das für den Krieg gesammelte, von hoch und gering aufgebrachte Geld in die eigene Tasche fließen lasse.
Seine Exzellenz und Herzogliche Gnaden wußte von dieser Feindschaft des Volkes und rühmte sich ihrer im vertrauten und nichtvertrauten Kreise. Aber er fuhr niemals ohne scharfe Bedeckung aus.
Der Staat verschlang Geld, und die Kirche verschlang Geld. Noch immer ernährte das Land siebzigtausend Weltgeistliche und sechzigtausend Klosterbrüder und -schwestern. Noch immer zeigten sich Mönche vor den Türen der Weinschenken und Fleischerläden, die sie zum Vorteil ihrer Klöster unterhielten. Noch immer zogen Bettelmönche durch die Gassen und boten den Frauen Reliquien und Kruzifixe gegen Bezahlung zum Kuß. Nur die Jünger des heiligen Franziskus, die der Reinheit ihres großen Meisters uneingedenk Ordensgewänder als Sterbekleider verhandelten, wurden seltener gesehen, da wenige Bürger mehr die dafür geforderten Dukaten besaßen.
Allen schwarzen und braunen Kutten machte das Volk auf der Straße Platz, und die Kinder küßten ihren Saum oder auch die Hand ihrer Träger. Aber die Offiziere kämpften jetzt mit ihnen um den ersten Platz, nicht wenige nahmen ihren Beruf von der falschen Seite und traten anmaßend und herrisch auf.
Auch ihnen widmete Francisco ein geheimes Blatt, indem er eine Jammergestalt in Generalsuniform zeichnete, die über Krüppel und Schwächlinge kommandiert, und auf seinem Entwurf vermerkte: Generalsstreifen und Kommandostab lassen in diesem Dummkopf die Einbildung erstehen, er sei ein Wesen höherer Ordnung, er mißbraucht das ihm anvertraute Befehlshaberamt dazu, hochmütig, eitel und unverschämt gegen seine Untergebenen, niederträchtig und gemein gegen alle die zu sein, die mehr können als er selbst. Nach oben katzbuckelt er.
Cayetana unternahm auf jene Mitteilung Franciscos nichts. Ihr Stolz lehnte es ab, den König um eine Gnade zu bitten, die in Wahrheit von Maria Luisa ausgehen würde. Und an stillschweigender Rückkehr würde sie nur Vergnügen gefunden haben, wenn sie damit einen Skandal riskiert hätte, aber so, im Bewußtsein, in Madrid gewünscht zu werden, wartete sie hartnäckig darauf, daß man sie noch deutlicher rufe als durch eine beiläufige Bemerkung.
Und sie gewann das Spiel: nach wenigen Monaten traf ein königliches Dekret bei ihr ein, das die Verbannung aufhob, ihr allerdings gleichzeitig eine Abgabe »zugunsten der in Frankreich kämpfenden Truppen« nahelegte. Das Wort Buße war nicht genannt, auch die Höhe der gewünschten Summe großzügig verschwiegen.
Sie schickte an den Kriegsminister eine Bankanweisung über fünfhundert Dukaten, überzeugt, daß man fünftausend von ihr erwartet hatte, und fuhr nach Madrid. Dort tauchte sie auf, ohne irgend jemand benachrichtigt zu haben. Ein früher von ihr abgewiesener Stutzer bestach einen Bedienten, und so erzählte sich nach achtundvierzig Stunden der ganze Hof, sie sei bis Toledo von dem Stierkämpfer Romero begleitet worden.
Natürlich schrie das irgendein Marqués auch Francisco ins Ohr. Der schärfte Agustin noch besonders ein, der Herzogin sein Versteck keinesfalls zu verraten, und radierte in der Dachstube drei hexenähnlich durch die Luft fliegende Toreros, auf deren Häuptern eine Modepuppe tanzte. Dieser Tänzerin gab er viel Ähnlichkeit mit Cayetana.
Es war zu früh für solch leichtgeschürzte Ironie. Als das Blatt vor ihm lag, brach die Leidenschaft des Schmerzes von neuem hervor. Bizarre, unheimliche Gestalten überfielen ihn traumartig und ließen ihn nicht frei, bis er sie in die Platte gegraben hatte.
Eine schöne, leichtgekleidete Frau lag auf einer Bodenerhöhung wie auf einem Diwan hingestreckt, ihr Kopf war aus zwei einander gleichen Gesichtern zusammengesetzt, deren eines nach rechts, das andere nach links blickte, aus diesem Kopf wuchsen zwei Schmetterlingsflügel. Den einen ihrer nackten Arme umklammerte, ihn fest an sich pressend, schmerzlichen Antlitzes ein Mann. Nach der freien Hand griff eine zweite, häßliche, doppelgesichtige Frau. Weiter rückwärts war im Halbdunkel ein gemeines Weib sichtbar, das sich mit dem Finger den Mund verschloß, im Vordergrund aber ein schauerlicher Dämon, eigentlich nur leere Maske eines Kopfes: grinsend schaute er einer Schlange zu, die einen kleinen, halb einer Kröte gleichenden Vogel mit dem Blick lähmte. Im Hintergrund schwarze Nacht über einer toten Burg.
Erst als die Arbeit beendet war und der erste Abzug auf dem Tisch lag, bedachte Francisco klar die Bedeutung der Figuren: die schöne Frau ist die Unbeständigkeit, die häßliche, die nach ihr greift, die Lüge, das andere – Traum und Grauen.
Das wie in einem Spiegel sich wiederholende Gesicht der unbeständigen Frau war scharf und deutlich das Cayetanas. Dem Mann aber, der sie so verzweifelt festzuhalten versuchte, hatte er seine eigenen Züge gegeben.